Clemens Herforth, 59, an einem seiner Lieblingsorte,dem Klostermuseum Ottobeuren
Clemens Herforth, 59, mag es geregelt. Hier an einem seiner Lieblingsorte, dem Klostermuseum Ottobeuren
Sebastian Arlt
Diagnose Autismus
Small Talk ist Totalstress für ihn
Jetzt weiß er, warum: Er ist Autist. Seit der Diagnose geht er pfleglicher mit sich um und macht Pausen
28.07.2024
3Min

Nach der Diagnose sagte meine Frau zu mir: Gott sei Dank, jetzt wissen wir endlich, was mit dir los ist. Ich bin Autist, das hat mir ein Psychiater vor gut einem Jahr unmissverständlich mit Hilfe von Tests bescheinigt. Es gibt viele Formen von ­Autismus, ich leide unter dem Asperger-Syndrom, einer angeborenen sozialen Störung.

Der Kontakt und die Gespräche mit anderen Menschen fallen mir schwer, ich habe keinen Zugang zu ihren Gefühlen und Bedürfnissen, bin unfähig, etwas aus ihren Gesichtern und Gesten herauszulesen. Meine Frau muss mir deshalb immer sagen, wie es ihr gerade geht und was sie von mir möchte. Ich brauche klare Botschaften, das klappt nach 26 Ehejahren sehr gut. Meine Frau ist ein ratio­naler, sehr strukturierter Typ, das hilft. Sie hat schon immer gemerkt, dass ich anders bin als andere, fand mich aber "unfassbar schlau", das hat sie stets an mir gemocht.

Die Diagnose war für mich eine Befreiung. Ich weiß jetzt endlich, warum ich es hasse, Hände zu schütteln, warum ich bei Festivitäten oder Firmenmeetings sofort Fluchtgedanken bekomme. Die Leute in Ottobeuren, der bayerischen Kleinstadt, in der ich lebe, wissen ­mittlerweile Bescheid. Ich muss beim Metzger nicht mehr mit vielen Leuten in der Schlange stehen, sondern bestelle mein Fleisch telefonisch und er reicht es mir durchs ­Fens­ter raus. Wenn ich mit meiner Frau essen gehe, fragt sie bei der Reservierung, ob wir einen ruhigen Tisch etwas abseits bekommen können, weil ihr Mann Autist ist. Das funktioniert jedes Mal reibungslos und entspannt meinen Alltag ungeheuer. Offenheit hilft.

In meiner Kindheit hieß es immer, ich sei seltsam, "der Bekloppte". Im katholischen Kindergarten und später beim Kommunionsunterricht habe ich regelmäßig Kopfnüsse oder auch mal Prügel vom Priester bezogen, weil ich angeblich fiese Fragen stellte. Zum Beispiel: Was hat Gott denn vorher gemacht, bevor er die Welt erschuf? Ich wollte immer alles ganz genau wissen, das kam nicht gut an.

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Nach einer Ausbildung zum Bankkaufmann arbeitete ich erst bei einer Bank als Kundenberater, danach in einem Unternehmen für Medizintechnik. Ich war dort Projektmanager, für die IT zuständig und hatte als Führungskraft Verantwortung für knapp vierzig Leute. Das war für mich, den Aspi, eine Qual. Später arbeitete ich als ITler für einen Onlinebroker, 16 Stunden am Tag, habe mich dabei völlig überfordert.

Beim 85. Geburtstag meiner Mutter vor gut zwei Jahren bin ich zusammengebrochen. Es war eine Feier mit vielen Leuten, ich hatte versucht, Small Talk zu machen. Das hat mich total gestresst, dazu kam noch die Belastung im Job. Ich lag hilflos auf dem Boden, ein Notarzt konnte körperlich nichts feststellen. Ich war dann wegen Burn-outs sechs Wochen in einer Klinik. Eine andere Patientin, mit der ich beim Essen an einem Tisch saß, meinte, ich sei Autist, sie kenne das, ihre Tochter sei auch Autistin. Danach ging ich zu einem Psychiater, um Gewissheit zu bekommen.

Heute arbeite ich in Teilzeit für ein Inklusionsunternehmen, in dem vor allem Menschen mit seelischen Einschränkungen beschäftigt sind. Wir betreiben eine große Kantine und zwei Restaurants in der Stadt. Ich sorge ­dafür, dass die Digitalisierung für die Bereiche Einkauf und ­Warenwirtschaft klappt. Als ich mich in der Firma vorstellte, sagte ich gleich: Ich frage oft schräge Dinge, meine das aber nicht böse, ich will es einfach nur ­wissen. Meine Kollegen haben Verständnis für mich, ich fühle mich in der Firma wohl und kann meine Stärken einsetzen, ich habe ein sehr gutes Gedächtnis und finde oft kreative, ungewöhnliche Lösungen.

Mitunter bin ich etwas zwanghaft, auch das gehört zu meiner Störung. Ich stehe jeden Morgen um Punkt sechs auf. Vor dem Frühstück lese ich genau zehn ­Minuten und dreißig Sekunden Nachrichten, danach zwanzig ­Minuten in einem Fachbuch, am liebsten über Raumfahrt. Ich ­brauche solche geregelten Abläufe, kann da nicht aus ­meiner Haut. Trotzdem hat sich mein Leben seit dem ­Zusammenbruch und der Diagnose deutlich verändert, ich gehe pfleglicher mit mir um, mache bei der Arbeit mehr Pausen. Demnächst fahren meine Frau und ich in Urlaub, in ein Kloster bei Koblenz. Ich freue mich auf die Ruhe dort.