Fachkräftemangel: So wird das Handwerk attraktiver
Schluss mit dem Rumgebrülle
Der Fachkräftemangel ist auch im Handwerk spürbar. Was hilft: Anderer Umgangston, bessere Arbeitszeiten, mehr Frauen, weniger Chaos und weniger Dünkel bei Akademikereltern. Wir haben ein paar Ideen unter die Lupe genommen.
Nina Weber, Dachdeckerin, auf dem Dach der Heilig Kreuz Kirche in Bad Kreuznach
Nina Weber ist prämierte Dachdeckerin. Hier auf der Heilig-Kreuz-Kirche in Bad Kreuznach. Ihr Chef schreit seine Leute nicht an
Gordon Welters
Tim Wegner
Ines John
02.10.2023
17Min

Der Beruf Zimmerer an sich ist klasse, aber der Lehrbetrieb war grässlich – so fasst Bo Wehrheim, 31, zusammen, was er erlebt hat. Morgens, wenn der Chef jemanden über den Hof in Richtung Toilette gehen sah, brüllte er: "Ausgschissen zur Arbeit kommen!" Arbeitsrechtlich geht das gar nicht, das wusste Bo Wehrheim schon damals, vor gut zehn Jahren, als er nach dem Abitur die Ausbildung zum Zimmerer machte. Aber ­damals konnte man noch nicht so leicht den Betrieb wechseln wie heute, wo alle händeringend Auszubildende ­suchen. Und wäre es woanders besser gewesen?

Also biss sich Bo Wehrheim durch. Und ertrug weitere Sprüche wie: "Arbeitsschutz ist was für Weicheier." Wer sich beschwerte, wurde angeraunzt: "Bist du ein Zimmermann oder ein Wimmermann?" Dabei mag er das Zimmern: "Man kann so viel anfangen, wenn man Bescheid weiß über Statik, wenn man weiß, wie Strukturen halten." Er hat inzwischen auch schon Theaterkulissen gebaut und eine Kirche. Aber nicht im damaligen Betrieb, sondern in einem Kollektiv von selbstständigen Handwerksleuten.

Früher: "Azubis wurden vor Kunden gefaltet und rasiert"

Der miese Umgang im Handwerk, verharmlosend ­"rauer Ton" genannt, Stephan Rech kennt ihn. Der Geschäftsführer eines Betriebs für Heizung und Sanitär in Kassel hat die Firma von den Eltern übernommen, sein Vater habe noch den alten Führungsstil gelebt: "Da ­wurde angebrüllt, da wurde runtergemacht, Auszubildende ­wurden vor Kunden gefaltet und rasiert." Er habe ein paar ältere Mitarbeiter, "die ticken noch so". Deshalb übt Rech mit den Azubis, Monteuren Rückmeldung zu geben, wertschätzende natürlich.

Der Firmenchef arbeitet am Kulturwandel. Und das muss er auch. Denn Fachkräfte und auch Auszubildende sind mittlerweile so rar im Handwerk, dass sie sich aus­suchen können, wo sie arbeiten. "So einen harten Wett­bewerb um Arbeitskräfte sind die Betriebe nicht gewöhnt", sagt der Ökonomieprofessor Enzo Weber, der am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung die Arbeitsmarkt­entwicklung untersucht. "Aber dieser Wettbewerb ist was Tolles", es könne doch niemand die Massenarbeitslosigkeit von 2005 zurückwollen.

Tim Wegner

Christine Holch

Christine Holch, Chefreporterin, hat eindeutig mehr ­Geduld mit ­widerspenstigen Texten als mit ­wider­spenstigen ­Materialien. Daher bewundert sie die Leute im ­Handwerk sehr. (Dübeln und Hämmern kann sie aber schon.)
Ines John

Gordon Welters

Gordon Welters, Foto­graf, liebt es, in anderer Leute Lebensrealität reinschauen zu dürfen. Natürlich war er jetzt mit auf dem Kirchendach. Und er genoss es, dass der Koch ihn seine Spezialitäten verkosten ließ.

Enzo Weber kann in fünf Minuten erklären, was auf dem deutschen Arbeitsmarkt los ist: Zwar werden seit Jahren immer mehr Arbeitskräfte gebraucht, gleichzeitig standen bislang aber auch immer noch mehr Arbeitskräfte zur Verfügung – vor allem, weil so viele Menschen zu­wanderten und weil mehr Frauen und Ältere arbeiten.

Der Bedarf wird nicht weniger. Weber zählt auf: Wegen der Alterung brauchen wir mehr Leute für Pflege und Gesundheit, wegen der Energiewende mehr Leute im Handwerk und wegen Kitaausbau und Ganztagesanspruch in Schulen mehr Erziehungskräfte.

Bislang ging das gut: Es gab mehr Arbeit und zugleich mehr Arbeitskräfte. Aber in den nächsten Jahren gehen mehr Menschen in Rente. Um allein den Schwund auszugleichen, müssten jedes Jahr 1,5 Millionen zuwandern. Aus der EU werden nicht mehr so viele Menschen kommen, denn die EU-Länder altern auch, sagt Weber, Polen noch mehr als Deutschland. In Zukunft werden Menschen aus Lateinamerika kommen müssen, aus Asien und Afrika. Eine Herausforderung.

Was noch helfen würde? Zum Beispiel, dass Menschen länger arbeiten können, dass mehr Frauen arbeiten, dass man Technologie einsetzt. Womöglich würden Arbeitskräfte länger im Job bleiben, wenn sie anders arbeiten könnten: flexibler in der Arbeitszeit, kräfteschonend . . .

Anziehend: 4-Tage-Woche und eine gute Unternehmenskultur

Viele Arbeiten im Handwerk sind körperlich anstrengend, sagt Stephan Rech, Chef von Reuse Haustechnik: Mal müsse man sich unter Küchenspülen zwängen, mal ­montiere man schwere Abwasserrohre unter einem Bahnhof oder schließe einen wuchtigen Heizkessel an.

