Familie - Mama allein zu Haus
Tina Berning
Mama allein zu Haus
Wenn die Kinder aus dem Elternhaus ausziehen
Unsere Autorin hatte sich darauf gefreut, dass die Söhne und Töchter flügge werden. Aber dann kam der Tag, als der Jüngste auszog. Und plötzlich war alles anders
Privat
Aktualisiert am 15.11.2024
6Min

Manchmal denke ich: Das muss groß­artig sein! Nicht mehr für soundso viele Personen das Geld ver­dienen zu müssen. Nicht mehr Unmengen an Essen zu kaufen. Nie mehr ohne Unterlass hierhin und dahin ­fahren zu müssen. Oder dies und das mitzudenken und zu planen. Es muss fantastisch sein, eine Aufgabe un­unterbrochen zu Ende zu führen. ­Einen Gedanken zu Ende zu denken. Ich sehe mich in einem strohgedeckten Häuschen im Grünen leben, bald, allzu bald, vielleicht ­habe ich zwei Hunde. Zwei Pferde. Ein Gemüse­gärtchen. Über allem anderen aber ­habe ich: Frieden. Stille. Zeit. Und dann wird mir die Kehle eng, das Herz rast, das Atmen fällt mir schwer und ich denke: Hilfe, wie soll ich das überleben? Wenn auch das letzte Kind definitiv kein Kind mehr ist und nicht nur das Haus, das ginge ja noch, sondern vor allem mich verlässt!

Privat

Antje Joel

Antje Joel ist freie Autorin und Journalistin. Sie wuchs im Weserbergland auf. Seit 2008 lebt sie nahe Galway in Irland. Sie hat sechs Kinder.

Liest man ja immer wieder, wie sehr das selbst zwei Leute treffen kann: Elternpaare, die von heute auf morgen keine Eltern und Paare mehr sind. Nicht mehr in dem ihnen so ­lange vertrauten Sinne. Die sich nichts mehr zu sagen haben, solange es nicht etwas über die und bezüglich der Kinder ist und darum fortan in schönster Zu-Zweit-Einsamkeit auf ihrem Sofa seelisch verdorren. Was soll dann ich erst sagen (oder, eben, nicht)? Und zu wem? Ich bin seit insgesamt 34 Jahren Mutter – erst von einem, dann kontinuierlich mehr Kindern. Seit 15 Jahren alleinerziehend – erst von sechs, dann kontinuierlich weniger Kindern. Zwei sind noch da. Für wie lange?

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Zuerst, vor 14 und 12 Jahren, zogen meine ältesten Söhne aus. Dann, vor neun Jahren, meine älteste Tochter. Das war, auch wenn’s Tränen (von mir) gab, alles noch irgendwie zu verkraften. Vielleicht, weil sie in der ­Nähe blieben. Oder: Weil ich noch nicht ganz kapiert hatte, dass das jetzt immer so weiter geht. Es also der Anfang vom Ende war. Dann passierte ­etwas, meine Zweitälteste wurde selbst Mutter. Und fürs Erste kam der Kinder­exodus nicht nur zu einem Halt. Es war sogar wieder ein Kind mehr im Haus. Die Dynamik zwischen uns Hinterbliebenen verschob sich. Mehr ins, wie soll man sagen, gereifte Kommunale. Das war toll. Es verleitete nur (kurzfristig) zu dem Gefühl, unser Leben ginge jetzt immer so weiter und gut. Bis im vergangenen September auch mein jüngster Sohn aus- und nach England zog, um zu studieren.

Im Vorjahr war es um ein Haar schon mal so weit gewesen. Mein Sohn hatte den Studienplatz seiner Wahl ergattert, Biochemie an der Uni in Nottingham. Er war überglücklich. Suchte und fand ein Zimmer, bezahlte die Maklergebühren und die Anzahlung. Wir kauften jeder ein Ticket, er eins für hin, ich eins für hin und zurück. An einem Samstag, früh um sieben, flogen wir los. Am Montagabend spät, dem Tag, an dem er sich hatte einschreiben und sein Studenten­leben beginnen sollen, kehrten wir zusammen zurück nach Irland, wo wir leben. Was war ­geschehen? Nicht viel.

Aufzeichnung des Webinars: Empty Nest

Mein Kind, das seine Vorschulzeit mit den fünf Familien­hunden in einer Höhle im Garten verbracht hatte, weil der Kinder­garten, so erklärte er es damals seiner älteren Schwester, der Beginn allen Übels war ("Denn nach dem Kindergarten musst du in die ­Schule. Und danach musst du arbeiten, arbeiten, arbeiten! Nee, das fang ich gar nicht erst an!"), der seine beiden letzten Schuljahre allein zu Hause gelernt hatte und nur zu den Prüfungen zurück in die Schule gegangen war, der niemals mit zum Einkaufen oder sonstwohin fuhr, weil er den Trubel der Stadt und "sonst wohin" generell verabscheute, hatte gleich bei unserem ersten Gang durch Nottingham einen "Stadtkoller" erlitten.

