Nektarios Totikos, 27, ist stolz, an der Eliteuni in München zu studieren
Nektarios Totikos, 27, ist stolz, an der Eliteuni in München zu studieren
Sebastian Arlt
Im Kinderheim aufgewachsen: Soll man darüber sprechen?
Jetzt sagt er es: Ich war Heimkind
Als er Mitstudierende mit seinem Ehrgeiz ­befremdete, musste Nektarios Totikos sich erklären. Seit er offener mit seiner Vergangenheit als Heimkind umgeht, hat sich auch das Verhältnis zu anderen verbessert.
14.02.2023
3Min

Nektarios Totikos, 27:

Mir sind Noten wichtig, ich bin sehr ­ambitioniert, meine Bildung ist das Ticket aus meiner Misere. Aber Mit­bewohner im Studierendenwohnheim hielten mich für über­ehrgeizig. Ich hatte dort nie von meiner Geschichte als Heimkind erzählt. Das liegt doch so lang ­zurück, dachte ich, und ich bin doch mittlerweile so viel anderes: Student der Elektrotechnik, Mentor für ausländische Studierende, ich forsche zu Künstlicher Intelligenz . . .

Ich wollte nicht über meine familiären Verhältnisse sprechen – die Mutter war alleinerziehend, mit schlecht bezahlten Jobs, zum Beispiel in Küchen; der Vater hatte sich rausgezogen, wie üblich. An Geburtstagen gab es für meinen älteren Bruder und mich Tiefkühlkuchen, was ja schon was ist, aber Geschenke nur unregelmäßig.

Meine Mutter hat sich trotzdem immer Mühe gegeben, dass es uns gut geht. Und sie hat mir viel Freiheit gelassen, das war vielleicht der Grundstein für meine Neugier und ­meinen Lerneifer. Mein Bruder und ich waren beide recht gut in der Schule, wir sollten auch aufs Gymnasium.

Für mich war das Heim die Rettung

Aber als ich zehn war, zog meine Mutter mit uns nach Griechenland – sie war dort aufgewachsen, bis ihre Eltern sie mit acht nach Deutschland nachholten, aber immer hat sie ihr Herkunftsland vermisst. Diese Übersiedelung war so chaotisch, dass uns eine Freundin der Familie nach zwei Monaten zurückholte. Wir kamen ins Heim. Meine Mutter kehrte später ebenfalls zurück, und wir lebten auch mal bei ihr, als ich zwölf war.

Aber mein Bruder und ich merkten, dass wir im Heim mehr von dem haben, was wir brauchen, zum Beispiel einen Rückzugsraum, wo man Hausaufgaben machen kann. In der Pubertät habe ich ihr Vorwürfe gemacht, aber kurz vor dem Abi hörte ich auf, eine schuldige Person zu suchen. Meine Mutter ist wahrscheinlich in schlimmeren Verhältnissen aufgewachsen als ich. Sie hatte nicht das Glück, in ein Heim zu kommen.

Für mich war das Heim die Rettung, diese Wohngruppe mit acht bis zehn Kindern und Jugendlichen. Wobei mein Bruder und ich nicht so gefördert wurden, wie ich es gern gehabt hätte. Es hieß immer: Das kriegen die von allein hin, schulisch läuft ja alles perfekt. Ich hatte zum Beispiel früh Interesse am Klavierspielen und hab immer versucht, im Heim an einem schlechten Keyboard Melodien nachzuspielen. Aber erst mit 16 bekam ich den lang ersehnten Klavierunterricht bei einer sehr guten Lehrerin.

Mein Lerneifer ist mein Weg aus der Armut

Mit 16 zog ich dann in eine "Verselbstständigungsgruppe" mit vier anderen Jugendlichen. Eigentlich hab ich schon mit 16 meinen eigenen Haushalt geschmissen, auch selbst gekocht – Moussaka zum Beispiel kann ich gut.

Hej, ich bin toll, dachte ich bei der ersten Wohnungs­besichtigung, ich hab ein Abi von 1,6 – obwohl ich im Heim war, ich muss mich nicht verstecken. Aber der Vermieter fand es nicht so schön, dass keine Eltern für mich bürgen konnten. Am Ende bürgte mein Bruder, was absurd war, weil er selbst noch Student war. Danach habe ich nicht mehr über meine Vergangenheit gesprochen, auch nicht an der Uni gegenüber anderen Studierenden.

Ich hätte mir für diese Übergangsphase schon noch ­gelegentlich Unterstützung gewünscht. Aber man ist dann ein "Careleaver", also jemand, der zum Beispiel im Heim war und nun aus dieser Obhut rauswächst. Das war eine Entdeckung, dass es einen Begriff für mich gibt – und einen Verein, der unsere Interessen vertritt.

Es fühlte sich wie ein Outing an

Erst jetzt, im Masterstudium, hab ich mich im engsten Freundeskreis geöffnet. Es fühlte sich wie ein Outing an. Aber ich wurde mit offenen Armen empfangen, das war schön.

Nur im Wohnheim hatte ich bislang nichts erzählt. Dort kamen während der Corona-Zeit, als alle zu Hause lernten, immer häufiger Kommentare zu meinem Ehrgeiz. Ich sei karrierefixiert, nicht lebensorientiert. Da habe ich meine Geschichte offenbart. Dass ich Heimkind war, dass mein Lerneifer mein Weg aus der Armut ist. Es wurde dann besser zwischen uns auf dem Flur. Es war ja fast schon feindselig gewesen.

Ich arbeite wirklich viel, aber mittlerweile genieße ich mein Leben aufs Äußerste, wirklich! Das begann mit dem Auslandssemester in Istanbul – da musste ich zum ersten Mal nicht jeden Cent umdrehen. Wegen des günstigen Wechselkurses. Ich kam richtig energiegeladen zurück.

Protokoll: Christine Holch

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