Kathrin Bauer und Dietmar Pehlke
Sabine Findeisen
Dann hat es klick gemacht
Sie sind verliebt. Aber wenn sie übernachten oder heiraten wollen, brauchen Menschen mit geistiger Beeinträchtigung eine Erlaubnis.
27.04.2021

Siegfried starb vor fast drei Jahren. Er lebte in einem Wohnheim in Langenhagen bei Hannover, in dem ich arbeite. Seine wenigen Habseligkeiten wurden entsorgt, in seinem Zimmer blieben nur ein Kleiderschrank und ein Bett übrig. Ein Einzelbett. Siegfried war 70 Jahre alt, als er starb. Er hatte 30 Jahre lang in diesem Wohnheim gelebt. Mich machte tieftraurig, dass er so lange in diesem schmalen Bett geschlafen und wahrscheinlich nie erlebt hatte, wie es ist, neben einem anderen Menschen einzuschlafen, sich anzukuscheln und dessen Wärme zu spüren. In diesem Moment habe ich angefangen, über die elementaren Dinge nachzudenken, die für Menschen mit Beeinträchtigung nicht selbstverständlich sind.

Privat

Sabine Findeisen

Sabine Findeisen, geboren 1982, beendete 2020 ihr Studium Fotojourna­lismus und Dokumentarfotografie in Hannover mit ­diesem Projekt. Seit 2017 ­arbeitet sie als Diplom-­Sonderpädagogin in der Eingliederungshilfe in einer Langenhagener Wohneinrichtung.

Auch während meines Fotografiestudiums begleitete und unterstützte ich als Sonderpädagogin Menschen mit geistiger Beeinträchtigung. Mit den Jahren ist mir klar geworden, dass sie nicht per se behindert sind, sondern dass sie in vielen Bereichen ihres Alltags und Intimlebens behindert werden. So sind Zimmer in Wohnheimen standardmäßig nur mit Einzelbetten ausgestattet. In etlichen Heimen wird die Privatsphäre nur wenig gewahrt.

Seit fast vier Jahren sind Bastian Kabatek (38) und Soledad Cobano- Sanchez (53) fest zusammen und leben in einer Dreier- WG im Wohnheim. Davor führten sie lange eine On-off-Beziehung, weil es Soledad wichtig ist, möglichst unabhängig zu sein. Vor zwei Jahren hat sich Bastian ein großes Bett gekauft. Das genießen sie sehr, wenn sie am Wochenende beieinander schlafen.

Ich habe mit vielen Bewohnerinnen und Bewohnern in unterschiedlichen Heimen über Freundschaft und Liebe gesprochen. Sie erzählten, wie sie ihre Partnerin und ihren Partner kennengelernt haben, von ihren gemeinsamen Ritualen, von Pärchenabenden und den Lieblingsserien im Fernsehen, die sie zusammen schauen. In einer Partnerschaft erleben sie wahrscheinlich zum ersten Mal Zuwendung aus reinem Interesse an ihrer Person und nicht aus elterlicher Fürsorge und ethischen oder professio­nellen Verpflichtungen.

Charlotte Ledig (26) und Anil Beyer (33) wohnen im Wohnheim auf verschiedenen Etagen. Wenn sie zu Hause sind und freihaben, treffen sie sich bei Anil und ruhen sich aus, ansonsten gehen sie gern "an den Fluss spazieren". Donnerstag ist Pärchenabend. Dann essen sie gemeinsam einen großen Dönerteller mit Pommes. Sie hoffen darauf, endlich das erste Mal beieinander übernachten zu dürfen. Charlotte wartet noch auf die Erlaubnis. Während der "Corona- Langeweile" haben sie sich verlobt. Anil will, dass seine Verlobte immer glücklich und zufrieden ist".

Ihre Bedürfnisse und Sehnsüchte unterscheiden sich nicht von denen anderer Menschen: Mit einer vertrauten und geliebten Person zusammen sein, Umarmungen, Verabredungen zum Kaffee, Grillabende, Küsse, kuscheln, Sex und gemeinsam lachen, all das brauchen wir – ob wir mit oder ohne Beeinträchtigung leben. Wir wollen uns geborgen fühlen, bestätigt und unterstützt werden, wir fühlen uns ­attraktiv und begehrenswert, wenn sich andere für uns interessieren. 

Die "Sex- und Liebe"-Gruppe

Und doch können Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen nicht einfach beieinander übernachten oder zusammenziehen, geschweige denn heiraten. Alles müssen sie mit Eltern, gesetzlichen Betreuerinnen und Erziehern abklären. Dabei sind sie erwachsen! Weil wir im Kollegium festgestellt ­haben, wie wenig die meis­ten über ihren Körper, über Sexualität, Schwanger­schaft, Verhütung wissen, haben wir im Wohnheim in Langenhagen vor eineinhalb Jahren eine "Sex & Liebe"­-Gruppe eingerichtet, in der wir einmal im ­Monat genau darüber aufklären.

