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chrismon: Sie bringen mit Ihrem Dialog-Labor Journalismus auf die Bühnen. Wie sind Sie auf die Idee gekommen?
Dirk Böttcher: Die Auflagen vieler Zeitungen sinken; Menschen wenden sich ab von den klassischen Medien. Daher habe ich zusammen mit dem Magazin brand eins Abende konzipiert, die nicht nur konsumiert werden, sondern Anregungen zum Mitdenken und Austauschen sind. Wir wollen die Zivilgesellschaft beteiligen. Nicht erst zum Ende der Veranstaltung, sondern ab der ersten Minute. Husten, Niesen und Zwischenrufe sind ausdrücklich erlaubt.
Wissenschaft, Kultur und Journalismus zusammen auf der Bühne, warum?
Weil wir denken, dass wir zusammen mehr sind als die Summe der einzelnen Teile und dass in dem Schulterschluss vielleicht erst das große Ganze zu sehen ist, das jeder Bereich für sich alleine nicht abbilden kann.
Wie sieht das konkret aus?
Ich habe das Buch "Das verkaufte Land" geschrieben, in dem es um die ökologischen Bodenkrisen, ein faszinierendes Ökosystem, soziale Ungleichheit und den Ausverkauf des Bodens geht. Damit haben wir das Format im Frühjahr das erste Mal ausprobiert. Im "Theater am Rand", einem kleinen Theater in Oderaue, direkt an der polnischen Grenze. Dort gibt es wenig Kultureinrichtungen. Jetzt haben wir eine Dialog-Labor-Trilogie geplant. An drei Abenden geht es darum, ein Zustandsbild von Deutschland auf die Bühne zu holen. Jeder der drei Abende ist einem der ersten Worte der Nationalhymne gewidmet. Einigkeit und Recht und Freiheit. Gestern haben wir Einigkeit auf die Bühne gebracht.
Lesetipp: Der Wissenschaftler Hanno Sauer über Klassen und Ungleichheit
Wer ist "wir"?
Die Jazzmusiker Meike Goosmann und Wolfgang Schmiedt mit Sopran-Saxophon, Flügelhorn und Gitarre. Thomas Rühmann vom Theater am Rand entwickelte eine szenische Lesung mit Zitaten aus den Sachbüchern des Soziologen Steffen Mau, der viel zur Spaltung in der Gesellschaft forschte und dieses Phänomen übrigens immer stark relativierte. Aus diesen Lesungen wechselte er dann direkt in Songs von ostdeutschen Liedermachern wie Gerhard Gundermann. Meine Gespräche führte ich mit der Kulturwissenschaftlerin Josefina Elisabeta Bajer und Timo Lochocki. Timo ist Politikwissenschaftler und einer der führenden Populismusforscher Europas. Mit ihm diskutierte ich zum Beispiel die Frage, wie man Populisten begegnen kann und wie realistisch die Idee von Einigkeit in einer Gesellschaft ist.
Dirk Böttcher
Jazzmusik und Flügelhorn, Lesung, Diskussion, das klingt sehr bildungsbürgerlich. Erreicht man so auch die Leute im ländlichen Raum, die keine Zeitung mehr lesen und keine Nachrichten schauen?
Es ist meiner Erfahrung nach ein Klischee, dass Leute in den ländlichen Regionen nur Schlager und Freibier wollen. Den Bildungsbürger finden Sie auch hier, und sowieso haben nicht nur sie Freude an Theater, guter Musik und Diskussionsbedarf. Die fast 100 Zuschauer jedenfalls waren sehr gemischt. Fein angezogen die einen; in Gummistiefeln die anderen. Die Stimmung war zugewandt und höflich, wenn es auch manchmal trotzig wurde. Alle haben sich ausreden lassen und einander interessiert zugehört.
Worum ging es in den Diskussionen?
Es ging um den Umgang mit Menschen mit anderen Meinungen. Wie gehe ich mit Nachbarn um, die AfD-Wähler sind, zum Beispiel.
Gab es im Saal Menschen, die sich offen zur AfD bekannt haben?
Ich gehe davon aus, dass es da welche gab, die die AfD wählen, aber explizit abgefragt wurde das nicht.
Was kam da aus dem Publikum?
