Graphic Novel "Columbusstraße"
Der Terror richtet sich irgendwann auch gegen die eigenen Leute
Der Zeichner Tobi Dahmen erzählt auf 500 Seiten die Geschichte seiner Familie. Die Dahmens sind katholisches Bildungsbürgertum in Düsseldorf. Manche von ihnen sind auch antisemitisch. Dann kommen die Nazis. Und der Krieg
Der Terror richtet sich irgendwann auch gegen die eigenen Leute
In seiner Graphic Novel "Columbusstraße" spürt Tobi Dahmen seiner Familiengeschichte nach.
Tobi Dahmen/Carlsen Verlag
Privat
13.08.2024
8Min

Herr Dahmen, fangen wir doch mal mit dem Schlimms­ten an. Welche Szenen waren das für Sie?

Tobi Dahmen: Alles von der Ostfront! Ursprünglich hatte ich gar nicht vor, das alles abzubilden. Aber irgendwann realisierte ich: Wenn ich nur Bombenangriffe zeige, sind die Deutschen die Opfer. Man muss auch den Krieg darstellen, das, was die Deutschen angerichtet haben. Aber ich ­habe mir diesen Teil bis zuletzt aufbewahrt, ich wollte ihn in einem Rutsch durchzeichnen, weil man auf so vieles achten muss. Die Stahlhelme, die Uniformen, das militärische Gerät. Und als ich damit loslegen wollte, begann der russische Angriff auf die Ukraine. Da habe ich die Arbeit erst mal zwei Wochen liegen lassen.

Privat

Tobi Dahmen

Tobi Dahmen, geboren 1971, ist vielfach ausgezeichneter Comiczeichner und Illustrator, er arbeitet für Werbung, Presse und Verlage. Gerade erschien seine neueste Graphic Novel "Columbusstraße" (Carlsen Verlag, 528 Seiten, 40 Euro). Dahmen lebt mit seiner Familie in Utrecht, Niederlande.

Jetzt reden die Deutschen über Kriegstauglichkeit und Militärdienst, und in "Columbusstraße" können wir lesen, wie eine andere Generation in den Nationalismus und in den Krieg abgeglitten ist. Da haben Sie auf ­eine Art perverses Glück . . .

Andersherum wäre es mir lieber, ­Frieden und Buchflop statt Krieg und Verkaufserfolg. Die Zeiten sind schlimm, das Weiterdenken ist aus der Mode gekommen, die Empathie. Dabei müssen wir uns klarmachen, was unsere Entscheidungen heute für unsere Kinder bedeuten. Der Historiker ­Chris­tian Hartmann hat festgestellt, dass ein Großteil der Wehrmachts­soldaten vor 1933 gar nicht gewählt hat. Sie waren zu jung. Die Entscheidung, den Krieg zu führen, haben deren ­Eltern getroffen. Der Jahrgang meines Onkels Peter, 1921, hatte die meisten Todesopfer. Der war 1933 zwölf!

Ein schlimmer Gedanke.

Darüber rede ich oft, das ist ein Denkanstoß, der mir wichtig ist. Er zeigt, dass wir nicht nur an uns selbst ­denken müssen, dass wir eine Verantwortung tragen.

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Ihre Graphic Novel beginnt in der Jetztzeit, mit einer Zugreise, die Sie mit Ihrem Vater unternommen haben.

Tobi Dahmen, der Chronist seiner
Familie, lebt in Utrecht

Ja, die Zugfahrt war lang, und ich ­habe ihn gebeten: "Erzähl mir doch mal deine Lebensgeschichte, dann hab ich die mal." Das war weitsichtig von mir. Eigentlich habe ich erst mit dem Tod meines Vaters gemerkt, wie wertvoll diese Aufnahme war.

Dann fanden Sie Dokumente . . .

Ich entdeckte im Nachlass meines ­Vaters Briefe, die wir uns nie zu­sammen angeschaut hatten. Da tat sich ­eine große Welt auf. All das, wovon er erzählt hatte, bekam eine ­zweite ­Ebene. Auch das Tagebuch ­meiner Großmutter tauchte auf. Bis ich mich an "Columbusstraße" gesetzt habe, hat es dann noch fast ein Jahr ­gedauert. Beim Lesen, Ordnen, Transkribieren wurde mir klar: Es ist etwas Besonderes, dass so viel dokumen­tarisches Material erhalten geblieben ist. Meinem Großvater war es sehr wichtig gewesen, sein Denken weiterzugeben, auch an seine Enkelkinder. Deshalb hat er vieles aufgeschrieben.

Ihr Großvater war kein glühender Nazianhänger, er war Rechtsanwalt, gut situiert, aber er hat seinen Sohn Peter nicht gut behandelt.

Er hatte vier Kinder. Der Älteste, Eberhard, war der Kronprinz. Groß gewachsen, gut aussehend, gebildet. Dann Marlies, das einzige Mädchen. Peter war eher das Sorgenkind, mein Großvater wollte ihn fördern, war aber gleichzeitig wenig einfühlsam.

