Britta Lennert* kommt eine halbe Stunde zu früh. Es ist halb neun an diesem Dienstagmorgen im Sommer 2017, als sie den Konferenzsaal im Jobcenter Aue betritt. Sie hat sich schick gemacht. Perlenohrringe, passendes Armband, dazu eine Bluse. Aber wenn man fragt, warum sie hier ist, weiß sie keine Antwort. „Meine Vermittlerin hat mich hergeschickt.“ Sie hat nicht gefragt, warum.
Ihr Blick fällt auf eine Broschüre, die vor ihr auf dem Tisch liegt. Sie zeigt das Bild einer Joggerin am Strand und das Wort: ZIEL. Darüber in weißen Buchstaben: aktive Bewältigung von Arbeitslosigkeit. Britta Lennert, 45, gelernte Strumpffacharbeiterin, will nach elf Jahren Arbeitslosigkeit endlich wieder einen Job. Aber dass es klappt, glaubt sie nicht.
Wenig später sind fast alle Stühle besetzt. Ein Fliesenleger ist da, der mit Depressionen kämpft und sich die Tage mit Gartenarbeit und Reparaturen vollpackt. Eine junge Bürokauffrau, die nach ihrer Ausbildung nie eine Arbeit gefunden hat, weil sie mit psychischen Problemen kämpft. Eine Verkäuferin, alleinerziehend, die sagt, sie hasse es, zu Hause zu sitzen. Einer, der seit sechzehn Jahren keinen Job mehr hat, sagt: „Man wird immer träger. Ich habe kaum Hoffnung, noch mal Arbeit zu finden.“ Seinen Namen möchte er, wie alle anderen, nicht in der Zeitung lesen. Im Erzgebirge, sagen die Leute, kennt jeder jeden.
Früher Besteckfabrik, heute Jobcenter
Das Jobcenter Erzgebirgskreis, Niederlassung Aue, ist in einem prunkvollen Gebäude aus dem frühen 20. Jahrhundert zu Hause. Hohe Decken, breite Flure: Früher saß hier die Verwaltung der Besteckfabrik Wellner, die ihre Waren in alle Welt exportierte. Heute erzählen die Leute, Silberbesteck aus Aue habe es bis in die erste Klasse der Titanic geschafft. Unklar bleibt, was sie mehr bewegt: der Stolz auf den Glanz vergangener Tage. Oder die Angst vor dem Untergang. Mit geplatzten Träumen jedenfalls kennen sie sich seit der Wende aus.
Mit lauter Stimme begrüßt Eva Nestler, 59, die Gruppe im Konferenzsaal. Als „Intensivvermittlerin“ leitet sie vier Mal im Jahr einen sogenannten AktivA-Kurs. Er soll in vier Tagen die psychische und körperliche Gesundheit von Langzeitarbeitslosen verbessern. Nestlers Aufgabe ist herauszufinden, „wo die Säge klemmt“. Sie hat vier Söhne großgezogen. Nach ihrer Ausbildung zur Krankenschwester war sie in der Jugendarbeit und hat eine Weiterbildung als Traumapädagogin gemacht. Seit sechs Jahren arbeitet sie als Quereinsteigerin in der Arbeitsvermittlung. Für die „Kunden“, wie sie die Arbeitslosen im Jobcenter nennen, ist Nestler eine Ausnahme im „System Hartz IV“.
Die Teilnahme an ihrem Kurs ist freiwillig – Sanktionen wie Leistungsentzug, das schwerste Druckmittel der Jobcenter, nutzt sie nicht. „Sonst muss man immer im Jobcenter, hier müssen Sie mal nichts. Am Ende gibt es keinen Bericht an Ihre Vermittler“, erklärt sie den Teilnehmern.
Nestler schaut in skeptische Gesichter. In der ersten halben Stunde versucht sie, die Gruppe „einzufangen“. Sie sagt: „Viele von Ihnen haben Abschlüsse und Berufe, die gibt es gar nicht mehr.“ Britta Lennert, die heute Morgen als Erste da war, nickt fast unmerklich. Es geht darum, Vertrauen zu schaffen. Gelingt Eva Nestler das, erzählen ihr die Kunden oft mehr als den Vermittlern in den anderen Stockwerken.
