Im Westen der Ukraine gibt es immer wieder Luftalarme, Anschläge dagegen sind eher selten. Wenn dann doch eine Rakete einschlägt, wie zuletzt Mitte August, versetzt das die Menschen hier in Lwiw in Schock. Vielen wird dann wieder schmerzlich bewusst, dass sie im Grunde nirgends in der Ukraine sicher sind - das vergrößert die Angst enorm.
Die Region um Lwiw hat sehr viele Flüchtlinge aufgenommen, rund 300.000 Menschen. Die Stadt ist rappelvoll. Weil die Lage hier vergleichsweise stabil ist, haben manche Leute Geschäfte eröffnet, die sie vorher in anderen Städten geführt haben. Andere wohnen immer noch in Flüchtlingsunterkünften und haben wenige Perspektiven, sie finden keine Arbeit. Zurück in den Osten des Landes? Unmöglich, oft sind die Häuser zerstört, teils ist der Krieg dort sehr heftig.
Melanie Plöger
Lwiw ist seit Kriegsbeginn ein Durchgangsort in Richtung Westeuropa. Es kommen aber auch Menschen durch Lwiw zurück in die Ukraine, einige wollen in die ehemals besetzten Gebiete zurückkehren, etwa nach Cherson. Sie möchten wieder arbeiten oder nach zurückgelassenen Familienangehörigen schauen. Immer wieder erlebe ich, dass Kinder ihre Väter vermissen, die nicht aus der Ukraine ausreisen dürfen. Dann entscheiden die Familien manchmal, lieber in der Ukraine mit Luftalarm zu leben, anstatt getrennt zu sein. Das ist eine starke Motivation - nach eineinhalb Jahren Krieg und Trennung.
Mehr Menschen haben Schlaganfälle und Herzinfarkte
Gerade ältere Ukrainerinnen und Ukrainer haben in den Heimatorten oft ihr ganzes Leben lang gewohnt. Die Fluchterfahrung gleicht einer Entwurzelung. Durch den erneut hohen Beschuss haben viele ihr Vorhaben zurückzukehren abbrechen müssen - zu gefährlich. Dazu kommen die Menschen, die nun erst beschließen zu fliehen.
Das Warten zehrt viele aus, die Menschen sind müde. Auch wenn der Westen der Ukraine relativ stabil ist, haben fast alle Familienangehörige, die an der Front kämpfen. Die Menschen sind andauernd in Sorge. Wie ein Dauerlauf, bei dem man aber nicht weiß, wie lange man durchhalten muss.
Die Angriffe auf die Energieversorgung in den letzten Wintermonaten hatte bereits alle Hoffnungen auf ein nahes Ende getrübt. Das ist ein Stressfaktor. Bei einem Krankenhausbesuch in Kiew teilte mir ein Arzt mit, dass seit Beginn des Krieges mehr Menschen mit Schlaganfällen und Herzinfarkten eingeliefert werden.
Neben Hilfslieferungen bieten wir als Organisation in verschiedenen Städten Unterstützung in psychologischen Zentren. Dort haben wir Gruppen- oder Einzeltherapien, eine Form der Intervention, um mit dem permanenten Stress und der Angst besser klarzukommen. Die Stigmatisierung, über traumatische Ereignisse oder Gefühle zu sprechen, wird unserer Erfahrung nach zum Glück weniger. Die Wartelisten sind lang, es gibt etliche Menschen, die nun ein Jahr nach dem Kriegsausbruch merken, dass sie psychologische Hilfe benötigen. Viele werden wohl jahrelange Unterstützung brauchen. Letztendlich können wir als Organisation sinnbildlich nur Pflaster verteilen, nicht jedoch die großen Wunden heilen. Das frustriert manchmal.
Ukrainerinnen und Ukrainer können ihr Leben nicht mal eben pausieren. Die Menschen müssen zur Arbeit, die Kinder zur Schule - trotz der permanenten Anspannung. Mittlerweile haben einzelne Familien aufgehört, ihre Kinder nachts aufzuwecken, um in den Bunker zu gehen. Sonst sind sie in der Schule übermüdet, wo das Lernen doch sowieso nur eingeschränkt möglich ist. Wir merken, dass die Menschen versuchen, sich an diese neue Normalität anzupassen, um ihren Alltag irgendwie zu stemmen.