Sie widmen ihm ziemlich viel Platz.

Er wird noch mehr Platz bekommen, wenn ich die Geschichte weiter­erzähle. Peters Beispiel zeigt, wie ­einen persönlicher Frust in die ­Hände dieses Systems spielen konnte. Er wollte dem Leistungsdruck in der Schule entkommen und meldete sich freiwillig zur Wehrmacht.

Und schließlich war da noch Ihr ­Vater, Karl-Leo. Er war noch ein Kind, man schickte ihn zu seinem Schutz vor den Bomben zu einer Familie im Schwarzwald. Den Pflegevater ­haben die Nazis ermordet.

Ja. Von diesem Mann, Ewald Huth, haben wir als Kinder schon viel gehört. Ich bin mit Angst, aber auch mit einem großen moralischen Kompass aufgewachsen: dass die Nazis gefährlich sind. Dass sich der Terror irgendwann auch gegen die eigenen Leute richtet. Mein Großvater hatte zwar als Katholik Ressentiments gegenüber den Nazis, andererseits gab es aber auch Schnittmengen. Nationalismus, Antisemitismus . . .

Und wie wird die Geschichte dann zu Bildern? Wie zeichnen Sie?

Auf dem iPad. Mein erstes Buch, "Fahrradmod", habe ich noch analog gezeichnet.

Vorher schreiben Sie erst mal alles auf.

Ja, ich musste das Material sichten, kleine Events, Szenen daraus machen, die eine Chronologie ergeben. Dann habe ich die historischen Fakten ergänzt, wobei ich auch sehen konnte, wie sich in meiner Familie vieles parallel zum Kriegsverlauf entwickelte: Anfangs haben wir nichts damit zu tun, schließlich sind wir mittendrin, irgendwann richtet sich der Terror auch gegen uns – der ganze Verlauf. Dann habe ich die Szenen, von denen ich dachte, sie tragen die Handlung weiter, auch die Entwicklung der ­Figuren, rausgezogen und Stück für Stück ausgearbeitet.

Gezeichnet?

Erst mal aufgeschrieben. Anschließend schätze ich ab, wie viel auf ­eine Seite passt, davon mache ich ein Storyboard, setze den Text ein, alles auf Papier. Das eigentliche Zeichnen ist der entspanntere Teil. Ich wusste schon, dass ich damit ein paar Jahre beschäftigt sein würde, da musste ich drei Seiten pro Woche zeichnen. Während Corona habe ich manchmal fünf Seiten geschafft.

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Ihre Graphic Novel, an der Sie alles in allem acht Jahre gearbeitet haben, ist nicht die erste zum Thema Nationalsozialismus und Krieg.

Ja, und es gibt ein paar, die sehr wichtig sind. Als Bedeutendste natürlich "Maus" von Art Spiegelman, ein ­Meis­terwerk, auch "Irmina" von Barbara Yelin finde ich sehr wichtig, sie hat ja auch gerade die Geschichte einer Holocaustüberlebenden aufgezeichnet, auch ein fantastisches Buch.

Warum ist die Form so gut geeignet dafür?

Wenn ich einen Comic lese, sind das, platt gesagt, zwei Bilder nebeneinander. Die Leserin, der Leser verbindet ­ diese Bilder. Da kann eine kleine ­Sache ­direkt auf die vorige folgen, ich kann aber auch größere Zeitabstände neben­einander abbilden. Alles, was ­dazwischen passiert, ergänzt der Leser im Kopf. Leerstellen integrieren – das ist die Spezialität des Comic. Ich kann außerhalb des Bildrandes zeichnen oder schreiben – auch das kann der Leser mit seinem Hintergrundwissen oder seiner Fantasie auffüllen. Gleichzeitig bedeutet es auch, dass ich Dinge, die ich nicht weiß, einspeisen kann.

Viele Graphic Novels arbeiten mit längeren Textpassagen, Sie erzählen ziemlich konsequent in Bildern.

Ja, ich wollte eine Geschichte ­erzählen, die den Leser reinzieht. Ich zeichne in einem relativ klassischen Stil, ich möchte die Ereignisse filmisch, handlungsgetrieben beschreiben – und gleichzeitig die dokumentarischen Anteile mit einarbeiten. Ich möchte es dem Leser leicht machen, ich will ihn über die Seiten führen, von einem Bild zum anderen, so dass er richtig in die Geschichte einsteigt und sich hoffentlich in dieser Zeit befindet und versteht, warum die Personen so ­handeln, wie sie handeln.

Und dass er – und sie – die Parallelen zu heute im Kopf hat. Für das, was Sie nicht wissen, was die Figuren verdrängen oder unter den Tisch kehren wollen, finden Sie ebenfalls Bilder.