Vor einem Jahr war Konstantin Kluß (32) noch der Meinung, dass Frauen von ihm "nur das eine wollen: einen Sicherheitsabstand von mindestens fünf Fußballfeldern". Kürzlich hat er sich spontan entschieden, seine "Traumfrau" online zu suchen. So umgeht er Discos und Menschenansammlungen, die er nicht mag. Seine größte Liebe ist Kaffee. Bislang.

Dass auch Menschen mit geistiger Beeinträchtigung über ihr Leben selbst bestimmen wollen, berücksichtigt die Sonderpädagogik seit ­etwa 60 Jahren. Dass sie ihre Sexualität frei entfalten können, ist erst seit 20 ­Jahren ein selbstverständliches Grundrecht. Ich erlebe allerdings oft, dass Eltern ihren erwachsenen ­Kindern dieses Recht nicht zuge­stehen wollen oder können. Offenbar ist der Grat sehr schmal zwischen dem Bedürfnis, den Sohn und die Tochter beschützen zu wollen, und der Notwendigkeit, loslassen zu ­müssen, zwischen Schutz und Scham. 

Weitgehend geschlossene Welt

Wer seine Angelegenheiten nicht selbst regeln kann und wem keine Angehörigen helfen, für den bestellt die Betreuungsbehörde Betreuer:innen. Sie kümmern sich um vieles, sie ­sollen den Betreuten aber die Freiheit ermöglichen, nach den eigenen Wünschen und Vorstellungen zu leben. Doch auch das klappt nicht immer. So durften zum Beispiel nicht alle Paare bei meinem Fotoprojekt mit­machen, die wollten. Aber viele andere Betreuerinnen und Betreuer und Ein­richtungen haben mich unter­stützt – waren meine Anfragen bei den Paaren doch auf große Zustimmung gestoßen.

Sonntags gehen sie gern in ein Café und essen Kuchen, wenn nicht gerade Corona ist. Die beiden träumen davon, irgendwann zusammenzuziehen. Jetzt wohnt Kathrin im dritten Stock in einem großen Wohnheim in Hannover-Linden. Meistens sind sie aber bei Dietmar, weil sein Zimmer im ersten Stock liegt.

Obwohl gesellschaftliche Teilhabe heute sehr wichtig ist, leben Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen in einer weitgehend geschlossenen Welt – auch ohne Pandemie. Sie ­wohnen in Heimen, die Tage sind durchgetaktet, sie arbeiten in eigens für sie bestimmten Werkstätten, treffen sich zum Behindertensport, tanzen in Behindertendiscos. Die Möglichkeiten, jemand Neues kennenzulernen, Freundschaften zu knüpfen, sich zu verlieben und Beziehungen einzugehen, sind sehr eingeschränkt. Das führt dazu, dass nur etwa zehn Prozent von vermutlich 1,7 Millionen Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung in Deutschland eine Partnerin oder einen Partner haben. 

Die Corona-Zeit hat Rita Lorenz (68) und Mark-Oliver Vogt (48) ziemlich abgenervt. "Scheiß Verona, ich kann es nicht mehr hören!", sagt Rita. Sie sind seit über 23 Jahren ein Paar und teilen eine große Leidenschaft: das Kegeln. Normalerweise treffen sie sich jeden Montagabend mit ihrem Kegelclub in einem Vereinshaus und geben alles.

Das ist ganz normal

"Der Mensch wird am Du zum Ich", hat der Religionsphilosoph Martin Buber gesagt. Wer wir sind, ­richtet sich auch immer daran aus, wie ­andere uns sehen und auf uns rea­gieren. Thekla und Lars, Rita und Mark-Oliver, Charlotte und Anil, Dietmar und Kathrin erleben sich als Mann und Frau, als normal, wenn sie am Wochenende zu zweit in den Zoo oder zum Kegeln gehen.

Da muss ich an den Bewohner ­Helge denken, der gern mit seiner Freundin duschen ging, "weil man das so macht mit seiner Freundin, das ist ganz normal".

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Sehr geehrte Damen und Herren,
Aus der sogenannten Behindertenarbeit kommend, hat mich Frau Sabine Findeisens Bericht „Dann hat es klick gemacht“ sehr gefreut, vor allem mit welchem Einfühlungsvermögen und Empathie es ihr gelungen ist, die immer noch heikle Thematik aus dem Leben der Menschen mit geistiger Beeinträchtigung zu behandeln. Ich bedanke mich bei der Autorin für den lesenswerten Text und die beachtenswerten Fotos.
Mit freundlichen Grüßen,
Jörn Schenker

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Was für ein gelungener Artikel zu diesem so wichtigen und oft noch tabuisiertem Thema. Dafür, und für die schönen Bilder, vielen Dank! Ein wichtiger Beitrag, der wunderbar beschreibt, dass sowohl Zuneigung, als auch Partnerschaft und Sexualität ein menschliches Grundbedürfnis ist und wie absurd es ist, das nicht anzuerkennen.