Damit sie freitags freihaben, arbeiten die Beschäftigten bei Reuse Haustechnik jetzt montags bis donnerstags etwas länger

Wie ließe sich das Leben der 40 Mitarbeitenden ver­bessern? Das sollte sein Team selbst herausfinden. Am ­Ende setzte sich der Vorschlag durch, die 37 tariflichen Stunden statt auf fünf Tage auf nur noch vier Tage zu verteilen. In den fünf Stunden am Freitag hatte man eh kaum was geschafft gekriegt: Erst lange Anfahrt zur Baustelle, bis dann alles hingerichtet war, war schon wieder Frühstück und alsbald Rückfahrt. Nun arbeiten sie jeden Tag eineinviertel Stunden länger, nämlich 9,25, haben dafür freitags frei. Der 24-Stunden-Notdienst blieb natürlich erhalten.

"Wir haben den freien Freitag liebgewonnen", sagt ­Stephan Rech. Ein zusätzlicher Tag Erholung und endlich Zeit für Ämter- oder Arztbesuche, für Einkäufe, Sport – und dafür, dass die Kinder mal vom Papa in die Kita gebracht werden. Auch der Chef hat freitags nun frei. Dann geht der 54-Jährige seinem Zweitberuf nach: Er inszeniert und fotografiert Hochzeitspaare.

"Wir haben den freien Freitag liebgewonnen"

Stephan Rech

Es nervt Rech, wenn er danach gefragt wird, ob die Leute nun produktiver sind. Das war nicht das Ziel, sagt er, das Ziel war, dass es den Mitarbeitenden gut geht. Vielleicht sei die Produktivität leicht gestiegen, "aber ich messe das nicht". Viel wichtiger findet er, dass jetzt einen Tag die Woche nicht 40 Personen zur Arbeit fahren – was für eine Entlastung für die Umwelt!

Nun fragen ihn Unternehmen aus ganz unterschiedlichen Branchen um Rat: Wie man es anstellt, damit es sicher klappt? Er sagt dann: "Frag doch mal dein Team. Rede mit denen! Mal ein bisschen mehr als das Übliche und nicht nur: Hier haste einen Arbeits­auftrag, sieh zu, dass du vom Hof kommst, Zeit ist Geld, hast du das Auto immer noch nicht gepackt?"

Man muss sich auch kümmern um seine Leute

Ja, bei ihm bewerben sich ausreichend Menschen um Ausbildung und Stellen. Aber das liege doch nicht an der Viertagewoche allein! Auch nicht am Jobrad, der Kindergartenbeteiligung oder an der mindestens tariflichen Bezahlung, sondern an der ganzen Unternehmenskultur. Dazu gehöre auch das Kümmern, das teilt er sich mit ­seiner Frau und dem Co-Geschäftsführer: "Sie müssen die Menschen auffangen, wenn die Freundin, der Freund weggelaufen ist, Sie müssen auch den Azubi auffangen, der nicht damit klarkommt, dass die Eltern sich trennen. Sie haben richtig viel zu tun." Erst dieser ganze Mix mache ein Unternehmen attraktiv.

Keine Nachtarbeit - und der ­Bäckerberuf wird attraktiver

Bäcker Markus Steinleitner im niederbayerischen Niederwinkling änderte die Arbeitszeit noch radikaler: Er stellte fast vollständig von Nacht- auf Tagarbeit um. Anders sah er für den Betrieb keine Zukunft. Zuletzt hatten sie ab halb zehn Uhr abends in der Backstube gestanden, die Schicht ging bis sechs in der Früh. Dann kündigten ihm zwei junge Bäcker von heute auf morgen, 24 und 25 Jahre alt. Sie könnten sich nicht vorstellen, ihr Leben lang in der Nacht zu arbeiten. 2021 war das. Und auch zwei Lehrlinge sagten, sie würden die Arbeit mögen, aber das ewige Nachtarbeiten nerve sie, sie wüssten nicht, ob sie nach der Lehre weiter als Bäcker arbeiten wollten.

Steinleitner hat überlegt und überlegt und dann beschlossen: Es muss möglichst viel Arbeit am Tag erledigt werden können. Also trennte er die Teigherstellung vom Backen. Die Teige werden tags gemacht, dann ruhen sie, nachts müssen die Backwaren nur noch in den Ofen geschoben werden – das machen freiwillig zwei Bäcker, für die dieser Rhythmus gut passt. So können die elf ­Filialen am Morgen mit frischer Ware beliefert werden. Die ­normale Tagschicht beginnt nun um sechs.

Langes Ruhen macht das Brot besser

Die Arbeitszeiten wurden angenehmer und das Brot ­sogar noch besser: weil der Teig noch länger reifen ­konnte, als er ohnehin schon bei Steinleitners reift. Steinleitner arbeitet mit Natursauerteig. "Wie früher", sagt der Bäcker: In den Teig kommen nur Mehl, Wasser, Salz, wenn nötig Hefe. Die Mikroben im Teig haben viel Zeit, das Mehl umzuarbeiten – das bringt Geschmack und macht das Brot besonders bekömmlich.

Die Teige werden bei der Bäckerei Steinleitner nun tagsüber produziert, nur fertig gebacken wird noch nachts

Anfangs waren 90 Prozent der Beschäftigten dagegen, die Nachtarbeit auf den Tag zu legen. Vor allem, weil sie nicht auf die Nachtzuschläge verzichten wollten, das waren pro Person bis zu 600 Euro netto im Monat. Also sicherte ­ihnen Steinleitner zu, die Nachtzuschläge aus­zugleichen. Kollegen hätten ihn für verrückt erklärt. Aber unterm Strich habe er nicht mehr Kosten. Weil er, noch eine ­Neuerung, die Öfen nun immer vollmacht: Er backt die für mehrere Verkaufstage benötigten Sorten in einer Charge zur Hälfte vor; für den jeweiligen Verkaufstag wird von dieser Charge dann nur so viel fertig gebacken, wie die Filialen brauchen. Das spart Arbeit und Unmengen an Strom. Heute wolle niemand mehr in die Nacht zurück.

