chrismon: Was ist verrückt an unserer Arbeitswelt?
Peter Wehmeier: Zeitliche und räumliche Grenzen lösen sich auf, Menschen sind 24/7 auf Sendung und entsprechend angespannt. Die globale Wirtschaft erfordert, dass wir zu allen Zeiten erreichbar sein müssen, beispielsweise für Videokonferenzen. Es gibt immer weniger feste Strukturen. Wir müssen immer mehr Energie aufwenden, um bei einer Sache zu bleiben und uns darauf zu fokussieren. Vielen fällt es schwer, das wirklich Wichtige zu erkennen und von dem zu unterscheiden, was ihnen gerade als "dringend" verkauft wird.
Ihr Buch heißt ja "Globale Psychose" …
… das will ich als Chiffre verstanden wissen. Das Wort "Psychose" kommt ursprünglich aus der Psychopathologie. Ich meine damit einen Realitätsverlust. Die Ich-Grenzen lösen sich auf, wir können uns immer schlechter schützen vor den vielen Reizen, die auf uns einprasseln. Das Private wird öffentlich, und das Öffentliche wird zum Privaten. Jüngere Patienten sagen mir, wenn sie nicht innerhalb von einer halben Stunde auf eine Mitteilung in den sozialen Medien reagieren, seien sie abgemeldet. Die Menschen werden immer dünnhäutiger und reagieren empfindlicher. Unser Denken wird zunehmend durch unsere Affekte bestimmt.
Und dann kommen sie zu Ihnen in die Praxis?
Ja, viele kommen, weil sie depressiv sind und nicht mehr schlafen können. Angststörungen werden immer häufiger. Viele Menschen laufen auf 180, das vegetative Nervensystem ist völlig überlastet, das geht nicht lange gut. Ich schreibe sie dann erst einmal krank, damit sie entspannen können, weil man in einem solchen überdrehten Zustand kaum richtig denken und keine klugen Entscheidungen treffen kann.
Aber nicht jeder findet einen Termin bei der Therapeutin oder dem Psychiater …
… ja, die psychiatrische Versorgungslage wird eher schlechter als besser.
Also müssen wir selbst besser auf uns aufpassen?
Unbedingt. In diesen verrückten Zeiten sollten wir lernen, uns selbst besser zu regulieren und gelassener zu werden.
Lesen Sie hier, wie Ursula Ott die Stille sucht
Klingt paradox. Werde gelassen. So, wie wenn meine Kinder sagen: Entspann dich, Mutti!
Das stimmt. Auf Kommando kann man sich nicht entspannen. Man kann nur einen Raum schaffen, in dem Gelassenheit entstehen kann.
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