Armenien
Der Geschmack von Heimat
Die Bäckerin Donara Gasparyan musste aus Bergkarabach fliehen. Jetzt backt sie ihr Nationalgericht "Jingalov Hats" in Jerewan. Sie schafft es sogar, die meisten der 17 Kräuter dafür zu finden
Eine geflohene Bäckerin aus Bergkarabach backt in Jeriwan das Nationalgericht "Jingalov Hats"
Donara Gasparyan aus Bergkarabach backt in Jeriwan das Nationalgericht "Jingalov Hats"
Luise Glum
David Pierce Brill
04.07.2024
7Min

An Verluste ist Donara Gasparyan längst gewöhnt. Sie hat nicht viel mitgenommen auf ihre Flucht nach Armenien, ein bisschen Kleidung, ein paar alte Fotos, etwas Ausrüstung für die Küche. Und ein Zitronenbäumchen, das jetzt im Eingang ihrer neuen Bäckerei in Jerewan steht. In Stepanakert, der ehemaligen Hauptstadt Bergkarabachs, hatte sie einen Stand auf dem Shuka, dem zentralen Markt. Den Stand, ihre Wohnung, ihr ganzes Leben, alles hat ­Donara zurückgelassen. Ihre Heimat in Bergkarabach existiert faktisch nicht mehr.

Donara sitzt auf einem roten Plastikstuhl in der Sonne, sie trägt einen Kittel und ein blaues Haarnetz. Wenn sie lacht, kommen Goldzähne zum Vorschein. Im Hintergrund bereiten ihre Bäckerinnen Jingalov Hats zu, ein Nationalgericht der Bergkarabach-­Armenier. Ein ovales Brot mit spitzen Enden, das mit Kräutern gefüllt ist. "Wenn du willst, dass etwas Früchte trägt, musst du es lieben", sagt Donara.

Kurz vor Kriegsende überredeten ihre Söhne sie , zu gehen

Und Donara liebt ihr Brot. Gelernt hat sie das Backen schon als Kind, von ihrer Tante. "Als ich acht war, habe ich ihr zum ersten Mal zugeschaut." Sie erinnert sich auch noch ­genau, wann sie ihren Bäckerstand aufgemacht hat: Im Jahr 1993, als sich der erste Bergkarabach-Krieg dem Ende neigte. Im ­Zuge des Zerfalls der Sowjetunion erklärte die vorwiegend von Armeniern bewohnte Region Bergkarabach ihre Unabhängigkeit von Aserbaidschan. Die autonome Region wurde international nicht anerkannt. Kämpfe zwischen Aserbaidschan und Armenien eskalierten zu einem Krieg, den Armenien gewann.

Donara Gasparyan in ihrer Bäckerei

Damals war Donara Anfang zwanzig und zog mit ihrem Ehemann Samuel aus einem Dorf nach Stepanakert. Die Stadt war zerstört, sagt sie, aber die Leute waren einfach froh, dass das Leben weiterging: "Wir haben alle hart gearbeitet, das war das Einzige, was uns übrig blieb." Donara öffnete ihren Stand und verkaufte das Brot dreißig Jahre lang am ­selben Ort.

Am Anfang musste sie auf einer "Petchka" backen, einem metallenen Heizofen. "Damals gab es keinen Strom, kein Gas." Ihr Mann ­organisierte das Holz, stellte sicher, dass das Feuer brannte. Mit den Jahren ­wurde das ­Leben in Bergkarabach einfacher und ­Donaras Brot immer bekannter. Sogar aus der armenischen Hauptstadt Jerewan, fünf Stunden entfernt, gaben Leute Bestellungen auf. Die lieferte sie persönlich mit dem Auto aus, sagt Donara. Sie wollte sicherstellen, dass das Brot die gleiche Qualität hat, wenn es ankommt. Dass es genauso gut schmeckt, egal, wo es gegessen wird.

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Im Herbst 2020 brach erneut Krieg aus. Stepanakert wurde mit Artillerie beschossen, viele Menschen verließen die Stadt. Donara und Samuel blieben so lange wie möglich. "Unsere beiden Söhne waren in der Armee. Deshalb wollten wir warten, bis sie zurückkehren." Kunden hatten sie fast keine mehr, also versorgten sie Soldaten mit Essen. Kurz vor Kriegsende überredeten ihre Söhne sie dann, doch noch zu gehen. Donara und ihr Mann verbrachten einige Tage im sicheren Jerewan. Aber sobald es möglich war, ging es zurück nach Stepanakert, zurück auf den Shuka.

