Mein erster Arbeitstag als Ärztin begann damit, dass ich Patientinnen über die anstehende Operation aufklären sollte. Ich empfing Frauen für kleinere Routineeingriffe, aber auch Frauen mit schwerwiegenden Erkrankungen, deren Leben sich nach der Operation spürbar verändern würde. Ich musste ihnen den groben Operationsverlauf schildern und sie über mögliche Komplikationen unterrichten, musste postoperative Medikation ansetzen und gewappnet sein für jedwede Form von Fragen. Das Herz klopfte mir bis an den Hals. Wenige Tage durfte ich einer erfahrenen Ärztin zuschauen, dann ging es für mich los. Ich alleine in diesem kleinen Untersuchungszimmer mit all den Fragen und Sorgen dieser Frauen. Konnte ich ihnen gerecht werden? Meine ärztliche Kollegin bot mir natürlich ihre Hilfe an. Außerdem sagte sie ganz locker: "Und du kannst auch immer die Inga dazuholen."
Inga war Pflegerin. Sie betreute schon lange diesen Aufklärungsbereich, hatte Assistenzärztinnen und -ärzte kommen und gehen sehen. Sie hatte mich im Blick. Dafür war ich später sehr dankbar. In meiner Anfangszeit lernte ich sie lieben, denn sie war ein Fels in der Brandung und mein Joker in zahlreichen Situationen. Meist befand sie sich im kleinen Raum nebenan und kümmerte sich um die Aufnahmen. Doch ehe ich mich versah, stand sie neben mir, korrigierte falsch eingetippte Eingaben, zeigte mir, wo und wie ich meine Informationen herbekam. Mit ihrer Hilfe verstand ich, worauf es bei bestimmten Abläufen ankam und welche Patientinnen welche Art von Zuwendung brauchten.
Lesetipp: Darauf ist bei einer Patientenverfügung zu achten
Irgendwann waren wir beide so eingespielt, dass wir uns über Blicke austauschen konnten. Ihre Ratschläge erleichterten mir meinen Einstieg und meinen späteren Alltag. Bald stellte ich fest, dass nicht nur ich sie bei Fragen aufsuchte. Ihr Arbeitszimmer war der Pilgerraum von anderen Assistenten und Fachärztinnen.
Nohma El-Hajj
Die Hierarchien in einer Klinik sind meist klar umrissen, zumindest dem Anschein nach. Die Vorstellung von den heilenden Ärzten und den assistierenden Pflegekräften hat lange Tradition. Der Grundstein zu diesem Selbstverständnis wird schon im Studium gelegt. Bereits in den Einführungsveranstaltungen ließen uns manche Dozenten gern wissen, wie anspruchsvoll das Medizinstudium sei. Oder wie privilegiert wir seien, dieses Fach studieren zu dürfen. Da mussten wir schon aufpassen, dass uns Privilegierten unser Status nicht doch etwas zu Kopf stieg.
Es wurde an einem Selbstbild gewoben, das herzlich wenig mit der Realität in der Klinik zu tun hat. Dazu kommt, dass ich als Ärztin weisungsbefugt bin, sobald ich meine Approbation habe. Auch gegenüber jenen Pflegenden, die viel erfahrener sind und gewisse Situationen besser einschätzen können.
Die geglaubten Grenzen sind porös
Spätestens wenn wir Ärztinnen und Ärzte nach dem Studium in den Arbeitsalltag der Klinik geraten, stellen wir fest, dass diese geglaubten Grenzen an vielen Stellen porös sind. Hier der Arzt im weißen Kittel als Protagonist, dort die pflegende Nebendarstellerin für die Softskills: Dies verkennt schlichtweg die Logistik hinter einer Behandlung. Wenn ein Patient wieder gesund wird, ist das niemals nur ein Verdienst der Ärzte.
Ich weiß noch, wie sehr mich diese Erkenntnis an meinen ersten Tagen auf der Überwachungsstation irritierte. Bei der Visite tauschte sich mein Oberarzt mit den Pflegenden über jede einzelne Patientin aus und übersah uns frische Ärztinnen förmlich, während die Pflegekraft mit präzisem und tiefem Wissen auftrumpfte. Später war sie es, von der ich wichtige Handgriffe lernte. Ich verstand: Ohne diese kompetenten Leute wäre ich im Dschungel der Klinik aufgeschmissen.
In der Theorie gehört der Pflegeberuf zu den angesehensten Beschäftigungen in diesem Land. Menschen wissen anscheinend sehr wohl um seinen Wert. Doch nicht alle Ärztinnen und Ärzte handeln wie jener Oberarzt in der Überwachungsstation auch danach. Viele Pflegekräfte machen weiterhin die Erfahrung, dass sie von Patienten und Vorgesetzten nicht wertgeschätzt werden. Zwar wurde zuletzt eine schrittweise Erhöhung des Gehalts beschlossen, trotzdem zeigen Debatten in der Öffentlichkeit, wie wenig unsere Gesellschaft von diesem Beruf versteht.
