Der Saal ist bis auf den letzten Platz gefüllt, einige Zuhörer müssen stehen. Das Publikum im Dominikus-Brock-Haus des Kölner Alexianer-Krankenhauses besteht überwiegend aus Psychologiestudierenden und Therapeutinnen, für sie ist der Vortragende ein Superstar: Otto Kernberg gilt als der bekannteste und wohl auch älteste lebende Psychoanalytiker der Welt.
"Er sieht erstaunlich gut aus für sein Alter", flüstert eine Besucherin, als Kernberg seinen knallroten Rollator abstellt und die Bühne betritt. Dass er Ende Oktober 2025 mit seinen 97 Jahren noch aus den USA nach Köln gereist ist, mag auch daran liegen, dass sein Thema drängend ist: "Problematische Persönlichkeiten als Herrscher der Welt." Denn weltweit gelangen immer mehr Menschen mit narzisstischer Persönlichkeit an die Macht – und das nicht ohne Folgen: Erstmals seit 20 Jahren gibt es einer Bertelsmann-Studie zufolge mehr Autokratien als Demokratien.
Anteile narzisstischer Persönlichkeitszüge seien sogar gesund und Teil einer guten Führung, so der Psychoanalytiker in seinem Vortrag. Davon grenzt Kernberg den bösartigen, "malignen" Narzissmus ab: "Das Gefühl besonderer Großartigkeit, die Verachtung anderer und intensiver Neid." Dazu komme antisoziales Verhalten, das sich ausbeutend und aggressiv zeige. "Man sieht überall Feinde, wo gar keine sind." Diese Form des Narzissmus sei zurzeit bemerkenswert oft an der Spitze der Weltpolitik zu sehen. Laut Kernberg ist es typisch für bösartige Narzissten, sich nach oben zu kämpfen, sowohl in Unternehmen und Institutionen als auch in der Politik.
Als Neunjähriger ruft er begeistert "Heil Hitler"
Kernberg, geboren 1928 in Wien, hat einen der bösartigsten Narzissten selbst erlebt: 1938, als Adolf Hitler in Wien einzog und er als Neunjähriger arglos am Straßenrand stand und mit der begeisterten Menge "Heil Hitler" rief – nicht ahnend, dass dieser Mann ihn und seine Familie vernichten wollte.
Kurz darauf musste er mitansehen, wie seine jüdischen Eltern auf offener Straße schikaniert wurden. Er war dabei, als SA-Männer seine Mutter zwangen, auf Knien den Bürgersteig zu waschen, während sich eine Menschentraube versammelte und sie verspottete.
Lesetipp: War mein Opa ein Nazi?
Um dem nationalsozialistischen Regime zu entkommen, floh die Familie über Italien nach Chile. 1961 wanderte Kernberg in die USA aus, wo er noch heute lebt, und wurde dort zur Autorität für Persönlichkeitsstörungen.
Es gehört zur Ironie seines Lebens, dass sich seine Praxis jahrzehntelang nur wenige Straßen vom Trump Tower entfernt befand. Dort entwickelte er die Übertragungs-fokussierte Psychotherapie (Transference-focused Psychotherapy, TFP), die heute Standard in der Behandlung von Borderline-Patienten ist. Diese hatten lange als nicht behandelbar gegolten. In der TFP werden mit Hilfe der Beziehung zwischen Therapeut*in und Patient*in unbewusste Beziehungsmuster sichtbar gemacht, um sie zu verstehen und zu verändern.
Vor allem in Krisenzeiten sehnt sich eine Gesellschaft laut Kernberg nach einem narzisstischen Anführer, nach einer "großartigen Persönlichkeit", die sich nach außen abgrenzt und damit das Gefühl von "Einheit, Freiheit, Sicherheit und Zusammenhalt" vermittelt. Das politische Verhalten von US-Präsident Donald Trump und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin zeige Symptome des bösartigen Narzissmus.
Eine Diagnose könne er aus der Ferne jedoch nicht stellen – Kernberg hält sich strikt an die sogenannte Goldwater-Regel, die das Attestieren psychischer Störungen ohne persönliche Untersuchung als unethisch ablehnt. Eine Regel, die nicht etwa nach einem Psychiater, sondern nach einem Politiker benannt wurde: Barry Goldwater hatte 1964 die US-Präsidentschaftswahlen gegen den damals amtierenden Präsidenten Lyndon B. Johnson verloren, nachdem ihm fast 1200 Psychiater öffentlich die psychische Eignung fürs Präsidentenamt abgesprochen hatten.
Würde Otto Kernberg heute Trump, Erdoğan oder Putin behandeln, würden deren Hass und Größenwahn vermutlich ein wenig kleiner werden und weniger Schaden anrichten. Dass einer dieser Männer jedoch eines Tages in Kernbergs Praxis erscheint, sich auf die Analytiker-Couch legt und sich auf eine Therapie einlässt, ist mehr als unwahrscheinlich.
Was also tun gegen gefährlichen Narzissmus an der Spitze der Weltpolitik? Kernberg sagt: Aufklärung und Gegenwehr. Junge Menschen müssten in der Schule lernen, dass blinde Gruppenzugehörigkeit die Demokratie gefährde.
Zudem solle die Opposition wie die Demokratische Partei in den USA die demokratischen Werte offensiv vertreten. "Die Geschichte hat gezeigt, dass man sich wehren muss", sagt Kernberg. Noch sind die Proteste gegen die Lügen der Trump-Administration nicht laut genug, warnt der Psychoanalytiker: "Es sieht nicht gut aus in den USA." Wenn Trump nicht gestoppt werde, mache er aus den Vereinigten Staaten eine Diktatur.
Otto Kernberg hat seine Arbeitszeit kürzlich reduziert: von 60 auf 50 Stunden pro Woche. Noch immer hält er mehrstündige Vorträge und gibt im Anschluss Interviews. Und so will er auch weitermachen: "Solange es mir Vergnügen macht." Seine öffentlichen Auftritte bereiten ihm zwar zunehmend Schwierigkeiten: So kann er etwa kaum noch hören – wer in der anschließenden Fragestunde das Wort an ihn richten will, muss das mit Stift und Papier tun. Umso klarer und geistreicher fallen dann die Antworten des 97-Jährigen aus, den die Dringlichkeit des Themas spürbar umtreibt.



