Mail aus Bergkarabach: Armenien droht ein Genozid
Will Aserbaidschan ganz Armenien erobern?
In einem Blitzangriff hat sich Aserbaidschan die Enklave Bergkarabach einverleibt. Baruir Jambazian, Leiter des Diaconia Charitable Fund, ist vor Ort. Er befürchtet einen großflächigen Angriff auf sein Land.
Zwei Mädchen (in Jerewan) vor dem Foto ihres verstorbenen Vaters Er ist im Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan gestorben. In Bergkarabach sind Tausende Menschen dem Hunger ausgesetzt
Diese zwei Mädchen haben ihren Vater im Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan verloren
Diaconia Charitable Fund
02.10.2023
3Min

Seit Dezember letzten Jahres blockierte Aserbaidschan den Latschin-Korridor, die einzige Straße, die Armenien und Bergkarabach verbindet. In der Republik Artsakh (bis 2017 Republik Berg­karabach) sind rund 120.000 Armenierinnen und Armenier beheimatet, darunter geschätzte 30.000 Kinder. Bereits in den 1990er Jahren gab es Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan. Bergkarabach wurde völkerrechtlich Aserbaidschan zugesprochen.

Das von Russland ausgehandelte Waffenstillstandsabkommen vom 10. November 2020 sah damals vor, dass knapp 2000 russische Soldaten als militärische Kontrolle zum Schutz der Menschen in Bergkarabach stationiert sind. Auch die freie Durchfahrt durch den Latschin-Korridor sollte ­sichergestellt werden.

Geopolitisch spielt Bergkarabach für die Energielieferanten Aserbaidschan und die Türkei eine wichtige Rolle. Die Enklave ist wegen ihrer zentralen Lage bedeutend für die Wirtschaftsstraßen in der gesamten Region.

privat

Baruir Jambazian

Baruir Jambazian ist studierter Psychologe und wuchs als Kind armenischer Eltern in Deutschland auf. Seit 1999 lebt er wieder in Armenien. Dort arbeitet er als Leiter der Hilfsorganisation Diaconia Charitable Fund.

Lange Zeit war es unter den russischen Truppen zumindest möglich, dass humanitäre Hilfe für das Allernotwendigste durchkam. Ab und an passierten Kolonnen des Roten Kreuzes die blockierte Straße, die allerdings nur medizinische Notfälle aus Bergkarabach nach Armenien zur Behandlung transportieren konnten. In den letzten Wochen gab es Berichte von Hungertoten in Bergkarabach. Medikamente sind seit langem rar, für Menschen mit chronischen Krankheiten ist das fatal.

Am 19. September fand ein Großangriff der aserbaidschanischen Streitkräfte in der Enklave statt. Dutzende Tote forderte der aserbaidschanische Beschuss. Nun gibt es eine Waffenruhe. Dass die dort lebenden Armenierinnen und Armenier in ihrer Heimat verweilen dürfen, scheint aber kaum realistisch.

Eine Massenflucht aus Artsakh setzte ein. Mittlerweile haben sich etwa 80.000 der 120.000 verbliebenen Armenier in Gang gesetzt. In den nächsten Tagen, so die Befürchtung, wird es nach 3000 Jahren zum ersten Mal in der Geschichte keine Armenier mehr in Artsakh geben. Kritiker bezeichnen diesen Prozess als ethnische Säuberung. Es gibt unbestätigte Berichte von Massakern unter der Zivilbevölkerung.

Der armenische Außenminister Ararat Mirsojan verwies während einer Sicherheitssitzung der Vereinten Nationen darauf, dass in den sozialen Medien dazu aufgerufen würde, armenische Frauen und Kinder zu vergewaltigen und zu töten. Diese Rhetorik in den sozialen Medien in Aserbaidschan trägt dazu bei, dass Hass in der Bevölkerung gesät wird. Wir werden als nicht lebenswertes Volk bezeichnet.

Selbst die Babys weinen nicht

Die Menschen auf der Flucht erwartet eine ungewisse Zukunft. Viele konnten nur das Allernötigste mitnehmen, einige noch nicht mal das. In Hausschuhen, so wie sie gerade zu Beginn der Angriffe gekleidet waren, mussten sie sich aufmachen, alles zurücklassen.

Am ersten Auffangpunkt der Flüchtlinge in Kornidsor herrscht eine ohrenbetäubende Stille. Selbst die Babys weinen nicht. Die Menschen sind innerlich tot, traumatisiert. Erste Hilfe wird dort vom armenischen Roten Kreuz geleistet, immerhin gibt es nun zum ersten Mal seit Beginn der Blockade wieder genug zu essen. Von hier aus werden die Flüchtlinge in verschiedene Notunterkünfte in Armenien verteilt. Am Donnerstag löste sich die demokratische Republik Artsakh unter Druck des autokratischen Aserbaidschans selbst auf.

Mittlerweile soll der Iran seine Militärpräsenz an der Grenze zu Aserbaidschan verstärkt haben. Sollte Aserbaidschan nach der Eroberung Bergkarabachs nicht stoppen, sondern seine Militäroperation fortsetzen und ­Armenien direkt angreifen, wird der Iran wohl in den Krieg eingreifen. Eine Entwicklung, die vor einigen Jahren undenkbar gewesen wäre.

Es ist wahrscheinlich, dass Armenien diesen Kampf verlieren würde. Unsere Armee ist seit Herbst 2020 stark geschwächt. Gegen die aserbaidschanischen Streitkräfte hat unser kleines Land keine wirkliche Chance, auch wenn die Menschen mutig und tapfer sind.

Wir erkennen, dass wir auf uns allein gestellt sind. Weder Russland wird uns helfen noch die USA oder die EU. Es muss jetzt schon ein ­Wunder Gottes passieren, dass wir als Volk überleben werden.

Infobox

Der deutsche Partner von Diaconia Charitable Fund ist der Christliche Hilfsbund im Orient e.V. mit Sitz in Bad Homburg. Gegründet wurde dieser vor über 125 Jahren, als es zu Massakern an der armenischen Bevölkerung im Osmanischen Reich kam. Heute unterstützt der Christliche Hilfsbund unter anderem armenisch-evangelische Einrichtungen und Kirchengemeinden in Armenien, dem Libanon, Syrien und dem Irak. Nähere Informationen erhalten Sie hier: https://www.hilfsbund.de/

Die Kommentarfunktion ist nur noch für registrierte Nutzer verfügbar. Um einen Leserkommentar schreiben zu können, schließen Sie bitte ein Abo ab, schreiben Sie uns eine Mail an leserpost@chrismon.de oder diskutieren Sie auf Instagram, Facebook und LinkedIn mit.