Wenn Gedanken sich verheddern – Symbol für psychische Überforderung
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Psychologische Diagnosen
Wie wir Menschen für krank erklären, statt ihnen zu helfen
In den sozialen Medien nutzen viele Menschen psychologische Diagnosen leichtfertig. Psychotherapeut Thorsten Padberg warnt: So geraten normale Erfahrungen schnell in ein krankhaftes Licht
Privat
04.11.2025
7Min

chrismon: Herr Padberg, ich bin in einer Whatsapp-Gruppe, in der neulich jemand voller Freude verkündet hat, dass er jetzt offiziell ADHS hat. Woran liegt es, dass man heutzutage Diagnosen herbeisehnt, die man früher lieber nicht haben wollte?

Thorsten Padberg: Ich glaube, viele Menschen sind mit sich unzufrieden. Mit dem, was sie leisten oder wie sie im sozialen Umfeld klarkommen. Die Diagnose ist ein Weg, aus dieser Unzufriedenheit herauszukommen.

Inwiefern hilft das?

Wir leben in einer Zeit des sogenannten "Brain or Blame"-Dilemmas. Entweder ist es ein persönliches, schwerwiegendes Defizit oder es muss eine andere Ursache haben. Diese Ursache soll heute eben das Gehirn sein, das anders funktioniert. Für viele ist das angenehmer, als zu sagen: Vielleicht bin ich einfach nicht so leistungsfähig oder sozial, wie ich es gern wäre oder wie es erwartet wird. Und es gäbe viele weitere mögliche, durchaus schwerwiegende Ursachen für Aufmerksamkeits- und Aktivitätsprobleme.

Thorsten PadbergCaroline Pitzke

Thorsten Padberg

Thorsten Padberg (Jahrgang 1969) ist Psychotherapeut, Autor und Journalist. Er leitet den Schwerpunkt Verhaltenstherapie der Berliner Akademie für Psychotherapie, ist wissenschaftlicher Beirat "Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis" sowie Supervisor und Dozent in der Ausbildung zum Psychologischen Psychotherapeuten. 2021 erschien sein Buch "Die Depressions-Falle" (S. Fischer, 272 Seiten, 23 Euro).

Man schiebt also die Verantwortung auf die Biologie.

Ja, es gäbe aber auch andere Möglichkeiten, Verantwortung weiterzugeben. An unsere Lebensumstände zum Beispiel. Elektronische Medien konfrontieren uns heutzutage mit extrem vielen Reizen. Das hat den Nachteil, dass die Konzentrationsfähigkeit massiv sinkt. Ich merke zum Beispiel, dass ich mich immer schlechter auf längere Texte konzentrieren kann. Entweder entwickle ich jetzt auch langsam ADHS oder aber es liegt einfach daran, dass ich zu viel am Handy hänge.

Sie sehen biologische Erklärungen kritisch. Warum?

Mich stört, dass die sozialen Erklärungen nicht ernst genommen werden. Was daran liegt, dass diese nicht so gut als Entschuldigung taugen. "Jeder ist seines Glückes Schmied", heißt es in unserer Leistungsgesellschaft. Aber auch: "Jeder ist seines Glückes Dieb." Wer etwas nicht schafft, der ist selbst schuld. Aus dieser Verantwortungsfalle kommt man mit einer Diagnose leichter heraus, als wenn man versuchen würde, die Umstände zu ändern.

Aber es gibt doch auch biologische Gründe für ADHS. Da soll ein Dopaminmangel die Ursache sein.

Das arme Dopamin. Das trägt inzwischen für so viele verschiedene psychische Störungen die Verantwortung. Das hat bestimmt auch ADHS und kann sich nicht konzentrieren und macht deswegen alle Störungen gleichzeitig. Aber nein, es gibt keinen einzigen sogenannten Biomarker für ADHS. Diese ganzen Studien sind zuverlässig unzuverlässig. Von über 300 psychischen Störungen konnte bis heute keine einzige auf eine biologische Ursache zurückgeführt werden. Das ist alles Kaffeesatzleserei.

Und trotzdem versuchen Psychologen weiterhin, in der Biologie etwas zu finden?

Ja, die Psychologie hat ein schlechtes Selbstbewusstsein. Man will etwas Handfestes haben. Deshalb schauen Psychologen ständig zu den Neurowissenschaften hinüber und finden Gehirnscans und Genstudien so spannend. Ein großer Teil der Gelder fließt in die Bioforschung. Dabei war das die vergangenen 30 Jahre erfolglos, warum sollte es in den nächsten 30 Jahren funktionieren?

