Besucher des Bayerischen Hauptstaatsarchivs müssen das Auto vor der Schranke parken. Myrian Bergeron darf bis vor die Eingangstür fahren. Die kleine Frau mit den weißen Haaren ist aus New Hampshire in den USA angereist. Sie ist 75 Jahre alt und schwer herzkrank. Seit kurzem sitzt sie im Rollstuhl, weil das Gehen zu mühsam geworden ist. Myrian Bergeron lächelt entschlossen. Sie ist eine Frau, die alleine neun Kinder großgezogen hat. Sie will endlich wissen, woher sie kommt und wer sie ist. Was war mit ihrer Mutter vor 76 Jahren in München, und wer ist ihr Vater? Warum war die Mutter nicht da, als sie klein war? Hat die Mutter sie denn überhaupt geliebt? Sie musste nach Deutschland kommen und ihre Wurzeln suchen. Gegen den Rat der Ärzte. Und wenn es ihre letzte Reise wäre.
Im Erdgeschoss ist ein Raum reserviert. Die Wände sind kahl, der Boden, die Tische, alles ist beige. Nichts lenkt ab von den großen Fragen und der blauen Pappkladde mit der Aufschrift "Staatsanwaltschaften, No 13045". Es ist die Prozessakte ihrer Mutter von 1944.
Myrian Bergeron kann nur ein paar Worte Deutsch, eine Freundin blättert für sie durch Lebensläufe, Handschriften-Proben, Anwaltsbriefe, sie übersetzt Zeugenaussagen und das Urteil und versucht, die Geschichte zusammenzusetzen: Die Mutter wird 1920 in Estland geboren und arbeitet seit Mai 1942 in einer Münchner Gummifabrik, in den Dokumenten steht "Hilfsarbeiterin", vermutlich ist sie Zwangsarbeiterin. Sie wird schwanger von ihrem serbischen Freund, mal wird er als "Student" bezeichnet, mal als "Ingenieur", vielleicht ist auch er Zwangsarbeiter. Am 3. November 1943 kommt das Mädchen zur Welt. Im Januar 1944 wird die Mutter verhaftet, weil sie sich angeblich mit einem gefälschten Bezugsschein einen Mantel gekauft hat. Bis Mai 1945 ist sie im Gefängnis. Ihr Freund versucht, sie mit Hilfe eines Anwalts freizubekommen. Vergeblich.
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Vorbild
Der Beitrag über Myrian Bergeron hat mich tief bewegt. Nicht nur das Schicksal und der Lebensweg sind beeindruckend, sondern vor allem die unheimliche Stärke und Güte, die diese Frau ihr Leben lang bewiesen hat und die auf den Fotos fast greifbar sind.
Dass sich M. Bergeron ihren Herzenswunsch noch erfüllen konnte und die offenen Fragen zu ihren Kindertagen klären konnte, ist da schon beruhigend.
Die Autorin und die Fotografin haben ein sehr persönliches Bild gezeichnet und haben doch die erforderliche Distanz bewahrt. Hier haben auch Geschichte und Autor/Fotograf zusammengefunden.
Ich verstehe den Beitrag aber auch als Aufruf an die Großeltern-/Elterngeneration: Erzählt Euren Kindern und Enkeln Eure Geschichte. Eure Kinder und Enkel verstehen und ertragen mehr als ihr ihnen zutraut. Das Leben besteht eben nicht immer nur aus sonnigen Tagen. Nur an gelebten Vorbildern, wie Schicksalsschläge gemeistert werden können oder ganz allgemein wie man sein Leben gestaltet, kann man lernen.
Ich danke Ihnen für den Beitrag.
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