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Vielleicht war es auch ein Menschenkoller. Er wollte nur noch weg. Legte sich in das Zimmer, das ich mir für die zwei Nächte gemietet hatte, kroch in die Höhle unter der Bettdecke und kam lange nicht wieder hervor. Er schlief 18 Stunden am Stück. Derweil telefonierte ich panisch mit seinen Geschwistern. Mit denen, die schon ausgezogen und denen, die noch zu Hause waren. Was tun? Das wussten wir alle nicht. Und ich? Wollte, natürlich, dass mein Sohn in Nottingham blieb. Nicht nur, weil ich wusste, dass ich es wollen musste. Ich wollte, dass er tat, wofür er sich die letzten beiden Jahre in seinem Zimmer erfolgreich geschunden und worauf er sich – solange es nicht eingetreten war – wie ein Wilder gefreut hatte.

Ich wollte, dass er, hier und jetzt, sein Leben begann. ("Und danach musst du arbeiten, arbeiten, arbeiten!") Ich wollte, ganz pauschal, dass er glücklich war. Allein, er war nicht zum Glücklichsein zu bewegen. Nicht auf die vorgeschriebene Art. Als wir, am nächsten Abend wieder zu Hause, im Garten den tollenden Hunden zusahen, atmete er tief und sagte: "Bin ich froh!" Und ich fühlte mich unerhört. Wie noch einmal davongekommen. Aber natürlich wussten wir beide, dass diese Art von Glück nicht auf ewig aufrechtzuerhalten war. "Nächstes Jahr", sagte mein Sohn. "Aber nicht Biochemie. Und nicht in Nottingham."

Nottingham ist ein eher beschauliches Städtchen in der Mitte Englands. Nicht wirklich groß, mit viel Grün und prächtigen alten Gebäuden. Das Unigelände gleicht einem Park. Nottingham ist eine Stadt, in die man getrost ziehen kann, wenn man, eigentlich, mehr das Leben mit Hunden in Höhlen liebt. Will sagen: Für Stadtanfänger ideal. Im Jahr nach Nottingham ergatterte mein Sohn den Studienplatz seiner neuesten Wahl: Chemie. In Manchester. Der zweitgrößten Stadt auf der britischen Insel. Und in ihrem kalten, grauen Norden.

Wir buchten, wie gehabt, zwei ­Tickets. Seins hin. Meins hin und zurück. Das Zimmer, das auf den Bildern im Internet ganz akzeptabel ausge­sehen und für das er, noch aus der Ferne, einen Mietvertrag unterschrieben hatte, war eine Höhle. Nur leider nicht der behaglichen Art. Wasser suppte durch Decken und Wände. Schimmel flockte pelzig und blau­schwarz in den Ecken. Ich telefonierte panisch mit den Geschwistern. Diesmal flog ich allein zurück. Auf seinen und – mehr oder weniger – meinen Willen. Was war geschehen? Nicht viel. Es war wohl einfach nur an der Zeit.

Es war ein leerer, einsamer Flug. Und er ging, so gefühlsmäßig, nicht nach Hause, nicht wirklich. Er ging nur "zurück". Wie ein Flug ins Nirgendwo. Eigentlich nicht zu ertragen. Und ich dachte: Sei nicht doof! Zu Hause warten doch die Mädchen! Meine Töchter und meine Enkeltochter. Das war tröstlich. Und zugleich furcht­erregend, aus gutem Grund.

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Am Flughafen-Parkautomaten vor der Schranke konnte ich meinen Parkschein nicht finden. Ich musste ihn auf dem Weg vom Flughafen­gebäude zum Auto verloren haben. Ich ging den Weg zurück, hin und her, suchte den Parkplatz ab, zwischen und unter geparkten Autos. Ich suchte viel länger, als es sinnvoll war. Es war ein grauer, windiger Tag und kein Parkschein nirgendwo. Ich stand auf dem elenden Parkplatz, in dem Grau und dem Wind und fühlte mich so verloren wie der Parkschein, mindes­tens.

Am Kundendienstschalter im Flughafengebäude brach ich endlich in Tränen aus. Die Schalterdame rief erschrocken: "Aber, aber, Schätzchen, ein verlorener Parkschein ist doch kein Grund zum Weinen! Das können wir doch leicht regeln." Ich schluchzte: "Danke." Und ich stellte mir vor, dass sie noch nie-nie-niemals zuvor in ­ihrem Schalterdamenleben so froh war, durch eine Scheibe von ihren Kunden getrennt zu sein.

Zu Hause warteten meine Töchter. Hatten ein prima Essen gekocht. Den Tisch gedeckt. Mit Blumen, Kerzen, mit allem Drum und Dran. Nur ­meine Enkelin weinte ein bisschen. Weil sie ihren Onkel vermisste. "Ich will ihn zurück!", rief sie, und ich dachte "Dito!" Obwohl ich doch schon 50, nicht erst fünf Jahre alt war. "Jetzt ist gar kein Mann mehr in diesem Haus", brummte das Kind. "Nur noch Hundemänner!" Wir lachten. Und vielleicht war das ein Grund, warum es diesmal so verflucht viel schwerer war. Aber ich glaube nicht. Nicht wirklich. Es hatte einfach nur (wieder) etwas begonnen. Etwas, das unaufhaltbar, das unumkehrbar ist. Und das mit dem Tag enden wird, an dem ich zurückkehre. Und niemand wartet. Soll mir keiner erzählen, dass das großartig, die reine Freude sein wird!

Eine erste Version des Textes erschien im August 2018.

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