Familienforschung
Finde Haika!
Wo ist Opas ukrainische Zwangsarbeiterin – und warum hatte Opa überhaupt eine? Eine Enkelin macht sich auf die fast aussichtslose Suche nach der Verschollenen und erfährt dabei Neues über den Großvater während der Nazizeit
Vira Storozhyk, die Tochter von Halina, hält ein Foto ihrer Mutter aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg
Vira Storozhyk, die Tochter von Halina, hält ein Foto ihrer Mutter aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg
Joseph Sywenkyj
Tim Wegner
Aktualisiert am 10.07.2024
20Min

"Was wohl aus der Haika geworden ist? Das arme Mädchen!" So seufzte meine Mutter oft. Irgendwann ging mir auf: Haika war nicht irgendeine Haushaltshilfe bei meinen Großeltern, sondern eine ukrainische Zwangsarbeiterin. Kurz nach Kriegsende kletterte sie auf einen Lkw, der sie und andere befreite Zwangsarbeiter durch all das Chaos Richtung Heimat bringen sollte. Nie wieder hörte man von ihr. Nur ein Foto blieb von ihr, aufgenommen im Garten der Großeltern. Finde Haika – so lautete der versteckte Auftrag. Ich versuchte es, hatte ja aber nur einen Vornamen. Wann immer ich den "Unerledigt"-Stapel auf meinem Tisch ab­arbeitete, das Foto Haikas blieb.

Dann, vor einem Jahr: Unerwartet erbte ich Geld von der ­Patentante, und in der Zeitung stand, dass der Internationale Suchdienst in Bad Arolsen, der die Schicksale von NS-Opfern klärt, endlich auch Anfragen von Nichtopfern zulasse. Neue ­Möglichkeiten! Vielleicht lebt Haika noch. Ich möchte ihr und anderen Zwangsarbeitern von meiner Erbschaft abgeben.

Da ahne ich noch nicht, dass aus der Suche nach Haika eine detektivische Recherche zu meinem Opa wird; dass meine Funde die Verwandten erschüttern werden; dass ich am Ende Freundinnen in der Ukraine habe.

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Leseempfehlung
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Liebe Christine Holch!
Ihren Bericht "Finde Haika" fand ich sehr berührend. Es ist unglaublich was den Fremdarbeitern angetan wurde. Die Schilderung kommt mir sehr stimmig vor. Die Rückkehr der Fremdarbeiter kam allerdings zu kurz. Die Menschen wurden unter Stalin nach den Verhören als Colaborateure mit dem Feind in Lager nach Sibirien verschickt. Viele haben das nicht überlebt. Aus Angst hatten sie ihre Dokumente weggeworfen. Die Überlebenden hatten deshalb oft keine Unterlagen als es darum ging, Ansprüche geltend zu machen.

Eindrucksvoll fand ich auch Ihre Suche nach der Rolle Ihres Großvaters.

Ich habe mich vor Jahren auch auf die Suche begeben. Mein Vater hatte etwa 80 Ukrainerinnen in seiner Herdfabrik zur Herstellung von Bombengehäusen beschäftigt. Dabei bin ich auf Marina Schubarth gestoßen. Sie ist selbst Ukrainerin, lebt in Berlin und gründete dort das Dokumentartheater. Sie reist immer wieder mit Spendengeldern in die Ukraine, die sie an die alten Zwangsarbeiterinnen verteilt. Sie betreut die Alten, die aus ihrem eigenen Land nie Anerkennung gefunden haben. Frau Schubarth führt mit ihrem Ensemble die Lebensgeschichten im Dokumentartheater in den Berliner Unterwelten, den alten Luftschutzbunkern, auf. Ein Besuch ist sehr empfehlenswert und Spenden werden gerne angenommen.
Grüß´Sie ! Friedrich Wiest

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Der Artikel hat mich sehr berührt und betroffen gemacht; er ist einfühlsam und ehrlich geschrieben. Herzlichen Dank.
Manches in der eigenen Familiengeschichte kommt so auch wieder an die Oberfläche, fordert zum Weiterdenken auf.
Danke Frau Holch!
Herzliche Grüße aus Leipzig
Frank-B. Müller

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Hallo Frau Holch,
Ihr Artikel hat mich sehr, sehr berührt, ja ich habe geweint. Die Trennen kamen weil ich so gut nachvollziehen kann was sie bei Ihre Suche gefühlt haben. Schön, dass Sie Ihre Antworten auf die vielen Fragen gefunden haben. Ich habe das Glück bis jetzt nicht gehabt. Ich komme aus Polen. Seit Jahren suche ich meinen Onkel, Bruder meines Vaters. Als er 3 Jahre alt war ist er in Breslau im deutschen Krankenhaus operiert worden. Ende 1944 als das Krankenhaus evakuiert worden ist, wurde Franek (so heißt er) versehentlich mit genommen und nach Deutschland geschickt worden. Unvollstellbar was meine Großeltern damals erlebt haben. Sie waren so machtlos, sie konnten nichts tun. Mein Vater war 7 Jahre alt als meine Oma 1953 gestorben ist. Grüße aus Bayern. Izabela

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Was für eine Geschichte! Danke fürs Schreiben und Veröffentlichen. Auch mir geht sie sehr nahe. Seit Jahren trage ich die Fragen über meine Großeltern mit mir herum, über die nur sehr vage und andeutungsweise geantwortet wurde. Mich prägten sehr die frühe kollektive Scham und Schuld ob der deutschen Geschichte, Ahnungen eines Kindes, die sich verfestigten und der Aufklärung bedürfen. .... Je älter ich werde, desto mehr merke ich die Eigenheiten der Kriegsenkelgeneration.
Seien Sie mit guten Wünschen herzlich gegrüßt, Frau Holch, Gratulation zu dem relativen happy ending, was Ihre Haika anbelangt.
Barbara Demmler

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...bin ich gerade an meiner S-Bahnstation auf dem Weg zur Arbeit vorbeigefahren, weil ich so gebannt von Ihrem Artikel war. Danke. Dafür nehme ich jetzt gerne 10 Minuten Wartezeit in Kauf.

