chrismon: Wie sind Ihre Wohngruppen durch den Lockdown gekommen?
Georg Kremer: Unterschiedlich. Wer mit psychischen Störungen und Verletzlichkeiten lebt, hat sich oft eher noch stärker zurückgezogen, Medien konsumiert – manche haben mehr Alkohol als sonst getrunken, Depressionen nahmen zu. Für die jungen Menschen in Ausbildung wurden Praktika abgesagt, Freizeitaktivitäten gestrichen – das hat zu viel Frust geführt. Mühsam aufgebaute Selbstdisziplin ging verloren. Da nimmt die Zuversicht ab, dass aus dem eigenen Leben noch was wird.
Dr. Georg Kremer
Klingt dramatisch!
Ja, aber da haben unsere Kolleginnen und Kollegen viel getan. So wurden Freizeitaktivitäten in den frühen Morgen gelegt, damit der Tag nicht verschlafen wird, und für Struktur im Tagesablauf gesorgt. Anders erging es den Bewohnern mit geistigen Beeinträchtigungen.
Warum?
Das ganze Hin und Her verstehen viele nicht. Die Masken haben die meisten mittlerweile akzeptiert. Schwerer ist zu verstehen, dass Angehörige gar nicht mehr oder weniger zu Besuch kommen. Eine Zeit lang durften sie nicht raus. Vertraute Rituale fehlten plötzlich: ein Spaziergang zur Sparkasse, zum Sportplatz. Da ging auch Selbstständigkeit verloren, Dinge, an die man sonst denken muss. Zum Beispiel der Blick in die Jackentasche: Ist die Fahrkarte da, die ich im Bus vorzeigen muss?
Burkhard Weitz
Aber man konnte dann ja bald wieder rausgehen.
Nur begrenzt und eingeschränkt. Dann wurden die Werkstätten geschlossen. Aber das hat auch zu Entlastung geführt.
Wie das?
Zum Beispiel haben wir eine Wohngruppe mit 25 Menschen in Steinhagen bei Bielefeld, die überwiegend in Werkstätten arbeiten. Zwischen sechs und acht Uhr morgens ist es richtig stressig in so einem Haus. Um acht steht der Fahrdienst vor der Tür. Da ist Tempo in der Wohngruppe angesagt: pflegen, anziehen, frühstücken. Dieser Druck fiel lange weg, als die Werkstätten geschlossen waren. Der Start in den Tag war im Lockdown entspannter. Die Mitarbeitenden empfanden das bei ihrer ganzen Sorge wegen möglicher Infektionen auch entlastend.
"Lieber länger ausschlafen"
Und dann kommt der Stress wieder . . .
. . . und viele Bewohnerinnen und Bewohner sagen: Eigentlich würden sie lieber länger ausschlafen und später in die Werkstatt gehen.
Eine gute Idee?
Ja, aber nicht so einfach umzusetzen. Es gibt nicht genügend Fahrdienste. Und die Werkstätten sind ja eigene Unternehmen, da müssen wir uns auch anpassen. Aber wir reden mit den Verantwortlichen in den Werkstätten, ob sie flexibler werden können.
Wie lief der Übergang zurück in den Alltag im vergangenen Jahr ab?
Schrittweise. Die Werkstätten haben erst nur diejenigen reingeholt, die auch die Hygieneregeln einhalten konnten. Manche verstehen sie nicht, wollen immer mal wieder in den Arm genommen werden. Das geht leider nicht.
"Die Arbeit hat einen hohen Anreiz"
Ist es schwer, die Leute wieder für den Alltag zu mobilisieren?
Teils, teils. Die Arbeit hat auch einen hohen Anreiz. Da sind Freunde, die man monatelang nicht mehr gesehen hat.
Und wenn der Anreiz nicht reicht?
Reden, motivieren, überzeugen, in Kontakt bleiben, Hürden abbauen. Da gibt es keinen Spielraum. Es ist ja auch ein wichtiges Stück Normalität, dass man wieder um acht zur Arbeit fährt.
Was ist seit dem Lockdown vergangenes Jahr anders?
Wir sind gelassener geworden, weil wir sehen, wie gut unsere Klientinnen und Klienten den Lockdown mitgemacht haben. Auch die Angehörigen. Auch bei ihnen ist im Verlaufe des Lockdowns etwas Druck rausgenommen worden. Sie konnten ja eine ganze Zeit ihre Söhne und Töchter nicht besuchen, haben darunter gelitten, aber auch gemerkt, dass alle das relativ klaglos und geradezu verantwortlich und solidarisch mitgetragen haben. Dafür sind wir allen Beteiligten sehr dankbar.