Taube HNO-Ärztin
Damit du hören kannst
Veronika Wolter setzt Cochlea-Implantate ein. Und sie trägt selbst welche. Ohne die wäre sie taub
Eine Elektrode in die Hörschnecke, ein Sprachprozessor hinters Ohr: Drei Stunden dauert die Operation
Eine Elektrode in die Hörschnecke, ein Sprachprozessor hinters Ohr: Drei Stunden dauert die Operation
Juliane Haerendel
Ivo Corrà
Amelie Niederbuchner
Aktualisiert am 04.07.2024
7Min

Die Fräse surrt, es klingt wie beim Zahnarzt, nur tiefer im Ton. Chefärztin Dr. ­Veronika Wolter bohrt sich in den Schädel­knochen hinter dem Ohr der Patientin. Ein Monitor­ing-Gerät lotst sie mit akustischen Signalen nur wenige Millimeter am Gesichtsnerv vorbei. Hoch konzentriert schaut sie ins Mikroskop und fädelt mit Pinzetten eine hauchdünne Elektrode ein. "Das sieht gut aus. Wenn wir das hier so legen, verrutscht nichts", sagt sie zum Kollegen, der ihr assistiert. Ihr Ton ist freundlich, aber bestimmt.

Nach drei Stunden ist die Operation be­endet. Veronika Wolter bedankt sich beim OP-Team für die gute Arbeit und verlässt den Saal mit aufrechter Körperhaltung und kraftvollen Schritten. Draußen streift sie Kittel und Haube ab. Hinter ihren Ohren hängen zwei dünne Rechtecke aus schwarzem Kunststoff: die Sprachprozessoren ihrer Cochlea-Implantate. Ohne diese Geräte wäre sie komplett taub.

Seit Juli 2022 leitet Veronika Wolter, 41 ­Jahre alt, die Hörklinik im Klinikum München West. Sie ist Deutschlands erste gehörlose Chefärztin in einem Akutkrankenhaus und die einzige gehörlose HNO-Chef­ärztin der Welt.

Rund 13 Prozent der Chefarztstellen in Deutschland sind laut dem Deutschen ­Ärztinnenbund von Frauen besetzt, obwohl an den Universitäten deutlich mehr Frauen als Männer den Abschluss in Humanmedizin machen. Der Konkurrenzdruck an den Klini­ken ist enorm, Veronika Wolter hat ihn als Frau mit Behinderung nicht gescheut.

"Ich wurde einfach fallen gelassen"

Sie war eine der besten Schülerinnen in ­ihrer Klasse, als sie mit neun Jahren durch eine virale Hirnhautentzündung einen schweren Hörschaden erlitt. Im Innenohr verwandeln feine Haarzellen ankommende Schallwellen in elektrische Impulse und leiten sie an den Hörnerv weiter. Bei Veronika Wolter beschädigte die Virusinfektion diese Haarzellen irreparabel. Sie wurde erst schwerhörig und später taub.

Das war Anfang der Neunzigerjahre. "Inklusion" war an ihrer Grundschule in einem kleinen Dorf bei Marburg noch kein Thema. Die Mitschüler hänselten sie wegen der Hörgeräte, die Lehrerinnen wussten mit ihrer Behinderung nicht umzugehen. "Wenn ich nachfragte, weil ich etwas nicht richtig gehört hatte, lachte die ganze Klasse, und die Lehrer taten nichts dagegen. Dieselben, bei denen ich nur Wochen zuvor gute Noten schrieb, empfahlen mir plötzlich die Sonderschule. Ich wurde einfach fallen­gelassen."

Ihre Familie sagte: Andere tragen eine Brille, du trägst eben Hörgeräte

Wenn Veronika Wolter von ihrer Ausgrenzung als Kind spricht, macht sie Pausen zwischen den Sätzen und schließt die Augen – als müsse sie sich sammeln, bevor sie weiter­erzählt.

"Ich bin hörend geboren; meine Eltern und meine drei Schwestern haben mir nie das Gefühl gegeben, ich könnte mit meinem Hörschaden nicht ganz normal weitermachen. Sie sagten: Andere haben eine Brille, du hast eben Hörgeräte."
Das Problem war aber, dass Wolter selbst mit den Hörgeräten sehr schlecht hörte. "Die Klangqualität war miserabel, und meine ­Gehörgänge haben sich immerzu entzündet. Ich habe mir die Ohren blutig gekratzt. Auf die Blutkrusten musste ich dann das Hörgerät wieder draufmachen, wenn ich überhaupt etwas hören wollte."