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Dear Ms. Holch --Thank you so much for sharing your research with your readers, it was truly inspiring! Will you accept procedural questions here, or should i write somewhere else? My questions concern cemetery regulations in Germany. Please excuse the English -- I am 73, came here as a ten year old und schreibe kaum noch auf Deutsch. Any information gladly received in either language. John Hasselkuss

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Den Artikel "Wo ist Haika" fand ich sehr lesenswert und er hat mich wirklich bewegt. Allerdings scheint bei der Transkription des Namens eine Ungenauigkeit entstanden zu sein. Halina oder Haika sind nach Aussage meiner Russischen Frau als Vornamen unbekannt. Wahrscheinlich ist "Galina" und deren Koseform "Gaika" gemeint. Im Russischen wird H-A als G gesprochen: Gamburg oder Luft gansa.
Aber das tut der Qualität des Artikels keinen Abbruch!

Antwort auf von Karl-A. von Quistorp (nicht registriert)

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Halina - ist volkomm korrekt!
Russen sagen Galina, und Ukrainer sagen Halina.

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Der Bericht ist erschütternd, zeigt aber eben auch "nur" Lebensläufe von Menschen in "verrückten Zeiten". Doch sieht es heute wirklich anders aus?
Sind die unzähligen Kriege und einfach "Aktionen" nach dem zweiten Weltkrieg "besser"? Gibt es da keine Verstrickungen von Menschen, von Verwandten, ja vielleicht oder sogar von uns selbst? Wie werden unsere Kinder oder Enkel über die aktiv oder nur passiv "Beteiligten" von zu mißbilligenden Handlungen bis hin zu Tötungen in einigen Jahren oder Jahrzehnten reden und schreiben? Sind Deutsche nicht längst "dabei", ohne oder mit Billigung der Vereinten Nationen "Unglück" und Unrecht in die Welt zu tragen, unter anderem durch Waffenexporte, durch die Entwicklung und demnächst den Einsatz von Drohnen, unter dem Deckmantel der "Befreiung"? Wo bleiben kritische Stimmen, wo gar Proteste? Sind die Einsätze und ihre "Kollateralschäden" dafür zu weit weg?
Können Sie, können wir ein gutes Gewissen haben?
 

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So interessant und lesenswert ich Frau Holchs Bericht über die Zwangsarbeiterin Halina finde, so bedauerlich ist auch die unbarmherzige Verurteilung ihres Großvaters als Nazi.
Zudem dieser das von Frau Holch angemahnte zivilisatorische Minimum ganz offensichtlich erbracht hat und auch Halina nur Gutes über ihn berichtet.
Warum also dieses harte Urteil, 70 Jahre nach Ende des Nationalsozialismus und nachdem die meisten Zeitzeugen gestorben sind.
Meines Erachtens ist heute ein Urteil fast nicht mehr möglich, das den Menschen dieser Zeit gerecht wird.

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Es ist schon lange her, dass mich eine so ehrliche Spurensuche durch die Familiengeschichte in "dunklen und verschwiegenen Zeiten" derart berührt hat, dass ich den Artikel immer wieder lesen  musste, um Details herauszufinden..... Diese detektivische Familienrecherche ist lebendiger als jede historische Abhandlung  und ein Anreiz für einige Leser, die Erzählungen in der Familie mindestens über die Zeit von 1933-45 etwas genauer zu prüfen. Wenn dann auch noch neue Freundschaften und soziales Engagement wie z.B. in der Ukraine entstehen, um so schöner. Gratulation und Dank für diesen wichtigen Artikel!

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Liebe Autorin, ich bin über Ihren Artikel zum Vorgehen bei Familienrecherche auf diesen faszinierenden Artikel gestossen. Auch ich habe erst vor kurzem erfahren, dass mein Opa, von dem ich bis dato (ich bin 55!) nur wusste, dass er im Krieg gefallen ist, in der Waffen-SS war. Ich bin noch am Anfang meiner Recherche, aber es ist schon einiges "ins Rutschen gekommen" - seine Kinder (alle in den 80ern) haben nie über ihn geredet und sind nun trotzdem froh, dass jemand seiner Geschichte nachspürt. Ich finde Ihre Reise in die Ukraine ungeheuer mutig und bewegend - Sie haben das Richtige getan. Vielen Dank dafür - auf schwer sagbare Weise sind es es solche Taten, die uns allen helfen.
Gesine Claar

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Wenn sich Scholz heute zum Thema Ukraine so gefühlt endlos herumdrückt, wünscht man sich, jemand gäbe ihm diesen Bericht zum Lesen.