Auf dem Weg zu ihrem Ehrenamt kommt Malin durch ein Stück heile Welt. Kopfsteinpflaster, kleine Läden, bevölkerte Cafés – so ist Tübingen, bunt und gesellig, auch in der Pandemie. Wenn die 18-jährige Schülerin mit den Henna-Haaren und der fröhlichen Ausstrahlung dann in einem Bürogebäude aus Beton und Glas auf dem Berg den Computer hochgefahren und sich in ihren Mailaccount eingeloggt hat, liest sie: "Mit dem Lockdown sind meine Stimmungstiefs ein Dauerzustand geworden. Niemand hilft mir, jeder ist nur mit sich beschäftigt". Oder: "Am Leben hält mich eigentlich nur noch meine Familie. Ich habe Angst, dass sie wegen mir leiden könnten." 13-, 15-jährige Mädchen schreiben das. Ein "Anonym X" fasst sich kurz: "Das Leben hat keinen Sinn mehr."
Elisabeth Hussendörfer
Verena Müller
Malin – auch ihr Name ist ein Pseudonym – arbeitet beim Onlineprojekt Youth-Life-Line, das Jugendliche in schweren Krisensituationen berät. Mit 15 hat sie hier angefangen. Mit 15? Da hat doch jede selbst genug Probleme. Das Konzept heißt "peer to peer", Lebenshilfe auf Augenhöhe, in diesem Fall: Jugendliche und junge Erwachsene sind da für Gleichaltrige bis 21, die nicht mehr weiterwissen, die suizidgefährdet sind. Sechs von insgesamt 30 Peers sind heute im Souterrain, das etwas von einem Großraumbüro hat. Aber auch was von WG mit der gemütlichen Sofaecke am Fenster und der Schale auf dem Sideboard, aus der sich alle an Brezeln und Riegeln bedienen können – "Nervennahrung".
Die direkte Zusammenarbeit vor Ort unterscheidet Youth-Life-Line von den ohnehin wenigen Jugend-Peer-Angeboten. Markus, einer der beiden Hauptamtlichen, Erziehungswissenschaftler und Systemischer Berater, erklärt, warum: "Die Peer-Berater*innen sollen nicht mit den teils sehr belastenden Themen alleingelassen werden. Die Onlineberatung hat Grenzen, und bei Erfahrungen wie schwerer sexualisierter Gewalt, die häufig traumatisch sind, gilt es auch, auf die Betroffenen aufzupassen, damit unsere Beratung nicht ungewollt eine Retraumatisierung hervorruft. Deshalb sind wir vor Ort und für unsere Peers da."
Nähe herstellen, einen Schutzraum bieten
"Anonym X" also. Malin versucht, in Kontakt zu kommen, indem sie Fragen stellt und Gesprächsbereitschaft signalisiert. Ein Gefühl von Nähe herstellen und gleichzeitig einen Schutzraum bieten, darum geht es zu Beginn. "Meinen Namen kennst du", formuliert Malin. "Wenn du magst, kannst du dir auch ein Foto von mir auf der Website ansehen. Frag ruhig, wenn du mehr über mich wissen willst." Sie selbst macht es genauso: "Darf ich wissen, zu welchem Geschlecht du dich zugehörig fühlst?" So fragen die Peers seit einiger Zeit. Und nicht mehr: Bist du ein Junge oder ein Mädchen? Nicht zuletzt, weil es immer wieder Klient*innen gibt, die wegen ihres Geschlechts beziehungsweise aufgrund des Umgangs der Gesellschaft damit in Krisen geraten.
"Vor allem die sogenannten zirkulären Fragen können eine Hilfe sein", sagt Malin. "Was würde deine beste Freundin oder dein bester Freund über deine aktuelle Situation berichten, wenn wir sie oder ihn hier befragen könnten?", tippt sie. Sinn des Nachhakens über Eck: "Aus der Perspektive eines anderen zu berichten fällt vielen leichter." Das Gegenüber kommt "aus der Deckung". Und durch den Perspektivwechsel können beide, Betroffene und Beraterin, erste beziehungsweise neue Erkenntnisse gewinnen. Auch wenn der Austausch gefühlt zunächst an der Oberfläche bleibt.
Krisenkommunikation ist schwierig
In die Ich-Perspektive und zu dem, was sie wirklich bewegt, switchen die Jugendlichen oft erst, wenn ein paar Nachrichten hin und her gegangen sind. Es geht um Stress in der Schule, mit den Eltern, um Liebeskummer oder Mobbing.
Die Hauptamtlichen lesen alle Neuanfragen im Vorfeld. Die, die zu heftig sind, bearbeiten sie selbst – "beispielsweise bei Nekrophilie oder wenn Mails oder Geschehnisse zu bildhaft oder gewaltvoll sind, was allerdings nur sehr, sehr selten vorkommt", erläutert Markus. Menschen, die schwere sexualisierte Gewalt erlebt haben, werden direkt an passende Beratungsangebote verwiesen.