Das Ziel ihres Kurses sind „kleine Meilensteine“. Fortschritte, die von außen gesehen fast lächerlich wirken, für ihre Kunden jedoch wichtig sind. Es gibt Menschen, die erst wieder Mut fassen müssen, allein mit dem Bus zu fahren oder einen Psychologen zu besuchen. „Wir leisten auch ein Stück Lebensberatung.“
Die Wirtschaft im Erzgebirge sucht nach Fachkräften
Fast dreißig Jahre nach der Wende liegen noch Welten zwischen alten und neuen Bundesländern. Die Löhne sind im Osten rund ein Fünftel niedriger als im Westen, die Zahl der Arbeitslosen deutlich höher. Doch ausgerechnet im Erzgebirge, wo Britta Lennert und die anderen einen Job suchen, wächst die Wirtschaft. Unternehmen suchen händeringend nach Fachkräften. Im Juli 2017 lag die Arbeitslosenquote im Erzgebirgskreis mit 5,3 Prozent knapp unter Bundesdurchschnitt. Eva Nestler und ihren Kollegen geht es nicht allein darum, Jobs zu vermitteln.
„Wir gehen auf Spurensuche, weil die Menschen so viele Probleme gleichzeitig haben. Einer, der seit zehn Jahren arbeitslos ist, den hab ich nicht in einem halben Jahr im Arbeitsmarkt“, sagt sie. „Wunder dauern etwas länger.“
Schwer auszumachen, wann Britta Lennert der Mut verlassen hat. 1987 begann sie in der DDR eine Lehre als Strumpffacharbeiterin, da war sie fünfzehn. Für die Gelenauer Kinder- und Damenstrumpfwerke, den größten Sockenhersteller der DDR, nähte sie im Akkord. Anders als viele ihrer Kolleginnen träumte sie nach der Wende nicht vom Westen. Ihr Leben sollte weitergehen wie bisher. 1990 übernahm die Treuhand die Strumpfwerke, Britta Lennert wurde in Kurzarbeit geschickt. Kurz darauf gehörte sie zu den Ersten, die gehen mussten.
Man kann Britta Lennert nicht vorwerfen, sie habe danach nichts unternommen. Sie war erst achtzehn, als sie entlassen wurde, schulte zwei Jahre zur Hauswirtschaftlerin um. „Aber in den Beruf bin ich irgendwie gar nicht hineingekommen“, sagt sie. Sie fischte in einer Müllsortierungsanlage tote Tiere aus dem Unrat und ertrug die Staubwolken, wenn Bauschutt auf das Laufband geschüttet wurde. Nach zwei Jahren wurde ihr betriebsbedingt gekündigt. Sie blieb nur zwei Wochen arbeitslos, dann putzte sie nachts Busse. Drei Jahre hielt sie die Nachtschichten durch. Danach putzte sie elf Jahre Büros.
An ihren Feierabenden fühlt sie sich einsam. Irgendwann gibt sie eine Kontaktanzeige auf. „Weil ich niemanden ansprechen kann.“ Ihr zukünftiger Ehemann meldet sich. Sechs Jahre später wird ihre Tochter geboren. Britta Lennert bleibt zwei Jahre zu Hause. Zurück aus der Elternzeit, wird ihr bald gekündigt. Sie vermutet, dass der Firma ihre Kinderpause nicht gepasst hat. Diesmal findet sie keine neue Arbeit.
Britta Lennert ist jetzt 45 Jahre alt. Seit vier Jahren hat sie einen Minijob in der Kinderbetreuung. Verdient sie mehr als 100 Euro im Monat, wird ihr der Lohn vom Hartz IV abgezogen. „Hauptsache, man hat was zu tun“, sagt sie. Die Alternative wäre, allein in ihrer Wohnung zu sitzen. Ihr Mann ist als Zeitarbeiter viel unterwegs, so wie ihre Tochter, die in der Pubertät steckt. Britta Lennerts größte Hoffnung: Ihre Tochter soll einen guten Hauptschulabschluss machen, damit sie eine Ausbildung findet. Als Eva Nestler die Teilnehmer an diesem Morgen fragt, wie sie sich fühlen, sagt Britta Lennert: „Alles in Ordnung.“
Rot steht für Profillage D, schwer zu vermitteln
Es ist erst Mittag, und Frank Reißmann sitzt bereits in der dritten Konferenz. Der Leiter des Jobcenters Erzgebirgskreis trägt ein kurzärmeliges Hemd, Krawatte, Jeans. Er sitzt mit angewinkelten Beinen auf dem Stuhl, nur die Schuhspitzen berühren den Boden, so als wollte er jeden Moment aufspringen. Aber statt aufzuspringen, blickt Reißmann konzentriert auf eine Statistik, die der Beamer an die Wand wirft: Eine rote Linie geht steil nach oben. Rot, sagt die Legende, steht für Profillage D.
Das Jobcenter unterteilt Arbeitslose in vier Profillagen: A, B, C und D. Zur Profillage A gehören alle, die sofort einen Job annehmen könnten. Zur Profillage B zählt, wer nur eine Fortbildung oder einen Führerschein machen muss, um eine Stelle zu finden. Die Cs und Ds haben es schwerer. Sie brauchen intensive Unterstützung. Reißmanns Statistik verrät: Knapp 55 Prozent der Arbeitslosen, die im Erzgebirgskreis Grundsicherung beziehen, gehören der Profillage D an, weitere 36 Prozent werden als C eingestuft. Man könnte auch sagen: Mehr als 90 Prozent der beim Jobcenter gemeldeten Arbeitslosen haben irgendwann den Anschluss verloren.