"Eigentlich könnten alle Bäckereien auf Tagarbeit umstellen. Man braucht halt mehr Teiggefühl"

Markus Steinleitner

Könnte jede Bäckerei auf Tagarbeit umstellen? Eigentlich schon, meint Steinleitner. Von Vorteil sei natürlich, viel Kühlfläche zu haben, weil die Teige lange ruhen. Aber ansonsten? "Es braucht halt mehr Teiggefühl." Noch muss es sich herumsprechen, dass man bei ihm nicht nachts arbeiten muss, aber er hat schon einige vielversprechende Anfragen von jungen Leuten erhalten.

Legen Akademikereltern ihren Dünkel ab, haben ihre Kinder freie Wahl

Zwar entscheiden sich mittlerweile fast die Hälfte der ­jungen Leute nach dem (Fach-)Abitur statt für ein ­Studium lieber für eine berufliche Ausbildung – nur eben nicht ­unbedingt im klassischen Handwerk. Vielmehr wählen sie kaufmännische Berufe oder Augenoptik, Fotografie, Mediengestaltung . . .

Der Zentralverband des Deutschen Handwerks fährt derzeit eine Imagekampagne fürs Handwerk. Auf einem der Plakate eine junge Frau mit leicht trotzigem Blick, ­daneben groß der Satz: "Was gegen Handwerk spricht? Meine Akademikereltern."

Johannes Oh-Havenith hat sich gegen seinen Vater durchgesetzt. Der Vater ist Chefarzt. Sohn Johannes brach mit 17 das Gymnasium ab, hing zu Hause rum ohne Plan, kiffte viel, machte schließlich drei Freiwilligenmonate in Slowenien in einem sozialen Projekt, sah dort, wie schlecht sich die anderen Freiwilligen in seiner WG ernährten ("nur Nudeln"), fing an, für sie zu kochen, preiswert, aber mit Gemüse – und kam nach Deutschland zurück mit dem Wunsch, Koch zu werden.

Daraufhin "knallte es" zwischen Vater und Sohn, oft. Erzählt der Vater. Heute schäme er sich für sein Denken und Verhalten damals. Für seinen Dünkel. Dass er fand, der Sohn sei "viel zu intelligent" für so einen Beruf, der Sohn müsse studieren. Dass er nicht das Vertrauen in den Sohn hatte, dass der seinen Weg findet. Er verstand nicht, dass der Sohn anders ist, als er selbst in dem Alter war. Der Vater hatte vor lauter Wissbegier gleich mehrere Studienfächer mit Examen abgeschlossen.

Heute sagt der Vater über den Sohn: "Er hat früh eine andere Reife gehabt als ich, im Grund ist er dem Leben viel näher. Er ernährt Menschen." Er bewundert, wie der Sohn mit gerade mal 24 schon ein ganzes Restaurant managt und am Wochenende 200 bis 300 Essen kocht, nur mit einem Leihbeikoch und zwei tadschikischen Helfern. Aber der Vater ist wegen der Arbeitsbedingungen auch in Sorge um sein Kind: "Das ist so furchtbar hart, nur Männer, wie im Krieg, lange Arbeitszeiten, schlecht bezahlt, nervlich anstrengend, Arbeit im Sekundentakt."

Gute Arbeit freundlich einfordern – geht doch, sagt der junge Koch

Ja, er arbeite viel, sagt Sohn Johannes, 60, 70 Stunden in der Woche. Seit kurzem ist er Küchenchef. Immerhin bekomme er die Überstunden von den Restaurantbesitzern bezahlt, das sei völlig unüblich in der Gastronomie. "Hätte ich mir ein angenehmes Leben gewünscht, hätte ich was anderes gemacht; aber das wäre ja langweilig."

Er sei glücklich gerade. Büro würde für ihn nicht funktionieren. Schon mit der Schule war er sehr unzufrieden. Auch deswegen habe er viel Gras geraucht. "So süchtig, wie ich nach Drogen und Medien war, war es gut, dass der Beruf mir all meine Zeit und Energie wegnahm. Das Kochen ist eine unfassbar heilsame Tätigkeit. Die Konzentration, die man dafür braucht! Das Feingefühl, das man am Gemüse trainieren muss. Ich bin froh, dass ich mit 17 angefangen habe, effektiv Dinge zu tun."

Seine Ausbildung in der Sterneküche sei hart gewesen. Hart war, dass er damit konfrontiert wurde, wenn er was schlecht gemacht hatte. "Das war das erste Mal, dass es eine Bedeutung hatte, wenn ich etwas nicht gut machte. Die Schulnoten waren letztlich egal gewesen. Aber dem Chefkoch darf es nicht egal sein, wenn ich schlechte Arbeit mache." Was er aber für unnötig hält: dass man angeschrien und manchmal auch mit Sachen beworfen wird.

Das mache er anders, als 24-jähriger Chef. Er sage ­seinen beiden tadschikischen Helfern durchaus, wenn die Salate, die sie anrichten, "scheiße aussehen". Zu symmetrisch! Die Kräuterspitze mittig obendrauf! Geht gar nicht. "Chaos sieht lecker aus. Ungerade Zahlen sehen lecker aus. Aber das verstehen meine Leute nicht, sie sind ja keine gelernten Fachkräfte. Jetzt sieht der Salat halt manchmal schlecht aus, dafür sind meine Leute glücklich."

Bloß kein "ausgebranntes Arschloch" werden!