Malin und ihre Mitstreiter sind hoch konzentriert. Manchmal steht zwischendurch jemand auf und holt sich Rat bei Markus. Kann man das so schreiben? Wie würdest du das machen? Markus weiß, dass Außenstehende sich über das Prinzip der Beratungsarbeit wundern. Können so junge Menschen bei schweren Lebenskrisen anderen wirklich helfen? Ist die Gefahr, dass im entscheidenden Moment vielleicht genau das Falsche gesagt wird, nicht viel zu groß? Ratschläge nach dem Muster "Probier mal das" verbieten sich. Noch schlimmer: Phrasen wie "Kopf hoch!".
Peers sind einander näher
"Eine Garantie gibt es nie", sagt Markus, nachdem er es sich auf dem Sofa in der Chillecke bequem gemacht hat. Er betont aber sogleich die Vorteile des Beratungsansatzes. "Wir stellen fest, dass sich Peers einander oft näher sind als Jugendliche und Erwachsene." Oft staunt Markus, wenn er den Entwurf für ein Antwortschreiben liest, was er sicherheitshalber immer tut: Ob er den Ton hätte treffen können? Dabei ist er mit knapp 40, so der Eindruck, ziemlich lässig unterwegs. Der Unterschied lässt sich schwer beschreiben – da "schwingt was zwischen den Zeilen mit".
Noch etwas anderes spricht für den Austausch auf Augenhöhe: Kinder und Jugendliche in Not haben oft bereits schlechte Erfahrungen mit Erwachsenen gemacht, die helfen wollten. Möglicherweise haben sie sich geöffnet und gesagt, dass sie darüber nachdenken, sich das Leben zu nehmen. Und plötzlich stand die Polizei vor der Tür.
Es geht jetzt öfter um Einsamkeit
In der Pandemie haben die psychischen Probleme von Kindern und Jugendlichen zugenommen, heißt es in den Medien; es tue sich eine dramatische Lücke bei den Betreuungsangeboten auf. Markus kann diesen Ausschlag schon deshalb nicht bestätigen, weil Youth-Life-Line begrenzte Ressourcen hat. In der Regel schaffen die Berater*innen jährlich zwischen 500 und 600 neue Anfragen; versendet werden um die 2000 Mails. Im Lockdown hatten sie etwas mehr Anfragen zum Thema häusliche Gewalt. Aktuell scheint es öfter um Einsamkeit zu gehen, vor allem bei den Studierenden.
Tatsächlich, meint Markus, seien Suizide bei Kindern und Jugendlichen schon vor Corona ein großes Thema gewesen – viel größer, als die meisten sich das vorstellen könnten. Auf der Website wird eine WHO-Erhebung von 2014 zitiert: Suizid ist die zweithäufigste Todesursache bei Menschen zwischen 15 und 29 Jahren. Die Angabe ist immer noch aktuell.
Mit viel Geduld
Malin hat schon erlebt, dass Ankündigungen sehr konkret geworden sind. "Die Tabletten liegen bereit, es ist nur eine Frage der Zeit, bis ich sie schlucke." Oder: "Eigentlich wäre es ganz einfach. Ich müsste nur über die Straße laufen, ohne nach links und rechts zu schauen." "Man kann sich total verrückt machen, wenn man mit so was konfrontiert wird", sagt Malin mit ihrer auffallend tiefen und ruhigen Stimme. Aber es ist Geduld gefragt. "Menschen schießen beim Helfenwollen manchmal übers Ziel hinaus", meint Malin. "Sie denken: Da muss jetzt sofort eine Lösung her, man muss handeln." "Wenn ein Suizid angekündigt wird, macht das enorm Druck", bestätigt Markus.
Wichtig ist in solchen Situationen: die Jugendlichen aus der Negativspirale zu holen. Dafür gibt es "Werkzeug". Die Skala von eins bis zehn etwa, auf der die Hilfesuchenden die Intensität der Suizidgedanken einordnen sollen: In welchen Situationen verschärft sich die Lage? Aber vor allem auch: in welchen nicht? Dann ist da die "Fantasiereise": Wo siehst du dich in der Zukunft? Oder die "Wunderfrage", bei der die Betroffenen aufgefordert werden, sich vorzustellen, über Nacht, während sie schliefen, sei ein Wunder geschehen. Alle Probleme und Sorgen seien verschwunden: Woran würdest du das als Erstes merken und woran könnten es andere in deinem Umfeld bemerken? "Mit der Frage wollen wir Zugang zu den Bedürfnissen, Zielen und Wünschen der Ratsuchenden bekommen", sagt Malin.