Viele Cs und Ds finden vor allem deshalb keine Arbeit, weil sie mehrere Probleme gleichzeitig plagen. Viele müssten erst wieder lernen, früh aufzustehen, und nicht bei den kleinsten Aufgaben in Stress zu geraten. „Das sind keine Wertungen, sondern Feststellungen und Erfahrungen.“ Reißmann sieht sich als jemanden, der Probleme anspricht, ohne Menschen zu stigmatisieren. Als Leiter der Abteilung Jugend, Gesundheit und Soziales des Landratsamtes hat er seit 1998 mit Familien und Kindern in der Jugendhilfe und mit Betroffenen in der Schuldner- und Suchtberatung zu tun. Vielleicht ist es diese Erfahrung, die ihn zu einem „Kümmerer“ gemacht hat. Er will niemanden aufgeben. Frank Reißmann sagt Sätze wie: „Ich bin zutiefst davon beseelt, dass man die Menschen, die ausschließlich von staatlicher Transferleistung ihren Lebensunterhalt bestreiten, fordert.“ Oder: „Leistungsbeziehern zu zeigen, dass sie auch ohne öffentliche Hilfe ihr Leben bestreiten können, das beflügelt den Geist der Menschen.“
Seit 2012 ist Reißmann Leiter des Jobcenters Erzgebirgskreis. Seitdem stehen Sozialamt, Jugendamt, Gesundheitsamt und das kommunale Jobcenter unter einer, unter seiner Leitung. Der Vorteil: Da alle Behörden unter einem Dach vereint sind, können sie Fragen auf dem kleinen Dienstweg klären. So ergibt sich schnell ein Gesamtbild der Probleme. Arbeitslose Eltern, deren Kinder vom Jugendamt betreut werden, können als ganze Familie beraten werden.
Von seinen Mitarbeitern fordert Reißmann, sich offensiv für die Arbeitslosen einzusetzen. „Man muss die Menschen anbieten wie ein Milchmann seine Milch. Aber nicht wie saure Milch, sondern wie köstliche Vollmilch mit viel Rahm.“ Ines Sprung soll so ein Milchmann sein. Oder besser die Milchfrau. Die gelernte Verkäuferin hat vor ihrer Stelle beim Jobcenter beim Zoll gearbeitet: Kontrolle illegaler Beschäftigung. Als sie eine Dienstwaffe tragen sollte, stieg sie aus. Jetzt vermittelt sie im Arbeitgeberservice des Jobcenters zwischen Arbeitslosen und Unternehmen. Im silbernen Dienstwagen fährt sie durch das Erzgebirge und versucht, Firmenchefs von ihren Kunden zu überzeugen. Diesmal muss sie nach Scharfenstein. Früher lag hier die „Kältekammer“ der DDR: Fast in jeder Küche stand ein Kühlschrank, der in Scharfenstein produziert wurde. Im Jahr 2000 ging der einst größte Kühlschrankproduzent des Ostblocks pleite.
"Ich habe mehr Aufträge, als ich abarbeiten kann"
Ines Sprung kennt jedes Unternehmen im Gewerbegebiet. Im Vorbeifahren zählt sie Firmennamen und Mitarbeiterzahlen auf. Dann parkt sie vor einem kleinen Betrieb. Sie trifft sich mit Ingo Melzer. Der Elektriker wartet schon vor der Tür seiner Werkstatt. Bis vor wenigen Jahren bewarben sich jedes Jahr mehrere Jugendliche um einen Ausbildungsplatz bei ihm. Heute sucht er vergeblich nach Bewerbern. „Ich habe mehr Aufträge, als ich abarbeiten kann“, sagt er. Durch die kleine Werkstatt führt er Ines Sprung in sein Büro.
Sie ist gekommen, um einen Arbeitslosen zu vermitteln. Der Mann hat keinen Schulabschluss und keine Ausbildung. Außerdem ist er Kettenraucher. Ingo Melzer ist skeptisch. „Es gibt Baustellen, da herrscht striktes Rauchverbot wegen Feuergefahr, da gibt es Riesenprobleme. Und ob ich den allein losschicken kann, ist ja nicht klar.“ Ines Sprung versucht, ihn mit ihren Mitteln zu überzeugen. Ein Jahr lang zahlt das Jobcenter 50 Prozent des Bruttolohns. Aber Ingo Melzer bleibt skeptisch: „Einer meiner Arbeiter müsste auf ihn aufpassen. Da geht viel Arbeitszeit verloren.“
"Es hilft, wenn die Vermittlerin Tacheles redet"
Zusammen rechnen sie die mögliche Förderung durch. Am Ende verspricht Melzer, dem Mann eine Chance zu geben. Zum Abschied sagt sie: „Wenn er mal länger krank ist, sagen Sie sofort Bescheid. Manchmal hilft es, wenn die Vermittlerin Tacheles redet.“ Doch dazu kommt es nicht. Der Mann tritt den Job nicht an. Stattdessen ist er in den Urlaub gefahren.