Sein Traum: zwei Restaurants nebeneinander. Eins davon eine Art "Suppenküche" für Leute, die nicht mehr als fünf Euro ausgeben können, am besten mit einem wohl­tätigen Träger, dort würden viele Leute ausgebildet. Im anderen gäbe es "anständiges Essen mit kreativem Anspruch". In 15 Jahren habe er vielleicht das ­Fachwissen dafür, das nötige Startkapital und genug Freunde, die ihm helfen. Denn das weiß er längst: "Ein Restaurant zu ­betreiben, ist ein sehr schlechtes Geschäftsmodell. Außer man verkauft Döner, Pizza, Pasta. Je besser man kocht, desto schlechter ist die Bilanz. Weil man einen höheren Warenaufwand hat und besseres Personal braucht."

Johannes Oh-Havenith, Chef in der Küche der Gutschenke Burg Battenberg: "Das Kochen ist eine unfassbar heilsame Tätigkeit. Die Konzentration, die man dafür braucht!"

An einem vor allem wolle er noch arbeiten: "Wie ich mein Leben als Koch nachhaltig aufbaue. Damit ich in zehn Jahren nicht ein ausgebranntes Arschloch bin. Solche Exemplare habe ich genug kennengelernt."

Mit einem einzigen Mitschüler vom Gymnasium ist er weiterhin befreundet. Der hatte unfroh eine Ingenieurwissenschaft studiert, saß dafür meist vor dem ­Computer, brach schließlich das Studium ab. Jetzt lernt er Mechatroniker für Kältetechnik. Und sei glücklich, Johannes Oh-Havenith zitiert ihn: "Endlich mach ich was, was man sehen und anfassen kann."

Ein Studium macht nicht alle froh

Ein Studium zahlt sich fürs Lebenseinkommen ­meistens aus. Aber man kommt auch mit den Fortbildungen ­"Meis­ter" oder "Techniker" oder "Fachwirt" weit. Je komplexer die Aufgaben, je größer die Personalverantwortung, desto höher in der Regel die Entlohnung. Allerdings gibt es zwischen den Berufsgruppen große Unterschiede: Eine Gastronomie mit Anspruch zu leiten oder eine Kindergruppe fördernd zu betreuen, das sind herausfordernde und verantwortungsvolle Aufgaben, entlohnt werden sie trotzdem vergleichsweise gering, trotz Personalnot.

"Ich bin froh, dass ich mit 17 angefangen habe, effektiv Dinge zu tun"

Johannes Oh-Havenith

Ein Studium macht aber auch nicht alle froh. Ein Viertel bricht wieder ab, meist nach schweren Zeiten des ­Zweifelns und auch der Scham. Wenn die jungen Leute dann vor einem Berater wie Sven Hartwig von der Handwerkskammer Frankfurt-Rhein-Main sitzen, fließen oft erst einmal die Tränen. Hartwig hilft ihnen, einen anderen Weg ins Berufsleben zu finden.

Allerdings wollen "gefühlt 99 Prozent" am Anfang eine Schreinerlehre machen. Sie stellen sich eine Schreinerei vor wie in der Kinderfernsehserie "Meister Eder und sein Pumuckl": Da werkelt Meister Eder in winziger Werkstatt im Schein einer einzigen Lampe einen halben Tag lang am Auswechseln eines Nachtkästchenscharniers ­herum. ­Heute sind die Werkstätten groß, in der Regel sind sie ­kleine Fabriken voller Maschinen, darunter Pressen für die Beschichtung, große Fräs- und Hobelmaschinen; viele der Maschinen arbeiten computergesteuert, und ­ent­worfen wird nicht mehr mit Bleistift, sondern mit ­digitalen ­Programmen.

Am Ende finden die meisten doch zu einem anderen der über 130 Handwerksberufe. Manche unterschreiben schon gleich im ersten, eigentlich nur zur Orientierung gedachten Praktikum einen Ausbildungsvertrag, weil es ihnen dort so gut gefällt. Und sie werden gern genommen. Denn sie haben schon einen Lebensweg hinter sich und trotz des Gefühls, versagt zu haben, vielerlei Kompetenzen erworben – im Studium, in den Jobs, die sie nebenher machten, in ehrenamtlichen Tätigkeiten.

Weniger Chaos im Betrieb – und ­weniger Leute wollen kündigen

Viele im Handwerk mögen ihre Arbeit. Aber nicht die Arbeitsbedingungen. Fast die Hälfte ist wechselbereit, Hauptgrund: die schlechte Organisation, die nur Stress macht. Das kam in einer Befragung durch das "Handwerk Magazin" und Jörg Mosler heraus. Mosler ist Experte dafür, wie man im Handwerk Mitarbeitende gewinnt und dann auch hält. Am allermeisten, sagt Mosler, treibe das Chaos im Betrieb die Leute in die Kündigung, noch vor mangelnder Wertschätzung und Unzufriedenheit mit der Bezahlung. Wenn sich das ändern solle, müsse man oben anfangen, beim Chef, bei der Chefin.

Die sind im Handwerk oft genug auch nicht allzu glücklich, sondern im "Mädchen-für-alles-Hamsterrad", wie Florian Volkelt das nennt. Volkelt berät Handwerksunternehmen, wie sie Arbeitsabläufe besser strukturieren, damit sich "Arbeitsglück" einstellen möge. "Denn sich um alles kümmern, das Lager aufräumen, jeden ­Mitarbeiter einweisen, 70 Handyanrufe und abends noch Angebote schreiben – das ist doch kein Leben."

Der Chef, die ­Chefin müssten delegieren lernen. "Dafür muss man als ­Mitarbeiter die richtigen Informationen bekommen. Und machen dürfen. Frage also an den Chef: Hast du alles getan, damit der Mitarbeiter seinen Job gut machen kann?" Moderne Managementmethoden, nun kommen sie auch in kleineren Handwerksbetrieben an.

