Elegantes Gleiten, Sylvia Pupkes Blick folgt dem amerikanischen Stechrochen
Anne Schönharting/Ostkreuz
Suche nach Stille
Liebe im Aquarium
Bei den Fischen im Berliner Zoo findet Sylvia Pupkes ihre Ruhe. Dann ist da dieser Mann im Rollstuhl. Und auf einmal nimmt ihr Leben eine unerwartete Wendung
14.03.2024
16Min

Sie leuchten von innen, die Kompassquallen. Ein magisches Geflecht zarter Fäden im Schlepptau, schweben sie scheinbar ziellos hinter stoßfestem Glas. Pulsierend öffnen und schließen sich ihre goldbraunen Schirme im Gegenlicht des Aquariums wie gleißende Feuerpilze. An- und abschwellende Farbexplosionen, ein steter Wechsel aus Verglimmen und neuem Entflammen, wie eine nicht enden wollende Meditation über das Leben. "Schön, nicht", sagt Frau Pupkes.

Sylvia Pupkes, seit zehn Jahren fast täglich, manchmal mehrfach, besucht sie die Meerestiere. Für einen ­jener ­langen Tage im Aquarium des Berliner Zoos stärkt sich die 47-Jährige mit einer Tasse Filterkaffee, schwarz, wenig ­Zucker. Unter einem Sonnenschirm sitzt sie an der rückwärtigen Terrasse des Berliner Zoorestaurants, die den ­strategischen Vorteil allergrößter Nähe zu ihrem Sehnsuchtsort hat. Vor sich hat Frau Pupkes eine Blechdose ­gelegt mit der Aufschrift: "Rauchste, stirbste, rauchste nicht, stirbste trotzdem, also rauchste." Daraus fingert sie eine Zigarette, gefüllt mit dem preiswertesten "Netto"-Stopftabak, klappt in einer fließenden Bewegung ihr Zippo-Feuerzeug auf und reibt mit dem Daumen am Zündstein entlang. Ihre Lunge ist genauso wenig in Ordnung wie ihr Herz. "Sollte man natürlich nicht rauchen", sagt Frau Pupkes und steckt sich eine an.

Durch das Rauchen bekommen ihre Hände eine ­klare Funktion zugewiesen. Im Rauchen ordnet sich Frau Pupkes sozusagen selbst. Normalerweise machen ihre Hände alles Mögliche: Fahren ihr durch die Haare, ­streichen nervös am Pferdeschwanz oder den Oberarmen entlang, fassen ihr ins Gesicht oder fummeln an ihrer Smartwatch ­herum, die sie schlecht lesen kann, weil ihr die Ziffern zu klein sind. Sie weiß selbst, dass sie etwas fahrig wirken kann, insbesondere, wenn dieses leichte Pendeln mit ihrem Oberkörper dazukommt, das sie nur schwer ­kontrollieren kann. Auch fällt es ihr schwer, ihrem Gegenüber ins ­Gesicht zu schauen. Nicht weil sie ­schüchtern wäre. Nein, Sylvia Pupkes ist Autistin, eine leichte Ausprägung des Asperger-Syndroms. Womit sie kein Problem hat. Manchmal jedoch andere.

Das mag auch damit zusammenhängen, dass ihre Erscheinung ein bisschen aus dem Rahmen fällt. Frau Pupkes hat ein vom Leben gezeichnetes Gesicht, dessen ­ungeschminkte Züge durch die schmale, schwarz ge­rahmte Brille noch unterstrichen werden. Sie sei nicht der Typ, der morgens drei Stunden vor dem Spiegel stehe. ­Würde auch gar keinen Sinn mehr machen. ­"Wechseljahre", sagt sie mit einer Stimme, angeraut wie feinkörniges Schleifpapier, und wischt sich, wie zur Erklärung, den Schweiß von der Stirn.

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Was für eine tolle Geschichte: So großartig, dass ihr - der Titelheldin - die Fische so viel geben...

Ich hoffe, dass die Aquariumsfische immer ihre Freunde und Freundinnen bleiben... liebe Grüße an Frau Dorn