Anne-Luise Lübbe (Jahrgang 1984):
Der erste passende BH meines Lebens war türkis und wunderbar. Gefunden hatte ich ihn über ein Forum, in dem Frauen als Hobby BH-Beratung anboten. Sie bestellten ihre BHs in Großbritannien, dort werden viel mehr Größen und unterschiedliche Schnitte angeboten. Brüste unterscheiden sich ja nicht nur in der Größe, sondern auch darin, wie weit das Brustgewebe unter der Achsel reicht und ob jemand gestillt hat.
Ich machte das Bra-Fitting zum Hobby. Erst beriet ich nur Frauen mit großen Brüsten, dann auch Frauen mit kleinen, die finden auch oft nichts. Wir alle kannten die abwertenden Kommentare in der Umkleide: "Nehmen Sie erst mal 20 Kilo ab" oder "Gucken Sie mal in der Kinderabteilung". Das geht doch nicht, dass eine gestandene Frau auf einen BH mit Snoopy angewiesen ist!
Damals war ich noch im Studium, Mathe und Philosophie. Dann fiel ich durch die Abschlussprüfung. So was ist eigentlich nicht möglich, wenn man mal das Vordiplom geschafft hat. Aber ich war damals in Therapie, ich hätte besser ein Krankheitssemester nehmen sollen.
Ich meldete mich beim Jobcenter, um erst mal eine Berufsausbildung zu finden. Aber 2011, kurz nach der Bankenkrise, bekam ich nur Absagen. Schließlich überlegte ich, ob ich nicht die BH-Beratung zum Beruf machen könnte. Mit 20 Seiten Konzept und 50 Seiten Markt- und Standortanalyse ging ich zu meiner Beraterin, ich hoffte auf eine Gründungsförderung. Ich schrieb zum Beispiel, dass ich oft erlebt hatte, wie Menschen durch passende BHs selbstbewusster durchs Leben gehen.
Es wurde meine schlimmste Erfahrung mit dem Jobcenter. Die Beraterin beschimpfte mich: Ich bräuchte selbst eine Beratung, ich hätte einen Minderwertigkeitskomplex, da ich nicht aussähe wie Claudia Schiffer; es sei anmaßend von mir, Menschen helfen zu wollen, das könnten nur Psychotherapeuten wie sie.
Meine Dienstaufsichtsbeschwerde kam zwar nicht durch – das Gespräch habe so nicht stattgefunden und ich sei offensichtlich nicht belastbar –, aber ich bekam einen anderen Berater. Der las meinen Businessplan und sagte: "Boah." Und dann gab es ein Jahr jeden Monat 280,50 Euro Gründungszuschuss. Ich kam mir ziemlich reich vor.
Nun besuchte ich Leute zu Hause mit meinem Köfferchen, darin die vom Forum übernommene BH-Sammlung. Bald merkte ich: Die Leute wollen nicht nur Tipps für den Kauf von BHs kriegen, sie wollen die auch bei mir kaufen. Mein erstes Geschäft waren 16 Quadratmeter in einer Bürogemeinschaft in Hannover, Hinterhof, 2. Stock, ein Paravent für die Umkleide. Nebenher jobbte ich als Coach für Social Media.
Es braucht drei bis fünf Jahre, bis jemand von der Selbstständigkeit leben kann, aber nach einem Jahr ging der Druck vom Jobcenter wieder los. Auch wenn ich noch eine Weile zum Aufstocken berechtigt gewesen wäre, meldete ich mich schließlich vom Jobcenter ab.
Danach wurde es echt prekär. Ich bot eine Dienstleistung an, die sich eher Leute kaufen, die was überhaben, und selber ging ich nach Feierabend hinter Supermärkten containern. Ich hatte Angst, dass Kundinnen herausfinden könnten, dass ich in einer WG wohne und mir Gedanken mache, was ich anziehen soll für einen Junggesellinnenabschied. Eine Freundin munterte mich auf: Nimm Klamotten ohne Löcher und ’ne schöne Kette, dann geht das schon.
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Ich bin begeistert von…
Ich bin begeistert von Louise Lübbe! Ein tolles Vorbild, wie sie sich durchgekämpft und nicht nicht aufgegeben hat. Ich wünsche ihr für die Zukunft alles erdenklich Gute!
Viele Grüße!
Steffie Haddenga