Sanitär- und Heizungsbaumeister Timo Hack, 48, lernt das gerade. Sein Betrieb im südhessischen Nauheim macht viel in regenerativer Energie. 30 Beschäftigte hat er, er könnte drei weitere Fachleute gebrauchen. Kriegt er aber nicht so schnell. Sein Ziel: mit gleich viel Leuten am Ende mehr zu schaffen. Indem er die Abläufe übersichtlicher macht und die Fachkräfte effizienter einsetzt. ­"Warum muss ein gelernter Topmonteur Pakete in den Keller schleppen und auspacken? Das könnte doch ein Helfer einen Tag vorher auf der Baustelle machen, so dass der Monteur am nächsten Tag gleich seine Stärken ausspielen kann." Hilfskräfte seien eher zu finden.

Er selbst wiederum arbeitet zum Beispiel keine ­Reklamationen mehr ab. Das machen die Mitarbeiter, die es verbockt haben – und die dürfen dann auch Entscheidungen treffen. Dafür nimmt er sich die Zeit für 30 ­Mitarbeitergespräche. Nicht so üblich im Handwerk.

Nur in eine Richtung schaut er nicht, wenn er neue ­Azubis und Fachkräfte gewinnen will: Frauen. "Die Arbeit ist zu schwer", sagt er. Nicht dauernd schwer, aber immer mal wieder.

Gelenke ruinieren muss nicht sein. Mit Exoskelett geht vieles leichter

"Aber Männer finden es heute auch nicht mehr so toll, sich den Rücken kaputtzumachen", sagt Christina Völkers von der Handwerkskammer in Stade, wo sie die Frauen­förderung koordiniert. Und es gibt für viele schwere Arbeiten mittlerweile Maschinen – einen elektrischen Treppensteiger etwa, der schwere Thermen die Treppen hochbringt. Oder Exoskelette.

Das sind Außenskelette wie die von der Firma Ottobock. Man zieht sie wie einen Klettergurt an und wird fortan unterstützt. Im Handwerk erleichtern sie bislang vor allem das Überkopfarbeiten – wenn man Sprinkler befestigt, Decken streicht oder Kabel über Kopf verlegt. Man muss dann nicht das Gewicht der Arme und der Geräte tragen, sondern kann die Arme bequem in Halterungen ablegen, das Gewicht wird dann von den Schultern auf die Hüften geleitet. Sieht futuristisch aus, ist aber rein ­mechanische Seilzugtechnik.

Aber wer schnallt sich so ein Teil um? Nadine Bernhardt, die Sprecherin des Kooperationspartners Hilti, sagt: "Es ist anfangs ungewohnt, aber dann ist es für die Leute immer ein Erlebnis. Sie sagen: Hey, ich kann ja auf einmal abends noch Sport machen!" Kürzlich befragte Hilti Betriebe, die Exoskelette gekauft hatten (Stückpreis etwa 1800 Euro): Ist es euch unangenehm, wenn andere sehen, dass ihr das anhabt? 90 Prozent der Männer sagten: Mir doch egal. Denn sie schaffen mehr und sind am Ende ­weniger kaputt. Kurzum: Exoskelette könnten ein ­Mittel sein, um Fachkräfte länger im Beruf zu halten. Oder Frauen den Weg in Handwerksberufe zu ebnen.

Frauen können Handwerk – oft sogar ganz hervorragend

Und sollte es mal wirklich kein Gerät geben für ­schwere Arbeit, "dann hilft man sich doch untereinander, die ­Jüngeren machen das längst so", hat Christina Völkers von der Handwerkskammer Stade beobachtet. Frauen würden auch gern unterschätzt. Denn dass sie körperlicher ­Belas­tung gewachsen sind, bewiesen sie ja nun täglich in den Pflegeberufen.

Falsch auch die Behauptung, man könne keine Frau einstellen, weil man dann eine zweite Toilette einrichten müsste. Muss man nicht. Seit Jahrzehnten steht im Gesetz: Toiletten und Waschräume müssen getrennt benutzt ­werden können. Gibt es einen Schlüssel, ist alles okay.

Nina Weber richtet mit Schieferhammer und Haubrücke freihand die schuppenförmigen Decksteine aus Schiefer zu. Auch Metallarbeiten muss sie können

Dass zuletzt endlich doch Frauen in männlich dominierten Handwerksbetrieben auftauchten, kam für die Frauenförderin Christina Völkers unerwartet, nach so vielen Rückschlägen. Es hatten ja bereits in den 80er ­Jahren Initiativen der Frauenbewegung fürs Handwerk geworben, erzählt Völkers, "dann sind die jungen Frauen ins Handwerk gegangen – und ganz schnell wieder raus". Sie wurden nicht ernst genommen, stattdessen sexistisch bedrängt. "Da war erst mal verbrannte Erde."

Anfang der 2000er Jahre begann dann der Fach­kräftemangel im Handwerk deutlich zu werden. Das Image der Berufe war schlecht. Immer mehr Söhne wollten den Betrieb nicht übernehmen. Auf einmal fragten Väter, die noch nie eine Frau eingestellt hatten (außer fürs Büro), ihre Töchter. "Da wurden die ersten Frauen im Handwerk sichtbar", sagt Völkers "die hatten es nicht leicht, aber sie haben was aufgebrochen. Die sind jetzt zwischen 45 und 55 Jahre alt." Seit wenigen Jahren sieht sie eine neue Generation: junge Frauen, die vorher keinen Bezug zum Handwerk hatten. Die selbstbewusst sind. Und richtig gut.

Wieso langweiliges Büro, wenn auch spannendes Dach möglich ist?

So wie Nina Weber in Erden an der Mosel. Sie hatte Fach­abitur gemacht, wollte aber nicht studieren – "ich bin nicht so der krasse Lerntyp". Stattdessen machte sie eine Ausbildung beim Versicherungsberater ihrer Eltern. "Auf dem Land geht frau ins Büro", sagt sie trocken. Langweilig war ihr da. Vielleicht doch was Handwerkliches? Sie hatte immer gern in der Hobbywerkstatt des Vaters gewerkelt. Das Dorf ist klein, 400 Leute, man kennt sich, "mach doch ein Praktikum bei uns", sagte Anne Berg vom örtlichen Dachdeckerbetrieb.