Nickname und Passwort reichen
Wäre die Identität eines Betroffenen bekannt, wären die Helfer juristisch tatsächlich verpflichtet einzugreifen, die Polizei zu informieren. Zu solchen Situationen kommt es bei der Onlineberatung aber in der Regel nicht: Nickname und Passwort reichen. Niedrigschwellig nennen Fachleute solche Hilfsangebote. Mit einer persönlichen Antwort können Betroffene spätestens innerhalb einer Woche rechnen. Wenn es dringend ist, geht es aber auch schneller: Über das Team, das an drei Tagen vor Ort ist, ist eine Erstantwort auf Neuanfragen in drei Tagen garantiert. Möglich ist grundsätzlich alles, vom einmaligen Austausch bis hin zum jahrelangen intensiven Schriftwechsel.
Braucht es für die Peer-Tätigkeit eine besondere Begabung? Eine Affinität zum Schreiben kann sicher nicht schaden. Marith, mit 17 heute die Jüngste in der Runde, kommt manchmal in einen regelrechten Flow. An anderen Tagen feilt sie, druckt aus, verwirft, formuliert neu – fast wie bei einem Deutschaufsatz. Stiller und nachdenklicher als ihre Kollegin Malin, hat sie auch privat schon oft gehört: Du kannst dich gut einfühlen, hörst besonders aufmerksam zu. Aber Marith meint: "Man wächst da rein."
Wie Malin hat sie mit 15 als Peer angefangen. Das Team von Youth-Life-Line kam in ihre Schule und informierte über das Projekt. Für andere da sein, das ist das Krasseste, was du bieten kannst, dachte sie damals spontan. "Wir leben in einer Zeit, in der die Leute sich vor allem mitteilen." Aber wenn es nur in Richtung Selbstdarstellung geht, "ist das nicht gesund" – bei Instagram hat sie sich schon lange ausgeklinkt.
Traue ich mir das zu?
Wie alle Berater bei Youth-Life-Line hat Marith ein aufwändiges Bewerbungsverfahren durchlaufen. In intensiven Gesprächen geht es dabei auch um Fragen der Selbsteinschätzung: Traue ich mir das zu? Bin ich bereit, mich verlässlich – mindestens zwei Jahre lang an mindestens einem der drei wöchentlichen Beratungstage – einzubringen? Könnte die Arbeit doch zu belastend sein? "Eigene Krisenerlebnisse der Bewerber spielen beim Auswahlverfahren natürlich mit", sagt die 31-jährige Maren, neben Markus die zweite Hauptamtliche beim Beratungsdienst. Und dass das Klischee vom behütet aufgewachsenen, in der Schule gut aufgestellten Peer schon teilweise zutreffe. Mehr weibliche Berater als männliche, das auch. Eine ähnliche Verteilung wie bei den Hilfesuchenden.
Was das Temperament der Peers angeht, ist das Spektrum weit. "Es gibt auch den einen oder anderen verpeilten Peer, der dennoch eine super Beratung macht", sagt Maren, die dieselbe berufliche Qualifikation wie ihr Kollege hat. Schwierige Familienverhältnisse oder eigene Erfahrung mit Therapie sind keine Ausschlusskriterien, um dieses Ehrenamt auszuführen. "Wichtig ist, dass die Betroffenen aktuell stabil sind und genügend Abstand zu den eigenen Krisen haben."
Nur versprechen, was man halten kann
Zahlreiche Ausbildungsabende und drei Wochenendtrainings sollen die Bewerber fit machen. Dabei lernen sie etwa, nur Wege anzubieten, die sie auch wirklich gehen wollen, nur zu versprechen, was sie halten können: "Ich würde mich freuen, dich eine Zeit lang zu begleiten" statt "ich bin immer für dich da". Zurückrudern, wenn das Gegenüber erst mal so was wie Freundschaft fühlt – schlecht. Schwierig ist auch, herauszufinden, ob ein Hilferuf vorgetäuscht ist. Markus geht davon aus, dass "Fakes" extrem selten sind. Seit neun Jahren ist er dabei und hatte bei keiner Handvoll Fälle einen derartigen Verdacht. Trotzdem: "Die Peers müssen wachsam sein."
Nur wenige stellen im Verlauf der sechsmonatigen Vorbereitung fest, dass sie diese Arbeit doch nicht machen wollen. "Die Trennung kommt in aller Regel durch eine Absage unsererseits", sagt Markus, für den es eine "Vollkatastrophe" ist, diesen Schritt zu tun. Aber es gab bisher immer mehr Anwärter als Ausbildungsplätze.