Veronika Wolters Hörvermögen verschlechterte sich zunehmend und mit ihm auch ihre Aussprache. Sie stand zwischen zwei Welten, gehörte weder zu den Hörenden noch zu den Gehörlosen. "Ich habe mich damals vehement dagegen gewehrt, die Gebärdensprache zu lernen. Die Gehörlosenschule bedeutete für mich, von meiner bisherigen Welt isoliert zu werden."

Wolter war ein ehrgeiziges Mädchen, ­hatte immer schon Spaß an Herausforderungen. "Ich war überzeugt, dass ich auch mit meiner Behinderung werden kann, was ich will, und dass mir niemand zu sagen hat, wo meine Grenzen sind." Bis eben saß sie entspannt zurückgelehnt, jetzt rutscht sie an den Rand des Stuhls, als wolle sie aufspringen. "Die Leute müssen endlich kapieren: Taub heißt nicht dumm!" Man merkt: Gegen dieses Unrecht kämpft Veronika Wolter schon ein Leben lang. Dieser Kampf treibt sie an, seinetwegen wählt sie immer wieder den Weg des ­maximalen Widerstands.

Veronika Wolter bleibt an der normalen Schule und macht Abitur. Im Medizinstudium bekommt sie von den Professoren zu hören: "Wie stellen Sie sich das vor? Sie hören doch nicht richtig! Arzt ist ein kommunikativer ­Beruf. Das geht nicht!"

Nach 15 Jahren endlich wieder richtig hören

Sie lässt das nicht an sich ran und fährt schon als Studentin auf Kongresse für HNO-Spezialisten. Dank der Kontakte, die sie dort knüpft, wird sie in eine Studie ­aufgenommen und lässt sich 2005, mit 24, als dritte Patientin weltweit das erste voll ­implantierbare Hörgerät einpflanzen. "Nach 15 Jahren habe ich zum ersten Mal wieder richtig gehört. Ich war euphorisch!" Aber zu dem Gerät gibt es noch keine Langzeiterfahrungen, und als der Akku plötzlich schlapp macht, steht Veronika Wolter gerade als ­Assistenzärztin im OP. "Mir lief vor Angst der Schweiß runter, und ich habe gebetet, dass mich keiner der Kollegen anspricht."

Das defekte Gerät muss wieder raus, und Wolter muss zurück zu den externen Hörgeräten. Zurück zu entzündeten Gehörgängen und Blutkrusten, zurück zur inzwischen an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit.

Gleichzeitig bekommt sie den Konkurrenzdruck unter den Assistenzärzt*innen zu ­spüren: "Viele Kollegen wollten ohne Rücksicht auf Verluste vorwärtskommen. Wenn ich im OP-Saal war, drehten sie die Musik ­extra laut auf. Lippenlesen ging mit Mundschutz nicht, und ich konnte dem Gespräch im OP nicht mehr folgen. So hatten sie eine Konkurrentin weniger."

Zur HNO-Facharztausbildung geht ­Veronika Wolter ans Klinikum Hannover, das weltweit größte Cochlea-Implantationszentrum. Cochlea-Implantate können die Funktion der Haarzellen im Innenohr er- setzen. Dafür wird eine Elektrode in die Hörschnecke (lateinisch Cochlea) eingeführt und ein Empfänger im Schädelknochen unter der Kopfhaut implantiert. Im Außenteil, hinter den Ohren, verwandelt der Sprachprozessor den Schall in digitale Signale. Diese werden vom Empfänger über die Elektrode in der Cochlea an den Hörnerv weitergeleitet.

In Hannover lässt sich Veronika Wolter 2009 selbst zwei solche Implantate einsetzen. Für sie geht es bei dem Eingriff um alles oder nichts, denn mit der damaligen Technik konnte sie nach der Implantation nicht mehr zu den externen Hörgeräten zurück. "Ich saß verzweifelt und unsicher im Büro meiner Oberärztin. Was mache ich, wenn die Implantate bei mir nicht funktionieren? Dann war alles, was ich bisher geschafft habe, umsonst!" Die Oberärztin schlägt vor, stattdessen in die Forschung zu gehen, dort bräuchte sie nicht zu hören. "Ich entschied: Nein. Ich bin so weit gekommen – jetzt setze ich alles auf eine Karte", erinnert sich Veronika Wolter heute.

