Die Medien berichten über alles und kommentieren sehr gern. Nur wenn es um sie selbst geht, tritt Schweigen ein (außer, es gibt Probleme bei der Konkurrenz). Deshalb liest man fast nichts darüber, wie sie heute arbeiten und funktionieren oder auch nicht. Wie absurd es mitten in der digitalen Transformation gelegentlich zugeht, davon erzählt die folgende unerhörte Begebenheit. Klicken Sie jetzt! Aber nur, wenn Sie wissen, was Sie damit anrichten.
Leider kennt man auch die Medien nur aus den Medien. Das ergibt ein unvollständiges Bild. Deshalb lohnt es sich, bei Journalisten nachzufragen, wie es ihnen geht und wie ihre Arbeit sich verändert hat. Was man hört, zeugt von einem radikalen Machtwechsel: Online hat gewonnen, Print darf die Reste zusammenkehren. Eine normale Redaktionssitzung beginnt deshalb damit, dass die Klickzahlen ausgerufen werden. Es ist simpel: Je höher, desto besser – egal, wie es um die journalistische Substanz steht. Daraus folgt: Geschichten mit hohen Klickzahlen werden weitergedreht – egal, ob es etwas Neues gibt.
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Deshalb geraten heute die Schlagzeilen so grell und verführerisch. Sie locken mit Aufregung, Empörung, Gier nach Neuem. Das war früher nicht völlig anders, hat aber eine ganz andere Dynamik angenommen und führt zu einer qualitativen und thematischen Verarmung: Trump, Mockridge, AfD, Rammstein. Und es führt zu einer weiteren Entmachtung der Redakteure. Man braucht sie eigentlich nicht mehr, wenn doch die Klickzahlen die Inhalte bestimmen; sie liefern nur noch Content, den Rest erledigt die Maschine.
Nun die versprochene lustige Geschichte.
Erlebt hat sie Edgar S. Hasse, ein sehr erfahrener und qualitätsbewusster Journalist (und Theologe) beim Hamburger Abendblatt. Am 10. Juni veröffentlichte er einen Artikel, der überwältigend oft geklickt wurde. Ursache dafür war die Überschrift, die er erhalten hatte: "Mutter mit 16 und jetzt sind es schon neun Kinder". Das wollten sehr viele Menschen lesen.
Gern hätte ich einige der Gesichter gesehen, die nach ihrem Klick eine ausgeruhte, sauber recherchierte, ebenso sensible wie nachdenkliche Sozialreportage über eine junge Frau zu lesen bekamen, die in verschiedenen Pflegefamilien aufwuchs, als Teenager ein Kind bekam, eine Ausbildung machte, heiratete und nun mit ihrem Mann Pflegekinder aufnimmt. Bis jetzt sind es acht Kinder, aber nicht zeitgleich, sondern nacheinander – eine beeindruckende, aber keineswegs erregungsträchtige Geschichte. Inzwischen wurde die Schlagzeile abgemildert zu: "Elisa wurde mit 16 Mama – und gibt Kindern ein Zuhause auf Zeit" und führt ganz unaufgeregt zu einem Stück Qualitätsjournalismus, den es heute immer noch gibt, wenn auch unter erschwerten Bedingungen.
Tipp: das chrismon-Digitalabo doppeltgut
Und was ist die Moral von der Geschicht‘? Ich will mir vornehmen, in Zukunft vorher darüber nachzudenken, welche Schlagzeile ich anklicke. Was bloß einen schnellen Anstieg meiner inneren Erregungskurven verspricht, will ich übergehen und stattdessen nur noch sinnvoll Erscheinendes auswählen. Mein Klickverhalten macht natürlich überhaupt keinen Unterschied. Aber wenn überall von der Verantwortung mündiger Kunden die Rede ist, warum nicht auch beim Nachrichtenkonsum? Wenn viele Menschen es ähnlich hielten, könnte das nicht langfristig zu einem besseren Online-Journalismus führen? Man wird ja noch träumen dürfen.
P.S.: In dieser Woche habe ich in der Süddeutschen Zeitung eine theologische Buchbesprechung veröffentlicht. Die Redaktion hat ihr eine ziemlich knallige Überschrift verpasst. Jetzt bin gespannt, zu welch astronomischen Klickzahlen das führen wird.
Leider schon geklickt !…
Leider schon geklickt !
Qualitätsjournalismus findet man leider online kaum. Das ist meine Erfahrung.
Aktuell beseitige ich jede Menge angesammelter Zeitschriften. Es wird Zeit für neue Inhalte.
Die Qualität eines Artikel äußert sich auch vor allem in der Sachlichkeit, nicht unbedingt nur in der Recherche.
Geschichten, Bücher und Filme leben von der Story dahinter, während der online Journalismus durch langatmige Berichte oder Interviews langweilt.
Als Konsument solcher Artikel langweile ich mich, denn sie erlauben dem Leser keine Emotionen, außer Neugier, bestenfalls Kritik.
An sich ist ein solcher Journalismus schnell herunter geschriebene seichte und leichte Kost. Mehr wird dem Leser nicht angeboten.
Das Leben hält zwar viele gute Geschichten bereit, aber im online Journalismus wird alles zermalmt und zerredet.
Gute Unterhaltung ist auch wichtig, aber wenn die Geschichten langweilen, verlieren sie ihren Reiz, d.h. es kommt auch darauf an, dass sie einen Sinn ergeben, dass sie den Leser inspirieren. Natürlich trifft man nicht immer den Geschmack aller , aber wenn es gesellschaftlich relevante Themen sind, dann lohnt es sich schon, ein Thema interessant aufzubereiten.
Schade nur, dass Chrismon den ehemaligen Qualitätskick schon längst aufgegeben hat, und sich stattdessen für den schnellen Klick und den seichten Konkurrenzkampf um den medialen Leser entschieden hat.
Das geht absolut auf Kosten der Qualität, denn ein Klick ist schnell passiert, und besagt rein gar nichts über den Inhalt.
Aprppos Inhalt :
https://taz.de/P-Diddy-ist-kein-Einzelfall/!6035914/
Hier ist ein Thema von brennender Aktualität. Das frühere Chrismon liebte die Kontroverse. Zeit daran wieder anzuknüpfen.
Wie ist Ihre Meinung , Herr Clausen ?
Auch als Mann, ganz besonders, ist Ihre Meinung hierzu relevant.
Lassen Sie uns über solche sozialen Nischenthemen voller krimineller Energie, sprechen.
mfg
sachlichkeit
Vielen Dank für die ausführliche Reaktion! Ihr Plädoyer für mehr Substanz und Sachlichkeit kann ich gut hören. Das ist eine Verantwortung der Redaktionen, deren Arbeitsbedingenen aber immer prekärer werden. Es ist aber auch unsere eigene Verantwortung als Leser und Käufer. Als Autor bin ich froh, bei Chrismon schreiben zu dürfen, weil ich keinen Quotendruck verspüre und zudem aufmerksam redaktionell begleitet werde.
Übrigens, Ihr Themenvorschlag war vor kurzem auch ein Thema in einem Gespräch mit der Redaktion. Mal sehen, wie wir es bearbeiten. Denn was mich bei der Berichterstattung über Männergewalt und Femizid oft stört, dass sie sich auf skandalöse Einzelfälle fokussiert, das Strukturell-Allgemeine dabei aber nicht beschreibt.