Das ADHS-Konzept hat sich stark verändert. Das war ein Begriff, der zu Beginn für mehr oder weniger antisoziale Kinder verwendet wurde. Inzwischen ist es geradezu eine Auszeichnung. In einer neuen Studie ist herausgekommen, dass ADHS-ler unfassbar kreativ sind. Wenn man alles, von Kindern, die quasi nichts tun, bis zu gefeierten Künstlern, unter denselben Begriff packt, dann ist es kein Wunder, dass die Forschungslage uneinheitlich ist.

Aber weisen Genstudien nicht gewisse Muster nach?

Dabei wird übersehen, dass familiär häufiger auftretende Probleme nicht notwendigerweise an der geteilten Genetik liegen. Familien leben eben auch im gleichen Umfeld. ADHS ist extrem weit auslegbar. Deshalb findet man sich schnell darin wieder. ADHS bei Frauen soll fast vollständig nach innen gerichtet sein, der ganze Hyperaktivitätsteil fehlt. Wie sollte all dem eine einheitliche Biologie zugrunde liegen? Gleichzeitig werden immer mehr Menschen diagnostiziert. Aber ist das sinnvoll? Ich würde sagen: nicht unbedingt.

"Wenn ich anfange, immer mehr, was mir in den beiden Bereichen nicht gefällt, als gestört anzusehen, bleibt irgendwann nichts Normales mehr übrig."

Thorsten Padberg

Warum nicht?

Wenn ich bestimmte Eigenschaften in den Bereich des Krankhaften verschiebe, entlastet das viele. Aber zu welchem Preis? Die Schuld wird vermindert, was ich wertvoll finde. Der Preis dafür ist aber häufig Hoffnungslosigkeit und Fatalismus: "Mein Gehirn ist halt so, da kann ich jetzt nichts mehr machen – außer eben Medikamente zu nehmen oder zu einer Psychotherapeutin zu gehen."

Gleichzeitig ist es auch eine Form von Diskriminierung. Viele Patienten haben mir erzählt, dass ihr Umfeld verständnisvoller auf Probleme reagiert, aber sie teilweise nicht mehr eingeladen werden, weil Freunde oder Kollegen sagen: "Wir wissen ja, dass du das gar nicht können kannst."

Und noch etwas: ADHS ist eine Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung. Wenn ich anfange, immer mehr, was mir in den beiden Bereichen nicht gefällt, als gestört anzusehen, bleibt irgendwann nichts Normales mehr übrig. Dann wird der komplette Alltag zur Fundgrube für Krankheitssymptome. Das ist eine triste Sicht auf Menschen.

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Wenn es keine biologischen Ursachen gibt, warum wirken dann die Medikamente?

Bei ADHS sind die Medikamente häufig aus dem Kreis der Stimulanzien. Diese wirken auch bei all jenen, die keine Symptome haben. Die meisten Menschen, die diese Substanzen einnehmen, berichten über einen verbesserten Fokus und ein gesteigertes Selbstbewusstsein. Eine aktuelle Studie hat gezeigt, dass Kinder dadurch weniger den Unterricht stören, aber sich ihre akademische Leistung nicht verbessert.

Welche sozialen Lösungsansätze für psychische Probleme sehen Sie denn?

Es gibt diese Geschichte von der "Königin der Usambaraveilchen". Da sitzt eine arme alte Frau seit Jahren depressiv in ihrem großen, dunklen und verwahrlosten Haus. Ihr Neffe bittet den US-amerikanischen Psychotherapeuten Milton Erickson, bei ihr vorbeizuschauen. Dieser ist zufällig in der Gegend, hat aber nur wenig Zeit. Als er durch das Haus geht, findet er ein einziges Zimmer, das nicht verwahrlost ist. Dort züchtet die alte Dame Usambaraveilchen.

Im Gespräch sagt Erickson dann zu ihr: "Das Problem ist nicht, dass Sie depressiv sind. Das Problem ist, dass Sie keine gute Christin sind." Die Frau reagiert empört und erklärt, dass sie jeden Sonntag in die Kirche gehe. Erickson entgegnet: "Aber Sie haben dieses Talent für Blumen und nutzen es nicht. Ab jetzt bringen Sie zu jeder Geburt und jedem Todesfall ein selbst gezüchtetes Veilchen mit." Und dann verlässt er die Frau auch schon. Jahre später liest er in der Zeitung: "Königin der Usambaraveilchen von Tausenden Trauergästen zu Grabe getragen".

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Es gab kein psychotherapeutisches Gespräch und keine Medikamente?