Ich erinnere mich ungern an die öffentlich diskutierten Vorschläge, mal die arbeitslosen Schlecker-Angestellten, mal die Prostituierten, mal die Geflüchteten für den Pflegeberuf zu gewinnen, um den Personalnotstand abzumildern. Als ginge es hier nicht um einen professionellen Beruf, der einer Qualifikation bedarf, sondern um einen Job, der notfalls von allen übernommen werden könnte, die nur genug Empathie und Freundlichkeit besitzen.
In Kanada, England oder Schweden wird ganz anders darüber diskutiert. Dort hat sich der Pflegeberuf längst als moderner Gesundheitsberuf etabliert – mit mehr Verantwortung und zahlreichen Möglichkeiten, sich weiter zu qualifizieren und aufzusteigen. Viele Pflegende dort haben sich in Interessengruppen zusammengeschlossen und können sich viel effektiver für die eigenen Belange einsetzen. So begegnen sie anderen medizinischen Berufsgruppen selbstbewusst und auf Augenhöhe. In Deutschland sickert erst so langsam der Gedanke durch, wie sehr es auf gut ausgebildete Pflegekräfte ankommt.
Jeder noch so erfahrene Arzt ist auf Kooperation mit Pflegenden angewiesen
Nicht nur die Patienten profitieren von gut qualifizierten Pflegenden. Auch wir Ärztinnen und Ärzte brauchen sie, um unseren Erfahrungsschatz zu erweitern und uns auch persönlich weiterzuentwickeln. Denn es sind die Pflegenden, die die Bedürfnisse der Patienten am besten kennen, die einen Erfahrungsvorsprung und somit ein Gespür für medizinische Situationen und Notwendigkeiten mitbringen, der sehr wertvoll ist, wenn wir unsere Diagnosen stellen und Therapiepläne entwerfen. Deshalb ist jede noch so kompetente Ärztin und jeder noch so erfahrene Arzt auf diese Kooperation angewiesen. Wer sie für verzichtbar hält, stößt schnell an die eigenen Grenzen.
Ich erinnere mich an das Ende eines Eingriffs, das Operationsteam zog sich gerade zurück. Die Pflegekraft bat die Operateurin, erneut in den Bauchraum der Patientin zu schauen, da nach mehrmaligem Durchzählen noch eine Kompresse fehlte. Die Operateurin schaute ungläubig nach, entdeckte nichts und fuhr fort. Doch die Pflegekraft ließ nicht locker und beharrte erneut darauf, die bereits gesetzten Nähte zu öffnen, um nach dieser Kompresse zu schauen. Genervt tat die Operateurin wie verlangt und entdeckte schließlich doch die vergessene Kompresse zwischen den Darmschlingen.
Wenn eine Pflegekraft besonders aufmerksam ist, kann das auch die Therapie entscheidend beeinflussen. Ein Kollege erzählte mir einst, dass er einmal in die falsche Spalte geschaut habe, als er bei einer Patientin die Tumormarker kontrollierte und so einen niedrigen Wert dokumentiert hatte. Dieser hätte bedeutet, dass die Chemotherapie bei der Patientin anschlug. Letztendlich war der Wert jedoch stark erhöht. Ein Anruf der pflegerischen Kollegin, die den Fehler bemerkt hatte, ließ den Arzt seinen Fehler korrigieren. Die Chemotherapie wurde umgestellt.
Während ich diese Zeilen schreibe, frage ich mich, warum der Pflegeberuf überhaupt eine externe Fürsprecherin benötigt? Arbeit und Verdienste sind doch offensichtlich. Doch nach wie vor dominiert in vielen medialen Darstellungen das Klischee, dass Pflegekräfte vor allem selbstlos und hingebungsvoll zu sein hätten. Das prägt auch die gesellschaftliche Wertschätzung.
Selbstlosigkeit und Hingabe verdienen Respekt. Um die richtigen Leute in diesen vielschichtigen und so relevanten Beruf zu bringen, reicht das aber nicht. Die Rahmenbedingungen müssen sich verändern, die Bezahlung und die Arbeitszeiten besser werden. Dafür muss die Politik die Weichen stellen. Und wir als Ärzteschaft sollten das Thema zu unserem eigenen machen. Denn das Wohl unserer Patienten hängt an den Pflegenden.
Eine erste Version dieses Textes erschien am 2. November 2023.