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Dass die Debatte um die Berufung einer neuen Verfassungsrichterin unwürdig war, dürfte von allen Vernünftigen eingestanden werden. Sie bot aber auch Anlass, über das Prinzip der Menschenwürde nachzudenken. Das ist wichtig. Denn zum einen wird die Menschenwürde gleich zu Beginn des Grundgesetzes zum Hauptprinzip und für unantastbar erklärt. Zum anderen ist nicht immer klar, was mit ihr genau gemeint ist und wie sie sich zu anderen rechtlichen Bestimmungen verhält.
Für mich ergibt sich ein besonderes Problem: Die Menschenwürde ist der Theologen liebstes Kind geworden, denn sie lässt sich mit zentralen religiösen und ethischen Vorstellungen eines aufgeklärten Christentums verbinden. Doch was bedeutet dies für die theologische Urteilsbildung über konkrete Streitfragen, zum Beispiel für die Kontroverse über Abtreibungen?
Da fand ich zwei Artikel in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" in letzter Zeit besonders hilfreich. Im ersten diskutierte der ehemalige Verfassungsrichter Dieter Grimm den Widerspruch, dass die Menschenwürde zum einen absolut gilt, sie also nicht mit anderen Rechtsgütern abgewogen werden darf, zum anderen aber Tötungen keineswegs immer ausgeschlossen sind. Man darf die Menschenwürde antasten, aber in das Recht auf Leben eingreifen? Es gibt offenbar Tötungen (z.B. in einem militärischen oder polizeilichen Einsatz), die nicht gegen die Menschenwürde verstoßen.
Die Absolutheit der Menschenwürde lasse sich also nur durchhalten, wenn sie eng gefasst werde: "Je weiter man sie fasst, desto häufiger kommt es zu Konflikten mit anderen Rechten, die dann nach Abwägungen geradezu verlangen, wegen der Absolutheit aber nicht vorgenommen werden dürfen." Auf die Abtreibungsdebatte angewandt, heißt das wohl, dass der Hinweis auf die Menschenwürde allein kein Argument für ein Verbot von Abtreibungen sein kann.
In einem Streitgespräch mit seinem konservativen Kollegen Christian Hillgruber hat der Verfassungsrechtler (und Doktorvater von Frauke Brosius-Gersdorf) Horst Dreier diesen Gedanken weitergeführt. Er weist darauf hin, dass im jetzigen Abtreibungsrecht sehr wohl Abwägungen und Abstufungen vorgenommen würden, obwohl dies eigentlich nicht statthaft sei. Ein anderer Widerspruch sei, dass eine Abtreibung als rechtswidrig gelte, aber als rechtmäßig behandelt werde. Dies erkläre sich daraus, dass das Verfassungsgericht 1993 mit einem Kompromiss einen fast unheilbaren Konflikt lösen musste – und gelöst hat: "Sosehr ich dieses Urteil wegen seiner Inkonsistenz kritisiere, so sehr erkenne ich seine befriedende Funktion durchaus an. Life is not logic, könnte man sagen."
Könnte es sein, dass der Kompromiss von 1993 sein Lebensende erreicht hat? Dann müsste er durch einen anderen Kompromiss ersetzt werden, würde ich meinen. Denn wie toxisch die Debatte verläuft, wenn jede Seite ausschließlich gewinnen will, lässt sich gegenwärtig in den USA beobachten. Aus einer Lebensfrage für Frauen und werdende Kinder wird dann ein Spiel unversöhnlicher Kulturkämpfer.
Warum die Debatte in den USA zum Glück noch anders verläuft als hierzulande, dazu habe ich eine – vollkommen unwissenschaftliche – These anzubieten.
Mir scheint, dass hier zwei gegensätzliche Vorstellungen von "Erbsünde" miteinander kämpfen. Denn warum konnte der Kampf gegen die Abtreibung dort solch eine mobilisierende Kraft entfalten? Natürlich ist für fromme Christen jede Abtreibung ein Problem. Andererseits wurde dies von ihnen nicht immer politisiert und das Verbot von Abtreibungen zu einer Aufgabe des Staates erhoben. Dafür waren die konservativen Christen viel zu staatskritisch. Für sie ging es um eine Frage der persönlichen Moral.
Das änderte sich mit der Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre: Hier wurden die Sklaverei und der Rassismus zur Ur- und Erbsünde – besonders der Südstaaten – erklärt. Um dieser massiven Beschämung der Liberalen aus dem Norden etwas entgegenzusetzen, erklärten die Konservativen aus dem Süden nun die Abtreibung zur Ur- und Erbsünde der säkularen Moderne. Wie gesagt, das ist nur eine Vermutung, aber sie gibt eine Ahnung davon, welche Probleme man sich einhandelt, wenn man politische und kulturelle Konflikte theologisch hochzieht.
Last but not least, neben verfassungsrechtlichen Erörterungen über die Menschenwürde von Frauen und werdenden Kindern in Schwangerschaftskonflikten stellt sich noch die Frage, was Frauen dabei denken und empfinden, was ihnen hilft oder schadet. Wer dafür einen Sinn bekommen möchte, der besuche das Folkwang-Museum in Essen, wo noch bis zum 7. September eine Paula Rego-Ausstellung zu sehen ist. Diese großartige britisch-portugiesische Künstlerin hat mit einem Zyklus aus Pastell-Zeichnungen und Grafiken Geschichte geschrieben. Um die portugiesische Bevölkerung dafür zu gewinnen, an einer Volksabstimmung für ein humanes Abtreibungsrecht teilzunehmen, hatte sie gezeigt, wie Abtreibungen unter den Bedingungen eines Verbots, also außerhalb einer regulären Klinik aussehen und sich anfühlen: junge Frauen in unterschiedlichen Posen kurz nach einem illegalen Eingriff. Es sind tief verstörende, überaus mehrdeutige Bilder, die sich schwer in Worten beschreiben lassen, die aber eine Ahnung davon, worum es hier geht – jenseits aller abstrakten Rechtsdebatten.
Rego hat keine Propaganda betrieben, sondern das getan, was ihr Beruf war: Als Künstlerin hat sie Kunstwerke geschaffen, in denen sich viele Frauen wiedererkannt haben: Denn trotz aller Verbote während der Salazar-Diktatur und noch danach, wurden in Portugal stets und ständig Abtreibung vorgenommen, allerdings auf eine sehr unwürdige und gefährliche Weise. Manchmal entfaltet Kunst Wirkung: Die Volksabstimmung wurden gewonnen.
Die Paula Rego-Ausstellung "The Personal and The Political" im Folkwang Musem in Essen läuft noch bis zum 7. September 2025.