Einige bezweifelten, dass Wohlwollen und Verständnis für den anderen etwas ausrichten können. Andere sagten, dass sie Leute nicht einfach ausschließen wollen, nur weil sie AfD wählen. Das war, glaube ich, einer der Punkte, in denen sich die meisten einig waren: dass es richtig ist, mit Leuten wie Björn Höcke nicht zu reden und sie auch als Nazis zu bezeichnen, aber eben damit nicht auch automatisch alle Menschen, die ihn wählen. Da ist es wichtig, im Gespräch zu sein. Aber mir ist an diesem Abend ein grundlegendes Dilemma bewusst geworden.
Welches?
Dass man viele kluge Debatten führen, viele Worte und Lösungen finden kann, was sich dann aber auf die individuelle Lebenswirklichkeit von Menschen nicht immer übertragen lässt. Dass zum Beispiel die Idee, einfach mal mit allen ins Gespräch zu kommen und Unterschiede beiseitezulassen, nicht so aufgeht.
Warum nicht?
Weil es an der Lebensrealität der Menschen vorbeigeht. Weil jeder in einem persönlichen Umfeld mit spezifischen Kontakt- und Verhaltensmustern festhängt, die sich nicht mal eben so durchbrechen lassen.
Aber ist das nicht eine Bankrotterklärung für die Soziologie? Wenn Lösungsansätze ins Leere laufen?
Nein, keine Bankrotterklärung. Vielleicht gibt es einfach keine Handlungsempfehlung, die für jeden passt. Und ich denke, dass Wissenschaftler und auch wir Journalisten uns viel mehr bemühen müssen, komplexe Themen so weit herunterzubrechen, dass sie die Chance haben, auf der Ebene von Individuen anzukommen. Timo Lochocki hat die etwas provokante These aufgestellt, dass Journalisten weniger über Randthemen wie Gendern, Queerness und so reden sollten, sondern dass wir uns als Medien auf die Themen beschränken sollten, die essenziell wichtig sind.
Was für Themen sollten das sein?
Themen, für die ein Grundkonsens existiert: Politikthemen wie eine neue Geostrategie in der Außenpolitik, eine Debatte über gesellschaftliche Transferleistungen, Wirtschaftspolitik.
Aber das würde ja die Themen, die primär auch in sozialen Medien diskutiert werden, nicht aus der Welt schaffen. Und würden sich große Medien überhaupt so einengen lassen?
Ich bin auch nicht unbedingt überzeugt. Aber es war eine These, über die diskutiert wurde. Ob sich Einigkeit dadurch herstellen ließe, wenn wir uns in der öffentlichen Debatte und in der politischen Auseinandersetzung auf weniger Themen beschränken, auf die relevanten, und vor allem die permanente Erregtheit wieder abbauen.
Wenn ich queer bin, sind Diskussionen über Queerfeindlichkeit nicht irrelevant und wenn ich eine Frau bin, ist Gendern unter Umständen kein Randthema.
Vielleicht kann man die Essenz daraus ziehen, dass wir nicht den großen Aufregerthemen hinterherjagen sollten, sondern schauen, worum es wirklich geht. Statt über Merz und seine abwertende Äußerungen über Brasilien hätte man die Ergebnisse der Klimakonferenz diskutieren können.
Was nehmen Sie von dem Abend mit nach Hause?
Für mich war er ein wichtiger Anstoß, wieder mehr mit Leuten in Kontakt zu gehen. Ich bin es grundsätzlich eher leid, mit Leuten zu reden, die antidemokratisch eingestellt sind. Aber nach diesem Abend denke ich, dass es doch wichtig ist. Vielleicht müssen wir nicht die ganze Zeit über Politik reden. Vielleicht reicht Fußball. Es gab noch einen Moment an dem Abend, der mich berührt hat.
Welcher?
Die beiden Musiker auf der Bühne haben ihre Herztöne eingespielt, daraus wurde eine Art Beat. Und dann haben sie Menschen auf die Bühne geholt, die sich ebenfalls das Mikrofon ans Herz gehalten haben. Nach einiger Zeit haben sich die Herztöne einander angenähert, einen gemeinsamen Rhythmus, fast schon Gleichklang gefunden. Das war ein sehr passendes musikalisches Bild zur Einigkeit.



