chrismon: Wie sieht Streit um Sorgerecht und Unterhaltsleistungen in der Corona-Krise aus?
Katharina Grünewald: Durch Corona spitzt sich oft die Lage weiter zu. Absprachen unter den Ex-Partnern bleiben schwierig, und schnell wird das Familiengericht oder das Jugendamt eingeschaltet.
Was geht in einem Kind vor, das sich zwischen Vater und Mutter entscheiden soll?
Das Kind befindet sich in einem Gefühlschaos. Es ist traurig, wütend und hat Angst. Oftmals ist es die erste schlimme Krise für die Kinder. Sie sehnen sich nach der Liebe und Geborgenheit beider Eltern. Denn sie sind angewiesen auf die Hilfe von Vater und Mutter, sie brauchen Eltern, die darauf achten, dass das Kind Raum für seine eigene Gefühlssituation erhält.
Katharina Grünewald
Doch die Eltern streiten sich.
Ja, und wenn das Kind seinen Namen im Streit hört, denkt es oft: Ich bin schuld. Und es überlegt: Wie kann ich das wiedergutmachen? Es entwickelt hochsensible Antennen für Mama und Papa und stellt seine eigenen Bedürfnisse zurück. Die Gefahr ist, dass es dadurch den Zugang zu seinem eigenen Bauchgefühl verliert. Wenn Sie dieses Kind fragen: Was brauchst du?, dann steht das Wohlergehen der Eltern im Vordergrund: Was braucht Mama, was Papa? Es kooperiert meist mit dem schwächeren Elternteil.
Welche Reaktion irritiert Sie bei Kindern besonders?
Die Überangepasstheit eines Kindes. Diese pflegeleichten Kinder achten besonders darauf, dass sie es anderen recht machen und nicht anecken. Sie sagen nicht, was sie wirklich brauchen, sondern was die anderen gerne hätten. Wütende und auffällige Kinder dagegen machen auf ihr Leid, auf ihre schwierige Lage aufmerksam. Bei ihnen werden Lehrer und Therapeuten eingeschaltet.
"Das Kind sorgt für die Mutter und stellt seine eigenen Wünsche hintan"
Ein Beispiel aus Ihrer Praxis?
Oft ist die Urlaubs- und Weihnachtszeit schwierig, wenn das Kind, obwohl es gerne Ski fährt, nicht mit in den Skiurlaub will. Dahinter steckt vielleicht die Angst der Mutter, allein zu bleiben. Das Kind sorgt somit für die Mutter und stellt seine eigenen Wünsche hintan oder verzichtet sogar ganz darauf.
Was raten Sie?
Ich versuche, einen Raum zu schaffen für die Bedürfnisse der Eltern, die Angst der Mutter einerseits und den Wunsch des Vaters nach Urlaub mit dem Kind andererseits. Beide Perspektiven sind berechtigt, man muss sie beachten, wenn für die Erwachsenen eine Lösung gefunden werden soll.
Und das Kind?
In diesem Fall muss es aus der Verantwortung entlassen werden, aus der Fürsorge für die Mutter. Vielleicht kann die Mutter eine Freundin einladen, oder der Vater fährt zu einem anderen Zeitpunkt. Aber solange die Eltern mit ihrem Schlagabtausch beschäftigt sind, können sie das nicht konfliktfrei aushandeln. Deshalb sind so viele Menschen im Gericht und beim Jugendamt mit der Frage beschäftigt: Was ist das Beste fürs Kindeswohl?
"Der kleine Junge wird zum 'Mann im Haus'"
Dafür sind Verfahrensbeistände da.
Ja, genau. Um jedoch die komplette Familiensituation zu erfassen und die Vielschichtigkeit zu verstehen, bedarf es richtiger Detektivarbeit. Doch dafür reicht die Zeit oft nicht, die den Beiständen bei den geringen Honorarsätzen zur Verfügung steht.
In welchem Alter ist es besonders schlimm, wenn Eltern sich trennen?
Ich erlebe häufig Kinder zwischen sechs und zehn Jahren. Sie schwanken zwischen kindlichen Allmachtsfantasien und erwachsenem Verantwortungsgefühl. Wenn der Vater weg ist, glauben sie, sie könnten das mit Mama selber regeln und der kleine Junge wird zum "Mann im Haus". Sie bekommen Verantwortung, die zu groß für sie ist.
Was nehmen Sie aus Ihrer Arbeit für die eigene Patchworkfamilie mit?
Manchmal hilft das Wissen, um aus einem Schlagabtausch herauszukommen. Aber es schützt nicht davor, dass man hineintappt.