Das Praktikum gefiel Nina Weber. Und es macht sie glücklich, dass sie sagen kann: "Ich hab die Kirche hier im Dorf gedeckt." Der Betrieb Berg Dach + Schiefer deckt zu 80 Prozent Schieferdächer, oft von Kirchen oder denkmalgeschützten Villen. Jetzt ist die 26-Jährige Gesellin. Genauer: Sie ist Deutschlands zweitbeste Dachdeckerin. Denn vergangenes Jahr hat sie beim Leistungswettbewerb des Deutschen Handwerks den zweiten Platz gemacht. Auch den ersten Platz errang eine Frau. Nächstes Jahr reisen die beiden als Team Deutschland zur Dach­decker-Weltmeisterschaft.

Für Dachdeckermeister Markus Berg, 42, war Nina die erste Auszubildende in seinem Betrieb, aber er und ­seine Frau probieren gern was aus, erzählt er. Natürlich sind sie auf Instagram; und schon seit zwei Jahren verteilen sie die Wochenarbeitszeit auf vier Tage. Denn es gebe ja noch was anderes im Leben als Arbeit, sagt Markus Berg, seine Kinder zum Beispiel. Er findet Tradition wichtig, aber auch Technik auf der Höhe der Zeit und natürlich Arbeitsschutz. Jüngst haben sie einen riesigen Autokran mit Elektroantrieb gekauft, der bringt alles Material an jede beliebige Stelle auf dem Dach. Er achte auch darauf, dass er lobt. So einen Choleriker, wie er ihn selbst als Chef gehabt hatte – "das geht gar nicht mehr".

Nina Weber hat inzwischen den Staplerschein gemacht, den Kranschein, einen Bleilehrgang für runde Gauben, Vorarbeiterseminar, Reetdachdecken, sie kann mit der Drohne Objekte abfliegen, um Aufmaße zu erstellen – und jetzt ist sie für neun Monate im Meisterlehrgang. Mit dem Stipen­dium, das sie als Preis im Wettkampf gewonnen hatte.

Leseempfehlung

Ist sie nun eigentlich schwächer als die Männer? Sie lacht und erzählt: Neulich sollte der Azubi Eichenbretter tragen. Schaffte er nicht. Sie aber.

Wenn jetzt noch Teilzeit im Handwerk möglich würde, das wär’s, sagt Frauenförderin Christina Völkers in Stade, ­damit wäre den Müttern geholfen (denn die sind es allermeist, die für die Kinder reduzieren wollen). Es müssten doch gar nicht immer alle mit auf die Baustelle, sagt Völkers, sondern dann ist eine Handwerkerin eben Kundendiensttechnikerin, das lässt sich gut terminieren. "Die Handwerksbetriebe müssen sich bewegen. Sonst können sie dicht­machen. Es ist dumm, auf Frauen zu verzichten."

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Sehr geehrte Damen und Herren,

ganz herzlichen Dank für diesen Artikel - er ist für meine Tätigkeit als Schülerpate (Beratung für Praktikas/Ausbildung) sehr hilfreich. Das "Gebrülle" während meiner Ausbildung als Koch hat dafür gesorgt, dass ich diesen Beruf nicht ausübte - und auch niemanden empfohlen habe!
Werde jetzt Schülern/-innen wieder dazu raten können.

Mit besten Grüßen

Hans J. Wissner

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Guten Tag,

ich lese Ihre Zeitschrift recht gerne, manchmal sind interessante Artikel enthalten.

Ich habe 1984 Maurer gelernt, 1999 meinen Meister gemacht und seit 21 Jahren bin ich selbstständig mit ca. 12 Mitarbeitern (varriert)

Der Artikel . " Schluss mit Rumgebrülle" hat mit der von mir erlebten Realität nichts zu tun und ist einfach schlampig recherchiert.
Hier wurden nur Klischees und Vorurteile vermengt, von Frau Holch, die leider über wenig Insiderwissen verfügt.

Sicherheitsausrüstung ist schon seit vielen Jahren gang und gäbe.
Mitarbeitergespräche sind nicht so üblich wird behauptet.
Dieses rumgebrülle findet nicht statt.
Jedenfalls nicht mehr als in anderen Branchen.
In meiner Lehrzeit war es teilweise noch etwas rauer, aber nie so, wie Frau Holch es uns weismachen will.

Und ihr Fazit 4 Tage Woche ist das Allheilmittel, ist auch purer Unsinn.
Die Bereitschaft zur körperlichen Arbeit ist in der Jugend nur noch rudimentär vorhanden.
Darunter leiden ja auch die Pflegberufe.

Wenn ich zu einem christlichem Thema schreiben müßte, käme wahrscheinlich etwas ähnlicher heraus.

Frau Holid scheint verfangen zu sein in Ihrem Weltbild, das Handwerker eher doof sind und sich primitiv verhalten.

Aufgrund dieser Vermutung eine Titelstory zu schreiben ist dann nur schade.

Freundliche Grüße

Stephan Klinger

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Sehr geehrte Frau Holch,

Ihren Artikel zum Fachkräftemangel fand ich ausgezeichnet, besonders auch wegen der Frauen Themen.
Einzige Lücke war die Position der Frauen in der DDR im Handwerk.

Beste Grüße
Monika Dirk

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Sehr geehrtes Redaktionsteam,
heute kaufte ausnahmsweise ich den Kölner Stadt-Anzeiger, dem die Oktoberausgabe Ihres Magazins beilag.
Ich las begeistert Ihre sehr interessanten Beiträge, vor allem den Bericht zum Thema " junge Leute im Handwerk- bloß nicht ins Büro" und die Vorstellung des Buchs "Love around the World" , das ich mir sofort bestellte.

