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In Greifswald hat sich ein Zukunftsrat gegründet. Sie koordinieren das Projekt und haben schon mehrere Sitzungen begleitet. Was genau ist das Ziel des Zukunftsrats?
Anja Rosswinkel: Im Zukunftsrat bringen 60 zufällig ausgeloste Greifswalderinnen und Greifswalder unter dem Motto "Mein Greifswald 2030 – Was bewegt mich?" ihre Ideen, Perspektiven und Wünsche für die Zukunft ein. Das Besondere: Die Teilnehmenden wurden so ausgewählt, dass sie die Stadtgesellschaft möglichst gut widerspiegeln – also aus verschiedenen Altersgruppen, Stadtteilen und mit ausgewogenem Verhältnis von Frauen und Männern. Die Bürgerschaft, Greifswalds Stadtparlament, hat den Zukunftsrat im Frühjahr beschlossen und sich verpflichtet, die Ergebnisse zu prüfen und in ihre Arbeit einfließen zu lassen.
Sie haben den Rat mitinitiiert und eineinhalb Jahre darauf hingearbeitet. Warum ist Ihnen das Projekt so wichtig?
Ich habe den Eindruck, dass viele politische Entscheidungen für immer weniger Menschen nachvollziehbar sind – und dass dadurch auch das Vertrauen in politische Entscheidungsprozesse schwindet. Ist Vertrauen einmal verloren, lässt es sich nur schwer wieder aufbauen. In Greifswald, wie in vielen Teilen Ostdeutschlands, aber zunehmend auch im Westen, beobachten wir eine abnehmende Zustimmung zu demokratischen Werten und Verfahren. Ich bin überzeugt, dass geloste Bürgerräte, die die soziale und demografische Vielfalt der Bevölkerung widerspiegeln, dazu beitragen können, gesellschaftliche Spaltungen zu überwinden. Wenn Menschen aus allen Lebensbereichen, Altersgruppen und Stadtteilen gemeinsam über die Zukunft ihrer Stadt nachdenken, dann entsteht aus meiner Sicht eher Verständnis und Respekt füreinander. Für mich sind Bürgerräte ein Weg, Vertrauen in die Demokratie zurückzugewinnen – Schritt für Schritt, von Mensch zu Mensch.
Pro & Contra: Sind Volksentscheide ein gutes Mittel für die Demokratie?
Was macht einen Bürgerrat aus im Gegensatz zur parlamentarischen Demokratie?
Von dem Bürgerrat geht das Signal aus: Alle Meinungen können gehört und wahrgenommen werden und auf dieser Grundlage gemeinsam weitergearbeitet werden. Das kann Menschen einbinden und sie wieder enger an die Politik binden. Ich bin schon lange fasziniert von Bürgerräten. Das erste Mal habe ich von einem gelosten Bürgerrat gehört, als sich in Irland 100 zufällig ausgeloste Bürgerinnen und Bürger mit dem Abtreibungsrecht beschäftigten – ein hoch kontroverses Thema in einem stark katholisch geprägten Land.
Anja Rosswinkel
Wie war das Ergebnis?
Ihre Empfehlungen führten 2018 zu einem landesweiten Referendum, bei dem sich eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung für die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen aussprach. Das war ein Meilenstein: Zum ersten Mal hatte ein Bürgerrat entscheidend dazu beigetragen, ein tief gespaltenes Land zu einer gemeinsamen, demokratisch getragenen Lösung zu führen. Seither lässt mich die Idee nicht los. Es gibt auch in Deutschland viele Erfolgsbeispiele. Hier arbeiten Räte oft zu einzelnen Themen: Klima, Ernährung oder Bildung. Der Greifswalder Zukunftsrat wird unsere Stadt aber als Ganzes beraten. Das ist neu und ich bin sehr gespannt, wie das funktionieren wird.
Vor zwei Wochen war die erste Sitzung: Wie ist sie gelaufen?
Ich finde, der Start ist gut gelungen. Wir haben uns Zeit genommen, damit alle ankommen und sich kennenlernen konnten. Wichtig war uns, dass die Teilnehmenden in wechselnden Konstellationen miteinander ins Gespräch kommen und dass jede Idee und jeder Gedanke Raum findet. Am Ende waren wir beeindruckt, mit wie viel Engagement jede und jeder einzelne Themen eingebracht hat.