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Sehr geehrte Damen und Herren,

ein guter Bericht von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung über das lebensnotwendige Bedürfnis nach Nähe zu einem vertrauten Menschen.
Sie haben es bei der Partnersuche besonders schwer, aber auch andere Gruppen wie Menschen mit körperlichen Behinderungen, Verwitwete, Geschiedene und Alleinerziehende bleiben oft allein.
Als ehemaliger ehrenamtlicher Mitarbeiter der Telefonseelsorge habe ich mit vielen über diese Problematik sprechen können.
Es ist mir daher ein Anliegen, über meine Webseite wiederzuzweit.de kostenlos und anonym Gespräche zu diesem Thema anzubieten.

Mit freundlichen Grüßen
Volker Dittrich

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Ich finde es diskriminierend in ihrem Heft vom Mai 2021 die Hilflosigkeit geistiger Behinderung
in Text und Bild brutal zur Schau zu stellen. Es fehlt das liebevolle Verständnis. Es geht um die Würde des Menschen.
Gisela v. Freytag-Loringhoven

Sehr geehrte Frau Dr. von Freytag-Loringhoven,
als Mutter einer mehrfach behinderten Tochter möchte ich Ihren Leserbrief nicht unkommentiert stehen lassen.
Das liebevolle Verständnis der Fotografin und Autorin spricht aus jeder Zeile des Berichts.
Menschen mit kognitiven Einschränkungen sind auch hilflos, weil sie ihre Liebe und ihre Beziehungen nur unter sehr erschwerten, strukturell bedingten Umständen, leben dürfen.
Es wurde Zeit, dass in der Öffentlichkeit auf die Menschen mit Behinderungen innewohnende Würde hingewiesen wird. Diese beinhaltet auch die Liebe leben und zeigen zu dürfen.
Würden Sie auch von Diskriminierung sprechen, wenn über ein "normales" Liebespaar in Wort und Bild berichtet würde?
Freundliche Grüße von einer Mutter, die ihre behinderte Tochter und deren Lebenspartner nach Kräften unterstützt ihre Liebe zu leben

Ursula Goldschmidt

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Konstantin sucht eine Frau - Dann hat es klick gemacht
Danke für den anrührenden Bericht. Und gerade zu diesem Thema habe ich einen Roman gelesen. Titel: Kalmann, Autor Joachim B. Schmidt. Es ist die Geschichte eines waschechten Isländers und eines besonderen Originals. Aus einer verzwickten Situation heraus endet es nach der isländischen Weisheit: „Þetta reddast“ (alles wird gut). Während meiner neun Islandreisen habe ich viele Menschen mit dieser Einstellung getroffen. Einfach liebenswert!
Mit freundlichem Gruß
Heidemarie Gniesmer

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Herzlichen Dank für ihren Bericht, der zeigt, dass es funktionierende und dauerhafte Partnerschaften in Wohnheimen und zwischen geistig behinderten Menschen gibt. Der Wunsch nach Partnerschaft und Familie ist, wie ich es u.a. auch von unserer Pflegetochter kenne, genauso vorhanden, wie bei allen anderen Menschen. In ihrem Bericht kommt leider nicht zum Ausdruck, dass Beziehungen und Freundschaft für manche behinderten Menschen auch deshalb schwierig sind, weil das eigene Verhalten dauerhafte Beziehungen schwer macht. Kann man Partnerschaft lernen? Kann man geistig behinderte Menschen schulen, wie Partnerschaft funktioniert? Wie können Eltern und Betreuer ihre Kinder oder Schützlinge unterstützen? Informationen dazu fehlen in diesem Bericht. Meine Erfahrung ist, dass alle - die behinderten Menschen selbst und die Mitarbeiter, Betreuer und Eltern- mit diesem Thema allein gelassen werden. Wo arbeiten Wohnheime, Werkstätten, Betreuer und Eltern da gut zusammen? Falls es Schulungen und Schulungsmaterial, Austausch, etc. geben sollte, würde ich mich über eine Rückmeldung freuen. Herzliche Grüße

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Eine gute Nachricht für Charlotte könnte sein, dass sie nicht mehr auf die Erlaubnis warten muss. Weil sie keine braucht. Das müsste ihr nur noch jemand sagen.

Wenn das gedanklich ein Hindernis sein sollte: Wahrscheinlich wissen die beiden über den aktuellen Stand bei Verhütung besser Bescheid als wir Kommentarschreiber.

Wenn sie möchten, können die beiden auch heiraten. Das sollte allerdings vorher wohl überlegt sein und kann später trotzdem schiefgehen. So wie bei allen anderen auch.

Ich finde es einen gut gemachten einfühlsamen Bericht. Ich glaube auch, dass es mit den nötigen Erlaubnissen - von wem auch immer gefordert - häufig so gehandhabt wird. Der Rechtslage entspricht das aber schon lange nicht mehr.