Die Bandbreite Ihrer Artikel im Magazin ohne die heute üblichen allgegenwärtigen "Anglizismen" fand ich absolut begeisternd und möchte mich für die exzellente journalistische Arbeit bedanken!

Mit freundlichen Grüßen

Ruth Neuburg

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Sehr geehrte Frau Holch,
endlich wieder ein langer Artikel von Ihnen, den ich mit Vergnügen gelesen habe. ( Ich muss gestehen, dass ich seit Ihrem Artikel über Klima, Dachbegrünung etc. immer wieder geschaut habe, ob sie was geschrieben haben…)
Wieder Kompliment für diesen neuen Artikel. Sie nehmen einen mit wie auf einer weichen Welle und man kann nicht mehr aufhören zu lesen. Vielen Dank dafür.
Haben Sie schon einmal daran gedacht, ein Buch zu schreiben? Bitte sagen Sie mir Bescheid, wenn es soweit ist.

Viele Grüße, Frau Chefreporterin!
Ihre
Monika Lindenberg

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Sehr geehrte Frau Ott, sehr geehrte Frau Holch,

Handwerk ist en vogue. Es kommt in Tagesthemen vor und in der Bild-Zeitung. In der FAZ und im podcast des Deutschlandfunks. Und in der Politik. Vielleicht liegt es daran, dass durch Corona, Inflation, Klimawende und Krieg in Europa manche Selbstverständlichkeit eben nicht mehr selbstverständlich ist. Auch eine Handwerkerleistung ist nicht mehr selbstverständlich, weil, ja, weil es in den letzten Jahren zum Beispiel an Material und Ersatzteilen fehlte. Und ganz besonders, weil es zu wenig kluge Köpfe in den Betrieben gibt. Die vielbesungene Akademisierung hat dazu geführt, dass saubere Hände wertiger sind als schmutzige. Und dann ist da noch die Frage der Selbstständigkeit. Wie erstrebenswert ist es in Deutschland, Unternehmerin oder Unternehmer zu werden? Wird man eher wert- oder geringgeschätzt? Wenn ich sehe, was unsere Meisterinnen und Meister jeden Tag in ihren Handwerksbetrieben leisten, dann bin ich immer wieder aufs Neue beeindruckt. So. Genug der langen Vorrede, die Sie eh schon oft genug gehört haben.

Ich möchte mich einfach nur bedanken für ein klasse umgesetztes Titelthema! Das, was Sie, sehr geehrte Frau Holch, geschrieben und der Fotograf Gordon Welters in starken Bildern umgesetzt haben, ist wirklich außergewöhnlich! Sie sind in der Reportage weder der Versuchung erlegen, ein Bild des Handwerks zu malen, das leicht romantisch verklärt als Urzustand der Nachhaltigkeit und einzig sinnvolle Zukunftsvision zu sehen ist. Noch haben Sie kritisch-destruktiv die Schattenseiten des Handwerks, seiner Betriebe und Strukturen überbetont. Ein durch und durch fairer, tiefschürfender und bestens recherchierter Artikel. So!

Beste Grüße

Axel Fuhrmann

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Die chrismon wird immer besser! Knüller der große und so wichtige Beitrag "Schluss mit dem Rumgebrülle" in Nr. 10.2023! Einfach weiter so!

Karl Schreiber

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Sehr geehrte Damen und Herren,

vielen Dank für Chrismon 10/2023. Ein tolles Heft, das mir gut tat. Den Artikel „Schluss mit dem Rumgebrülle“ möchte ich jedem Arbeitgeber ans Herz legen. Da werden viele innovative Ideen aufgezeigt, wie Probleme gelöst werden können, wenn man nur offen dafür ist, die eingefahrenen Wege zu verlassen.

Besonders wichtig war mir aber der Artikel „Wie beendet man einen Krieg? - Was uns der Westfälische Friede von 1648 lehren kann“.
Denn leider ist das Thema aktueller denn je, auch wenn es genau genommen im aktuellen Konflikt zwischen Israel und Palästina bzw. der Hamas mehr um die Frage geht: Wie vermeidet man die Ausweitung eines Konfliktes zum Krieg? Und auch da könnte es helfen, die eingefahrenen Wege zu verlassen. Und wiederum aus der Geschichte zu lernen.