Der Teig für Jingalov Hats besteht aus drei simplen Zutaten: Mehl, Salz und Wasser. Die hatte Donara immer irgendwie ­auftreiben ­können, auch zu Kriegszeiten. Aber dann ­wurden Stepanakert und die gesamte ­Republik Bergkarabach von der Außenwelt ­abgeriegelt. Aserbaidschanische Kräfte blockierten den Latschin-Korridor, die einzige Straße, die ­Bergkarabach mit Armenien verband. Lebensmittel, Medikamente, Treibstoff, alles wurde knapp. "Die Leute waren ­hungrig", sagt Donara.

Zu Beginn hatte Donara noch Vorräte, aber irgendwann war nichts mehr übrig. "Wir backten Jingalov Hats, bis wir kein Mehl mehr hatten." Viele Läden ­waren leer. Donara begann deshalb, Dinge zu tauschen: ein Huhn gegen ein paar Eier, die Eier gegen etwas Mehl. So konnte sie ihren Stand offen halten, wenn auch nur halbtags. Sie backten am ­Morgen und waren mittags ausverkauft.

Unmengen Kräuter gehören in das Fladenbrot. Es wird gefüllt, vorsichtig
verschlossen und auf einer heißen Platte gebacken

Am 27. September 2023 mussten Donara und ihre Familie Bergkarabach endgültig verlassen. Aserbaidschan hatte eine Offen­sive gestartet, um die Kontrolle über die ­autonome Republik zu gewinnen. Über 100 000 Berg­karabach-Armenier flohen. Auch dieses Mal blieb Donara so lange sie konnte. Ihre ­Familie wollte einige Hühner schlachten, ­kochen und einfrieren. Eine Art, sich zu verabschieden, sagt Donara: "Diese Hühner haben uns ein letztes Mal geholfen." Und waren Proviant für die Reise, denn keiner wusste, was kommt. Drei Tage dauerte die Autofahrt. "Die Fahrt war so lang und heiß, dass das meiste Hühnchenfleisch verdarb."

Drei Jahre stand die Bäckerei leer. Als hätte sie gewartet

Den ersten Monat in Jerewan wohnten ­Donara und ihre Familie bei Verwandten. 29 Personen in vier Zimmern, sagt sie. Aber bald fanden sie eine Wohnung und die Bäckerei in Nor-Nork, einem Stadtteil von Jerewan etwas außerhalb des Zentrums. Die Bäckerei ist umgeben von Plattenbauten aus der Sowjetzeit und Wohnsiedlungen aus rotem Tuffstein, ein heller Raum mit Glasfront, ein paar Tischen und einem Tresen. Dahinter befindet sich eine offene Backstube, in der man die Bäckerinnen bei der Arbeit beobachten kann. Drei Jahre stand sie leer, sagt Donara, voll ausgestattet. Als hätte sie auf sie gewartet.

Seitdem hat Donara jeden einzelnen ihrer Tage hier verbracht. Sie kommt morgens um neun und ist abends die Letzte, die geht. Sie steht am Tresen und nimmt Bestellungen auf, legt das Brot in Kartons, scherzt mit den Kunden. Manche kommen selbst aus Bergkarabach, ein ­älterer Herr zum Beispiel, der mit Spazierstock, Schiebermütze und Hausschuhen den Laden betritt. Er wohnt schon länger in Jerewan. "Wie viele von euch sind aus Bergkarabach?", fragt er. Vier, sagt Donara, denn drei ihrer vier Angestellten arbeiteten bereits in Stepanakert für sie. "Und wie kommen die Armenier mit euch klar?" Donara lacht und zeigt ihre ­goldenen Zähne. Jingalov Hats kauft der Herr heute nicht, aber ein paar mit Kartoffeln gefüllte Piroggen, die Donara gerade im Angebot hat. "Falls euch jemand dumm kommt, ruft mich an", sagt er zum Abschied.

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Gebacken wird mehrmals am Tag. Donara ist eine kleine Frau, aber ihre Hände sind groß und kräftig. Sie formt den Teig zu einer Kugel und zerteilt ihn mit einem metallenen ­Schaber. Den hat ihr Mann für sie ­geschmiedet, sagt Donara, als sie vor dreißig Jahren in Stepa­nakert ihren Marktstand öffnete. Sie rollt den Teig dünn aus und platziert einen Berg gehackter Kräuter in der Mitte. Von links und rechts zieht sie den Teig darüber und klebt ihn zusammen, sodass die Kräuter von allen ­Seiten eingeschlossen sind. Gebacken wird das Brot nicht in einem Ofen, sondern auf einer metallenen Platte. Mit Schwung wirft sie den Fladen darauf, und nach einigen ­Sekunden ist der Teig bereits braun meliert.
"Ob ich das Brot hier in Armenien oder in Bergkarabach backe, macht keinen Unterschied", sagt Donara. "Nur, dass wir hier eben nicht so glücklich sind." Donara lächelt immer noch. Wie jemand, der lächeln muss, um nicht anzufangen zu weinen.