Viele dieser Ideen passieren unbewusst, über meine eigenen Erfahrungen als Leser. Oder in der ­Sprache. Wir sagen ja: "Ich stehe an einer Wegkreuzung." Oder: "Da ­haben sich die Puzzleteile zusammengefügt." Das zeichne ich dann. Leerstellen und dazu Puzzleteile, mehrere zur Auswahl. Text-Bild-Scheren gibt es, wenn ­einen die Schilderungen ­misstrauisch ­machen – wie Eberhards naiv ­klingende Briefe aus dem Russlandfeldzug. Es wird ja darin nie erwähnt, dass Millionen Menschen da einen erbärmlichen Hungertod gestorben sind. Ich zeige, wie sich die Leute damals konstant selbst belogen haben, die Ideologie in der Sprache, was die Leute ausblenden. Das Mantra nach 1945 war ja: Wir haben das nicht gewusst. Haben sie aber, vor aller Augen hat sich das abgespielt mit den Zwangsarbeiterinnen, der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung, den Kriegsgräueln.

Sie geben der Täterperspektive viel Raum. Haben Sie zwischendurch manchmal gedacht: zu viel?

Natürlich habe ich Mitleid mit ­meiner Familie für das, was sie ­erleben ­musste, aber trotzdem waren sie in Teilen auch die Exekutive eines verbrecherischen Regimes. Bei aller ­Empathie für meine Familie, natürlich stehe ich auch auf der Seite der Verfolgten. Ja, ich habe mir durchaus Sorgen gemacht, wie das Buch wahrgenommen wird. Inzwischen kann ich aber aus den Reaktionen sehen, dass es richtig verstanden wird. Das ist ja ein anderes Buch als die Geschichte einer Holocaustüberlebenden. Aber mir ging’s darum nachzuvollziehen, wie die Leute in diesen Jahren gedacht und warum sie alle bei diesem System mitgemacht haben.

Deshalb ist das Buch so brisant, weil wir gerade wieder in die Gefahr geraten, uns in der Täterrolle wieder­zufinden.

Meines Erachtens sind viele von uns da schon längst.

Das Buch bekommt ziemlich viel Aufmerksamkeit . . .

Ich glaube, die Leute verstehen, dass ich sehr viel Zeit investiert und versucht habe, es "richtig" zu machen. Die positive Resonanz ist ein unglaubliches Geschenk. So viele Leute ­kamen zu den Lesungen. In Düsseldorf waren 186 Leute!

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Na ja, das ist ja auch eine Düsseldorfgeschichte. Quasi ein Stadt­führer Düsseldorf. Architektur spielt in Ihren Bildern eine große Rolle, Düsseldorf vor dem Krieg, Düsseldorf zerbombt, Stadtbilder, die man noch erkennt . . .

Das war mir wichtig. Die Häuser sind Zeitzeugen aus Stein, sie bekräftigen, dass sich das wirklich hier abgespielt hat. Die Wiedererkennung der Umgebung hilft dabei.

Sie möchten Ihre Leserinnen und Leser auch dazu anregen, sich mit ihrer ­Familiengeschichte zu beschäftigen.

Ja, das möchte ich. Jeder hat ein Aufnahmegerät, jede kann ältere Familienmitglieder fragen und das aufzeichnen. Und nach meiner Erfahrung wollen die Menschen reden, sie wissen, dass es ihnen nicht guttut zu schweigen. Wenn wir uns drüber austauschen, was passiert ist, dann verbindet uns das auch wieder mehr. Ich mache mir große Sorgen über das Auseinanderdriften der Gesellschaft. Ich glaube, das müsste gar nicht so sein. Es gibt so viel Verbindendes.

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Schon komisch, dass es einem nicht egal ist, auf welcher Seite die ­eigenen Verwandten standen.

Es gibt eine interessante Studie: "Opa war kein Nazi", da geht es um Familien­- erinnerungen. Erschreckend, wie die oft verdreht werden. Da hat der SA-Mann Juden versteckt . . . Es ist eben schwer zu ertragen, dass man als Kind vielleicht auf dem Schoß von einem Mörder gesessen hat. Und wie geht man mit der Familienloyalität um? Dieses Schweigen in der Gesellschaft hat zu einer Art Verstopfung geführt. Alle haben jetzt ein enormes Bedürfnis, darüber zu reden, was ­früher war, wo wir herkommen. Diese großen Fragen definieren uns ja. Und wenn es da Lücken gibt, fangen wir an zu schwimmen.

Was ist Ihr nächstes Thema?

Das eine ist ein Projekt, das Zeitzeuginnen und Illustratoren zusammenbringt. Zeichner fragen ja anders, ­wollen von Genoziden manchmal andere Details wissen als Journalisten. Ich arbeite dafür mit einem syrischen Flüchtling zusammen, der seit 2015 in Den Haag lebt. Für ein anderes Projekt erzähle ich, auch in Zusammenarbeit mit dem Haus der Geschichte in ­Düsseldorf, von der Sammlung Abresch aus Wesel: über einen evangelischen Pfarrer, der Gegenstände gesammelt hat, die Menschen nach dem Krieg geholfen haben, weiter­zuleben. Und danach zeichne ich meine Familiengeschichte weiter!