Genau. Anfangs hat sie sich wahrscheinlich hingeschleppt, dann aber relativ schnell ihre Rolle in der Gemeinde gefunden. Die Geschichte wird oft so missverstanden, dass man seine Talente nutzen muss. Was dabei vergessen wird, ist, dass es dafür eine funktionierende Gemeinschaft braucht. Eine Gemeinschaft, in der man sich noch besucht, in der es ein Kirchenblättchen gibt, in dem man lesen kann, wer gestorben und wer geboren ist, und in der es die Tradition des sich gegenseitig Besuchens gibt. Wenn es das alles nicht mehr gibt, dann steht die Frau mit ihren Blumen vor verschlossener Tür und fährt noch deprimierter nach Hause.

Aber wenn Strukturen wie Kirchen, Gewerkschaften, Parteien und Vereine anfangen zu bröckeln, bleibt nur noch die Psychotherapie. Nur benötigt man dort eine Diagnose, um Hilfe zu erhalten.

Ja, es gibt auch ganz praktische soziale und materielle Gründe, warum man sich nach Diagnosen sehnt. Ohne sie bekomme ich keine bezahlte Unterstützung, keine Krankschreibung, keine Lernhilfe, keine Sonderregeln bei Prüfungen.

"Wir bringen die Menschen durch schlecht gemachte Aufklärungsarbeit dazu, sich selbst so negativ zu sehen, dass es ihnen schlechter geht."

Thorsten Padberg

Wie kommt es dazu, dass psychologische Diagnosen immer mehr Symptome umfassen?

Das liegt an sogenannten Looping-Effekten. Je häufiger psychologische Begriffe in der Öffentlichkeit benutzt werden, umso ungenauer werden sie. Dann gilt alles Mögliche als ADHS, was offiziell gar nicht dazugehört. Und dann steigt die Zahl der Diagnosen. Das liegt daran, dass sich Fachleute und Laien gegenseitig beeinflussen.

Wenn ein Patient mit einem Symptom in die Praxis kommt, kratzt sich der Psychologe am Kopf, bis ein Kollege auf die Idee kommt zu sagen: Ach, das ist auch ein Teil von ADHS. Das kommt dann sofort wieder in den sozialen Medien. Und so finden sich noch mehr Leute darin wieder, die dann auch wieder in den Praxen landen. Und am Ende steht das Symptom im Diagnosekatalog.

Welche Rolle spielen dabei Mental-Health-Influencer?

Über Influencer verbreitet sich das Wissen um psychische Störungen rasant, besonders in der jungen Bevölkerung. Leider oft sensationell aufbereitet und falsch verstanden. Während der Pandemie gab es eine Welle von unechten Tourette-Störungen, die sich über soziale Medien verbreitet hatten. Die Ärzte in den Kliniken wunderten sich über die plötzlichen Massen von Betroffenen, die zum allergrößten Teil keine typischen Tourette-Symptome zeigten, sondern unbewusst das nachmachten, was sie online gesehen hatten.

Wann wird es problematisch, dass Diagnosen sich verändern?

Der Psychologe Ken Gergen nennt das den "Zirkel zunehmender Zerbrechlichkeit". Wenn wir anfangen, psychisches Geschehen immer häufiger als krankhaft zu beschreiben, werden wir mehr Leid schaffen. Das mag auch ein Grund dafür sein, dass die Zahlen psychisch Kranker weiterhin steigen. Und zwar trotz vermehrter erfolgreicher Behandlungen. Wir bringen die Menschen durch schlecht gemachte Aufklärungsarbeit dazu, sich selbst so negativ zu sehen, dass es ihnen schlechter geht. Das ist übrigens eine Vermutung, zu der auch das Robert-Koch-Institut forscht.

Müssen wir lernen, dass man auch traurig sein kann, ohne darin gleich eine Depression zu sehen?

Das ist eine knifflige Frage. Am Looping ist problematisch, dass wir irgendwann keine Möglichkeit mehr haben, die Dinge anders zu beschreiben. Die Menschen, die ADHS oder Depressionen haben, sind anhand ihrer Symptome natürlich richtig diagnostiziert. Aber es lässt sich nicht trennen, ob das eine Beschreibung oder eine Krankheit ist.

Und wie kann man es besser machen?

Ich bin dafür, weniger so zu sprechen und zu schreiben, als entspräche psychisches Leid einer Krankheit im Sinne der Medizin. Es gibt den Hashtag "not just sad". Der soll darauf hinweisen, dass man eine richtige Krankheit hat. Warum nicht einfach "very very sad"? Ist das nicht schlimm genug? Da hat man auch schon Hilfe verdient. Man muss sich nicht dafür schämen, dass es einem schlecht geht oder wenn man etwas nicht schafft.

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