Jingalov Hats

Zum Nachmachen: nicht Donaras ­Rezept, sondern ein anderes, mit ­Kräutern vom Markt:

300 g Mehl, 1 TL Salz und 200 ml Wasser zu einem weichen Teig kneten, eine Stunde ruhen lassen. Je 150 g Schwarzkohlblätter und Spinat, 2 Frühlingszwiebeln, je 50 g Dill und Petersilie, ­eine Handvoll Minze hacken und mischen, zusammen mit je einem EL Oregano, Thymian, Granatapfelsirup und Olivenöl. Mit 1,5 TL Salz würzen und durchkneten.

Den Teig in sieben ­Kugeln teilen, jeweils dünn ausrollen und mit Kräutern belegen. Die oberen Enden und dann die unteren ­Enden zusammen­falten und fest zu­sammendrücken, bis zur Mitte so weiter­machen. Jetzt das ­Fladenbrot mit den Händen platt drücken. In einer beschichteten Pfanne ohne Fett auf beiden Seiten bei starker Hitze kurz ­anrösten, bis dunkle ­Blasen entstanden sind. Noch warm ­servieren.

Das Herzstück von Donaras Backkunst ist die Kräutermischung. Jingalov Hats bedeutet in etwa Brot mit Kräutern. Hats ist Armenisch für Brot. Die wichtigsten Zutaten liegen in großen Haufen in einem Nebenraum bereit. Die Atmosphäre hier hat ­etwas Tropisches, die Luft ist feucht, das Licht gedämpft. Fast der gesamte Tisch ist von Blättern und Stängeln bedeckt. Eine von Donaras Bäckerinnen ist für das Zerhacken zuständig. Sie zählt auf: "Kzmnjuk, Churchurok, Kinz, Samet, Soch, Dschakendech, Spanach, Trtnjuk, Nana" (Kerbel, Brunnenkresse, Koriander, Dill, Zwiebel, Rübengrün, Spinat, Sauer­ampfer, Minze). Das Grünzeug mischt ­Donara in einer Rührschüssel zusammen, aber nicht willkürlich, sondern nach Rezept. "Am wichtigsten ist, dass man am meisten Kerbel verwendet und viel Brunnenkresse."

17 verschiedene Kräuter braucht Donara ­eigentlich für ihr Brot. Weil das Klima in Berg­karabach etwas anders ist als in Armenien, war es schwierig, alle Sorten aufzutreiben. Ihr Glück: Einige Frauen haben Saatgut auf ihre Flucht mitgenommen und betreiben jetzt in der Nähe Jerewans eine Gärtnerei. Immerhin 13 bekommt Donara so zusammen.

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Jingalov Hats schmeckt trotzdem, als beiße man in eine frisch gemähte Wiese. Die Kräuter im Inneren sind feucht und erdig. Mal überwiegt der Ampfer, dann wird es sauer. Beißt man auf Brunnenkresse oder Spinat, wird es scharf und bitter. Erwischt man den Kerbel, wird es leicht süßlich. Der Teig ist noch weich, weil er nur kurz auf der heißen Platte gebacken wurde. Die dunklen Stellen sind leicht verbrannt, schmecken nach Rauch und Kohle.

Ganz kommt Donaras Jingalov Hats aber nicht an das Brot heran, das sie aus ihrer Heimat kennt. Da ist doch etwas, das ver­loren ging. Donara sagt, die Kräuter in Bergkarabach haben einen reicheren Geschmack. "Wenn man sie berührt, verströmen sie sofort ein intensives Aroma." Diesen Geschmack, sagt Donara, wird sie immer vermissen.

Infobox

Der Konflikt um Bergkarabach

Im Zuge der Gründung der Sowjet­union sprachen die Bolschewiki die überwiegend von Armeniern ­bewohnte Region Bergkarabach Aserbaidschan als autonomes ­ Gebiet zu. Mit dem Zerfall der ­UdSSR Anfang der 90er Jahre erklärte Bergkarabach seine Unabhängigkeit. ­Es entstand eine Republik, die international nicht anerkannt wurde.

Der Konflikt eskalierte zu einem Krieg, den Armenien gewann. Trotz eines Waffenstillstandsabkommens schwelten die Spannungen weiter, bis 2020 erneut Krieg ausbrach. Diesmal waren die Armenier gezwungen, Teile der Gebiete aufzugeben.

Nach einer monatelangen Blockade startete Aserbaidschan im September 2023 eine Militäroffensive und gewann auch die Kontrolle über den Rest Bergkarabachs. Es kam zu einer Massenflucht der armenischen Bevölkerung. Die Führung Bergkarabachs unterzeichnete ein Dekret, das die Auflösung ihrer Republik zum 1. Januar 2024 erklärt.