Um den Erfolg der bundesweit mehr als 100 kommunalen Jobcenter zu messen, sortierte man sie in Vergleichsringe. Erhoben werden unter anderem die Zahl der vermittelten Arbeitslosen und die Summe der gezahlten Leistungen. Reißmanns Behörde liegt in ihrem Vergleichsring im guten Mittelfeld. In einem Punkt aber auf dem ersten Platz: Kennzahl K2E3 – Nachhaltigkeit der Integrationen. Sie stellt fest, wie viele der vermittelten Kunden auch nach einem Jahr noch in einem sozialversicherungspflichtigen Job sind.
Dieses Ergebnis spricht für Reißmanns Methoden. Trotzdem sieht er auf Dauer nur eine Möglichkeit, mit der steigenden Zahl von Arbeitslosen in Profillage D umzugehen: eine Überarbeitung der Sozialgesetze. Er möchte verpflichtend gemeinnützige Arbeit für Hartz-IV-Empfänger einführen. „Es darf nicht einen einzigen Euro als Alimentation geben ohne Gegenleistung. Davon bin ich zutiefst überzeugt.“ Er denkt an Reinigungsarbeiten im Kindergarten oder anderen städtischen Einrichtungen. „Nicht entehrend, selbstverständlich.“
Genuss, Wertschätzung und Freizeit
Im Arbeitslosenseminar im Jobcenter in Aue wickelt Britta Lennert eine Schokopraline aus der Folie. Eva Nestler hat jedem Teilnehmer eine in die Hand gedrückt. Aufgabe: Die Schokolade langsam auf der Zunge zergehen lassen. „Genussübung“ nennt sie das: „Man muss sich auch mal etwas gönnen, es muss nicht unbedingt viel kosten.“ Dann schiebt sie hinterher: „Was ist für Sie Genuss?“ Eine junge Frau ruft „Sex“. Alle lachen, nur Britta Lennert schaut verlegen zu Boden. Für einen Moment wirkt die Gruppe wie eine pubertierende Schulklasse.
Kursleiterin Nestler spricht über Wochenenden, die sich ohne Arbeit nicht von Werktagen unterscheiden und lässt die Teilnehmer Wochenpläne mit ihren Aktivitäten ausfüllen. Sie sollen einsame und gemeinschaftliche Tagespunkte aufschreiben. Stimmt das Gleichgewicht oder sitzen sie nur allein zu Hause?
Es geht um fehlende Wertschätzung, die Abhängigkeit vom Jobcenter und Methoden, mit Stress umzugehen. Aber auch um nervige Nachbarn und den neuesten Tratsch. Zwei Frauen sollen sich im örtlichen Supermarkt um einen heruntergesetzten Pyjama für 6,99 Euro geschlagen haben. Manche anfangs stille Teilnehmer geraten in einen Redefluss. Es wird viel gelacht. Nestler will mit den Unterhaltungen das Gruppengefühl stärken. Manchmal entstehen Freundschaften, die stabilisieren können. Viele haben seit langem mit niemandem außerhalb der Familie über ihre Situation gesprochen.
Auch die Arbeitsvermittlung selbst ist Thema. Nestler sagt: „Es bringt nichts, wenn Sie in Ihrem Job nicht glücklich sind oder den Chef einfach nicht riechen können. Dann wird es auf lange Sicht auch nicht klappen.“ Später auf dem Nachhauseweg sagt Britta Lennert, dass sie auf solche Gefühle in ihrem Leben keine Rücksicht nehmen konnte. „Du kannst ja nicht immer nur das arbeiten, was Freude macht.“
Britta Lennert wartet auf den Bus. Das Arbeitsheft mit dem Bild der Joggerin am Strand hat sie noch im Amt in ihrer Handtasche verschwinden lassen. Sie will nicht damit gesehen werden. Im Seminar haben sie darüber gesprochen, wie wichtig es ist, sich Ziele zu setzen. Wenn man sie fragt, welche Träume sie hat, überlegt sie lange. Und dann fällt ihr doch etwas ein. Sie träumt von einem Urlaub an der Ostsee und von grenzenloser Freiheit auf dem offenen Meer.