Nicht zu viel Negativtalk
Marith hatte Glück. "Ich kann hier viel lernen", sagt sie. Sie kann sich vorstellen, später therapeutisch zu arbeiten – wie so einige der Peer-Berater, manche liebäugeln auch mit medizinischen Berufen. Vor dem Hintergrund der eigenen Jobvision war Mariths erster Beratungseinsatz eine Herausforderung. "Du machst das hier doch nur für deinen Lebenslauf", schrieb der Junge. Marith antwortete: "Ich finde es toll und mutig, dass du dich gemeldet hast." Nein, es geht nicht darum, von Problemen abzulenken, sagt sie heute.
"Nicht zu viel Negativtalk" steht auf einem Merkblatt an der Wand: Weil Menschen naturgemäß zunächst auf der Klagewelle mitschwingen, wie Fachkraft Maren erläutert. Nach dem Motto: "Krass, du hast Borderline und dann kommt noch die Trennung deiner Eltern dazu!" Dabei könnte man fragen: Was gelingt dir trotz der Schwierigkeiten?
Aushalten ist besser als Ratschläge geben
Aushalten lernen ist das A und O, so sieht es Malin, und meint damit nicht nur die Beratungsarbeit selbst. In ihrer Familie gab es vor ein paar Jahren einen Suizid. Vielleicht hätte ein Unterstützungsangebot wie das von Youth-Life-Line ihn verhindern können? Dieser Gedanke kann traurig machen, sagt Malin. Andererseits ist er eine Motivation dafür, jeden Freitag hier im Büro zu sitzen statt zum Hip-Hop zu gehen. Wenn sie abends mit der Bahn nach Hause fährt, schaut Malin sich die Mitfahrenden genauer an als früher. Auch im persönlichen Bereich, mit Freundinnen oder Verwandten, findet sie Ratschläge inzwischen schwierig. Lieber fragt sie nach oder gibt Tools an die Hand, wenn jemand ein Problem hat. Letztlich ist jeder der beste Experte für sein Leben: Das will Malin, die beruflich in Richtung Soziologie oder Forschung denkt – "Auf keinen Fall was Therapeutisches!" –, bei Youth-Life-Line gelernt haben.
Die Hilfesuchenden sollen stets die Kontrolle behalten – das ist noch so eine Beratungsregel. "Wie wollen wir weitermachen, was schlägst du vor?", schrieb Marith dem Jungen, der ihr berufliches Kalkül unterstellt hatte. Sie kam nicht an ihn heran, obwohl sie alles versuchte: Fantasiereise, Wunderfrage, das ganze Programm. Und dann hörte sie nichts mehr von ihm, das war hart. Auch wenn sie vom Team Unterstützung bekam: Nein, sie hätte nichts falsch gemacht.
Die Tür bleibt immer auf
Sogar in der Kletterhalle, wo Marith sonst eigentlich immer den Kopf frei kriegt, kreisten Zweifel. Nach zwei Monaten geschah, womit sie längst nicht mehr gerechnet hatte. "Ich hatte viel für die Schule zu tun, daher melde ich mich erst jetzt", schrieb der Junge. Und: "Es geht mir besser. Bin irgendwie ein anderer Mensch." Krisen können sich krass drehen – Mariths schwarzbraune Augen leuchten, als sie das sagt. "Ein Wahnsinn, so was zu erleben."
Könntest du dir vorstellen, ohne mich weiterzumachen? Diese Frage zu stellen bleibt eine Herausforderung für die Beratenden. Wenn eine Zeit lang nur noch über Belanglosigkeiten geschrieben wurde, sollte sie in Betracht gezogen werden. Geht eine Mail tatsächlich so raus, muss immer klar sein: Unsere Tür bleibt für dich offen. Und dann? Können Malin, Marith und die anderen auch das in ihren Postfächern finden: "Danke, dass es dich gibt."
Krisenhilfe im Netz
Youth-Life-Line (www.youth-life-line.de) ist ein Online-Beratungsangebot des Arbeitskreises Leben e. V. (AKL) Reutlingen/Tübingen von Jugendlichen und jungen Menschen für Jugendliche und junge Menschen in Lebens- krisen. Fachkräfte sind Maren Schlachta und Markus Urban.
Der AKL bietet an mehreren Stellen in Baden-Württemberg Krisenberatung telefonisch und vor Ort an (www.akl-krisenberatung.de).
Die Onlineberatung gibt es seit 20 Jahren; das Projekt kommt immer wieder an seine Kapazitätsgrenze, weil die Nachfrage die Möglichkeiten des Angebots deutlich übersteigt. Manchmal sind die Fachkräfte gezwungen, das Beratungssystem vorübergehend für Neuanmeldungen zu schließen und auf andere Unterstützungsangebote zu verweisen.
Bei der Finanzierung des Projekts ist die Beratungsstelle zum Teil auf Spenden und Stiftungsgelder angewiesen. Den Rest geben die Stadt Reutlingen, die Landkreise Reutlingen und Tübingen und das Land Baden-Württemberg.