Gestresste Menschen neigen dazu, alles durch den verengten Tunnelblick zu sehen, die lang eingeübten Flucht- und Kampfreaktionen brechen sich Bahn. Probleme in der komplexen, modernen Welt von heute können aber nur mit einem offenen, geweiteten Blick gelöst werden, einem Blick, der nicht sofort urteilt, nicht sofort einsortiert in Richtig oder Falsch, in Gut oder Böse. Denn so einfach ist es in den meisten Konflikten nicht. Die Ursachenkette ist vielschichtig und weist weit in die Geschichte zurück. Unrecht wurde zugefügt, Menschen wurden getötet, und durch Ungerechtigkeit, Ungleichbehandlung und Unterdrückung, Gewalt und Gegengewalt häuften sich Schuldkonten und Wut an, bis es nun zu diesen unglaublich gewalttätigen Angriffen der Hamas auf Israel kam. Dafür gibt es keine Entschuldigung, und natürlich ist erst einmal jener der „Schuldige“ und der „Aggressor“, oder eben auch „Terrorist“, dessen Wut sich in Form von Gewalt Bahn gebrochen hat. Nur, mit Schuldzuweisungen lassen sich Konflikte nicht lösen. Deutliche Lehren lassen sich aus den beiden Weltkriegen ziehen. Der erste Weltkrieg wurde beendet, und Deutschland wurde schuldig gesprochen (obwohl es damals wohl eher eine Mehrzahl an Schuldigen gab), es musste Gebiete abgeben und Reparationen zahlen, sollte viel von seiner Macht einbüßen.
Die Folge: Viele Deutsche waren wütend, sie fühlten sich ungerecht behandelt, sie wollten sich von dieser Unterjochung befreien, wollten zurück zu alter Macht und Größe (so wie derzeit Russland, mit anderer Vorgeschichte).
Also kam der nächste Krieg. Schon der erste Weltkrieg hatte unglaublich viele Menschenleben gefordert, der zweite übertraf ihn noch, vor allem auch wegen der begleitenden Vernichtung der Juden. Ja, auch dieser Krieg musste blutig geführt werden, bis Hitler-Deutschland so weit in die Knie gezwungen war, dass Friede möglich wurde. Aber jetzt hätte es allen Grund gegeben, in Deutschland den Schuldigen zu sehen, man hätte jetzt zum noch vernichtenderen Urteil über Deutschland ansetzen können. Aber die Siegermächte beschritten einen anderen Weg. Sie erkannten, dass vielleicht nicht alle Deutschen schuldig waren (so wie nicht alle Russen schuldig sind, nicht alle Palästinenser), und versuchten, mit Gerichten für Gerechtigkeit zu sorgen, sowie die Wirtschaft des zerstörten Landes wieder aufzubauen. Heute ist bekannt, dass dennoch sehr viele der alten Nazi-Funktionäre weiterhin in hohen Stellungen in Politik und Gesellschaft tätig geblieben sind. Wahrscheinlich war der Umfang der Barmherzigkeit, die hier geübt wurde, so gar nicht beabsichtigt, aber diese Barmherzigkeit, die sich über die Fragen nach Recht und Gerechtigkeit gestellt hat, wirkte auf Dauer stärker als die Bestrebungen der Alt-Nazis, und so konnte Deutschland zu einer neuen, friedlichen Stärke finden.
Wer nur Recht und Unrecht im Blick hat, neigt zu harschen Urteilen. Unter diesem Blickwinkel gibt es immer nur eine Antwort auf angewandte Aggression und Gewalt: Die Antwort der Waffen. Es wird aufgerüstet, Waffen werden geliefert, es werden kantige Reden gehalten über Beistand und militärische Hilfe. Aber mit jeder Waffe gibt es noch mehr Tote, noch mehr Leid, noch mehr Schuld, noch mehr Hass und Wut. Dieses Vorgehen führt zu keiner Lösung.
Um Lösen zu können, muß man weggehen vom Weg der Konfrontation, der Auseinandersetzung mit Waffengewalt, hin zu Mediation, Verhandlungen, Gesprächen. Nur auf diesem Weg kann letzten Endes die Gewalt beendet werden. Beide Seiten müssen lernen, einander zuzuhören. Es ist nötig, über die Verletzungen, die zugefügt wurden, zu reden, über die Ängste und Sorgen. Aber der „Kontrahent“ wird nicht aufgefordert, sich zu rechtfertigen oder zu verteidigen, sondern einfach nur zuzuhören. Und dann darf die andere Seite ihre Verletzungen, Ängste und Sorgen auf den Tisch legen, und erst einmal gilt es, anzuerkennen, dass das, was der andere sagt, seine Berechtigung hat, dass es zumindest nicht komplett falsch ist, auch wenn man es selbst aus dem eigenen Blickwinkel natürlich ganz anders sieht.
Und dann beginnt die mühsame Suche danach, wie man die Probleme lösen kann, mit welchen Kompromissen beide Seiten leben können.
Der Konflikt zwischen Israel und Hamas, zwischen Juden und Palästinensern, schwelt schon so lange, er harrt schon viel zu lange seiner Lösung. Die derzeitige politische Führung in Israel hat immer wieder gezeigt, dass sie an einer Lösung nicht interessiert ist. Dies hat wohl mit dazu beigetragen, dass jetzt wieder einmal die Waffen sprechen. Es ist anzunehmen, dass auch andere Mächte in Ihrem eigenen Interesse im Hintergrund gewirkt haben. Aber allein die Tatsache, dass dieser immer wieder aufbrechende Konflikt schon mindestens viele Jahrzehnte alt ist, zeigt, dass man nicht daran vorbeikommen wird, sich endlich an den Verhandlungstisch zu setzen und ernsthaft nach Lösungen und Kompromissen zu suchen. Natürlich wird es dann immer noch Menschen geben, die sich nach Rache sehnen. Es wird immer noch zu Terrorakten und Gewalt kommen, denn die gegnerischen Parteien sind sich zu nah. Aber das gemeinsame Bestreben der jeweils anerkannten Führungen muß sein, Frieden zu schaffen. Jeder Tote mehr erhöht die Wut, den Wunsch nach Vergeltung, Gerechtigkeit oder Rache. Es gibt nur eine Lösung: sich zu öffnen für Gespräche, miteinander zu reden, den Frieden zu suchen, nicht gegeneinander zu kämpfen.
Egal, wie groß und mächtig die Wut ist, es gibt eine Macht, die stärker ist, und das ist die Liebe. Aber der Liebe muß man sich öffnen, sie ist so groß, dass sie mehr Raum braucht, als ein Tunnelblick zulässt. Im Alltag scheint sie viel zu selten die Handlungen von Politikern und Führungspersonen zu leiten. Jesus war in diesem Sinne Vorbild. Er hat jene, die ihn getötet haben, nicht verurteilt. Denn ihm ging es nicht um menschliche Gerechtigkeit. Er übte Barmherzigkeit, hatte Verständnis und Mitgefühl selbst für jene, die ihn verfolgten. Und das ist wahre Größe.

Liebe Chrismon-Redaktion, Sie wissen das. Aber vielleicht können Sie angesichts dieses neuen Konfliktgeschehens noch einmal einen so großartigen Artikel zu dem Thema verfassen wie in der letzten Ausgabe. Bitte haben Sie keine Angst vor Wiederholungen. Das Kriegsgeschrei, die Forderung nach Waffen, wird viel zu oft wiederholt.

Mit freundlichen Grüßen und herzlichem Dank für Ihre Arbeit

Christina Dobslaw

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