Mit dem Mikrofon direkt ins Implantat

Die Implantate funktionieren. Es folgen ein Jahr Hörtraining und Logopädie: Ihr Gehirn muss erst wieder lernen, Töne und Geräusche richtig zu interpretieren. Und sie muss sich wieder eine klare Aussprache antrainieren. Veronika Wolter schließt ihre HNO-­Facharztausbildung erfolgreich ab. Der Weg in die Chirurgie bleibt trotz Cochlea-­Implantaten schwer. Sie hört mit den Geräten glasklar, aber es dauert lange, bis sie einen Vorgesetzten findet, der bereit ist, ihr das Operieren beizubringen.

Professor Markus Suckfüll in München sieht in der tauben Ärztin das Potenzial ihrer persönlichen Erfahrung, nicht das Risiko eines Missverständnisses im OP. Er klemmt sich ein Mikrofon an den Mundschutz und spielt ihr die Anweisungen über eine Funkanlage direkt ins Implantat. "So habe ich ­Operieren gelernt", sagt Veronika Wolter.

2018 wird sie Oberärztin am Cochlea-­Implantatzentrum in Hamburg. Im Umgang mit den Patienten hat sie den Kollegen etwas voraus: "Ich weiß, was es heißt, immer die zu sein, die noch mal nachfragen muss, die, die bei der lustigen Bemerkung nicht mitlacht, weil sie sie nicht gehört hat. Und ich weiß, was das mit dem Selbstbewusstsein macht, wenn die Leute nicht unterscheiden zwischen nicht gehört und nicht kapiert."

Am Modell zeigt Veronika Wolter ihren Patienten, wie sie das Implantat einsetzt

Wenn Eltern, die mit ihrem tauben Baby in die Sprechstunde kommen, Wolters Implantate sehen, fragen sie verwundert: "Was, damit kann man Ärztin werden?" Dann freut sich Veronika Wolter besonders. Sie weiß, sie zeigt ihren Patienten, dass eine Taubheitsdiagnose nicht zwingend einen Weg vorgibt.

Aus ihrem privaten Kampf gegen ein Vorurteil ist Selbstbewusstsein und Mission geworden. "Das, was ich heute darstelle, habe ich als Betroffene mein Leben lang gesucht. Wenn ich als Kind einen Zeitungsartikel gefunden hätte, von ­einer Tauben, die Chefärztin wird, hätte mir das viel Kraft und Hoffnung gegeben."

Ihre Kinder lernen Gebärdensprache

Hat Veronika Wolter jemals einen ganz anderen Weg in Betracht gezogen? Einer Studie des Deutschen Schwerhörigenbunds zufolge sind in Deutschland 14 Millionen Menschen hörgeschädigt oder taub. Sie sind Teil einer lebhaften Gehörlosengemeinschaft. "Viele Menschen sind in dieser Gemeinschaft überaus glücklich. Sie haben eine eigene Sprache, eine lebendige Kultur und führen ein erfülltes Leben, ohne zu hören. Das war aber nicht mein Weg. Ich wollte mich mit meiner Behinderung in der Welt der Hörenden behaupten."

Die Gebärdensprache lernte Wolter erst, als sie mit den Implantaten wieder richtig gut hören konnte. "Erst dann ist bei mir innerlich eine Schranke hoch gegangen, und ich konnte mich für die Gebärdensprache öffnen."

Wie ein tauber Vater für sein gehörloses Kind Gebärdensprache lernt, lesen Sie hier

Ihren zwei normal hörenden kleinen Kindern bringt Veronika Wolter die Gebärdensprache bei. "Sie ­wachsen zweisprachig auf. Wenn ich zu ­Hause die Implantate abnehme, ­sage ich: Mama hört jetzt nichts, wir switchen zur Gebärdensprache." Mann und Kinder ­wohnen noch in Hamburg, sie werden aber bald auch nach München ziehen. Momentan sieht ­Wolter sie nur an den Wochenenden. "Es ist ein großes Opfer, und ich vermisse sie wahnsinnig. Zum Glück ist das bald vorbei, und wir wohnen endlich wieder zusammen."

Die Gebärdensprache empfindet sie ­inzwischen als eine Bereicherung. "Sie kann Gefühle oft besser ausdrücken als die Lautsprache." Zum Beispiel das Wort "vermissen": Veronika Wolter schließt die Augen und zieht die Hände langsam mit geschlossenen Fingern auseinander, als würde sie etwas Ganzes in zwei Stücke teilen.

Eine erste Version des Textes erschien am 18. Mai 2023.

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