Wurde auch schon inhaltlich gearbeitet?
Wir haben mit einer Themensammlung begonnen, denn die erste Aufgabe des Bürgerrats wird sein, eines oder mehrere Themen zu identifizieren, an denen wir arbeiten wollen. Damit sind wir aber noch nicht fertig geworden.
Gibt es Themen, die sich herauskristallisiert haben?
Oft genannt wurden zum Beispiel besserer ÖPNV, mehr Radwege, bessere Straßen. Aber auch Wünsche nach mehr Veranstaltungen und kulturellen Angeboten.
Prüft der Rat auch die Umsetzbarkeit?
Ich gehe davon aus, dass sich der Zukunftsrat mit diesen Fragen beschäftigen wird. Damit die Teilnehmenden fundierte Vorschläge erarbeiten können, braucht es Informationen darüber, wie zum Beispiel der städtische Haushalt aktuell aufgestellt ist. Gleichzeitig bin ich überzeugt, dass pragmatische Lösungen gefunden werden – auch solche, die vielleicht gar nicht viel kosten. Ich vertraue auf die Schwarmintelligenz der Gruppe. Konfliktfrei wird es dabei natürlich nicht zugehen, aber gerade die Auseinandersetzung macht die Ergebnisse umso wertvoller.
Wie meinen Sie das?
Der Zukunftsrat bildet die Stadtgesellschaft ab und vereint Menschen mit unterschiedlichen Perspektiven. Zum Beispiel der Verkehrsbereich: Hier sitzen sicherlich ebenso leidenschaftliche Autofahrer wie engagierte Radfahrerinnen zusammen.
Gab es etwas, das Sie am ersten Sitzungstag überrascht hat?
Zu Beginn des Prozesses haben wir Hoffnungen und Befürchtungen der Teilnehmenden gesammelt. Fast alle äußerten die Hoffnung auf einen konstruktiven Dialog: darauf, dass sie gehört werden, dass der Zukunftsrat einen sinnvollen Beitrag leisten kann, dass vorurteilsfrei zugehört wird und die Kommunikation gelingt. Gleichzeitig wurde die Befürchtung geäußert, dass genau dies möglicherweise nicht funktionieren könnte. Besonders überraschend war ein Moment, als ein älterer Teilnehmer aufstand und betonte, dass er nicht erwartet hätte, dass so viele andere dieses Anliegen teilen und dass eine Mehrheit tatsächlich an konstruktiver Zusammenarbeit interessiert ist. Das war ein wichtiger Moment für die Gruppe.
Warum?
Er hat damit ein positives Selbstverständnis für die Gruppe zum Ausdruck gebracht. Das kann, denke ich, eine sehr gute Grundlage für die weitere Zusammenarbeit sein.
Wie messen Sie den Erfolg oder auch Nichterfolg des Zukunftsrates?
Für mich ist der Zukunftsrat dann erfolgreich, wenn die Teilnehmenden ihre Ergebnisse und die Zusammenarbeit als sinnvoll und gewinnbringend ansehen. Es gibt auch eine wissenschaftliche Begleitung und Evaluation von der Uni Greifswald.
Wie schwierig war es, den Zukunftsrat zu initiieren? Gab es Widerstände?
Anfangs war es eine Herausforderung, die Bürgerschaft davon zu überzeugen, dass ein geloster Bürgerrat sinnvoll sein könnte. Eine größere Herausforderung war die Finanzierung. Ursprünglich gingen wir davon aus, dass wir über das Bundesprogramm "Demokratie leben!", genauer den Programmbereich "Partnerschaften für Demokratie", eine solide Grundlage erhalten würden. Leider erwiesen sich die Vorgaben zur Umsetzung als so komplex und zum Teil widersprüchlich, dass wir zusätzliche Partner gewinnen mussten, um das Projekt zuverlässig zu finanzieren.
Wer finanziert das Projekt?
Die Bosch-Stiftung, der Vorpommernfonds und das Bundesprogramm "Demokratie leben!". Es hat Monate gedauert, die Verhandlungen zu führen, und es gab immer wieder Rückschläge. Am Ende gab es eine Einigung und wir sind froh, dass wir mit dem Zukunftsrat an den Start gehen konnten.

