Tradition Schuhplatteln
Sepp, der Schwuhplattler
Sepp Stückl und sein bayerischer Trachtenverein zeigen, dass Heimatverbundenheit und queere Identität kein Widerspruch sein müssen. Eine Begegnung mit einem Mann, der Brauchtum anders lebt
Sepp Stückl (links) und Schuhplattler (rechte Seite)
Johanna Lohr / Veto
19.11.2025
8Min

Mit der flachen Hand auf Schuhsohlen, Knie und Oberschenkel schlagen, gleichzeitig hüpfen und mit den Füßen auf den Boden stampfen. Beim sogenannten Schuhplatteln passiert alles auf einmal. Es braucht vollen Körpereinsatz, ein gutes Taktgefühl und eine einwandfreie Koordination von Ober- und Unterkörper. Einer, der das im Schlaf beherrscht, ist Sepp Stückl. Seit jeher begleitet Schuhplatteln den gebürtigen Uffinger vom Staffelsee. Schon als Kind prägte der urbayerische Tanz seine Identität – und er begleitet den Mittsiebziger bis heute.

Die Tanzenden tragen für gewöhnlich die Tracht ihres Vereins: Lederhose, weißes Hemd, Haferlschuhe, Trachtenhut mit Gamsbart oder Federn und Trachtenstrümpfe oder Loferl – traditionelle Wadenwärmer aus Wolle. Schuhplatteln war als Balztanz vor allem unter Bauern und Jägern verbreitet, die so um Frauen warben. Ab dem 19. Jahrhundert wurde der Schuhplattler ziemlich populär und es bildeten sich feste Vereine. Einen gründete Stückls Großvater am Staffelsee 1907, dem Sepp Stückl bis heute angehört. Mit 18 Jahren wurde er zum Schriftführer gewählt, mit 21 übernahm er bereits den Vorsitz.

Doch es kam ein Punkt in seinem Leben, an dem der Verein sich nicht mehr nach Zuhause anfühlte: "Seit meiner Kindheit war ich bei den Plattlern und wollte nie Fußball spielen. Beim Tanzen waren meine engsten Freunde. Als ich ihnen aber zeigte, wer ich wirklich war, ließen sie mich fallen", erzählt der Schuhplattler-Veteran.

Der Oberbayer war 28, als es in seinem Kopf – wie er sagt – "gschnacklt", also klick gemacht hat. In der Sauna habe ihn ein Mann offensiv angeflirtet. Ziemlich unangenehm sei ihm das damals gewesen, erzählt Stückl und lächelt verlegen, während er in kreisenden Bewegungen in seiner Kaffeetasse rührt.

"In die Sauna bin ich eh nicht gern gegangen, aber dieser erste Besuch hatte es gleich in sich." Als Stückl die Flirtversuche abblockte, habe sich der Mann entschuldigt und ihm den Rat mitgegeben, bloß nicht zu heiraten. "Ich war so verwirrt und bin ewig in der Sauna sitzen geblieben. Mit heiraten meinte er natürlich eine Frau."

Stückl schmunzelt über seine eigene Geschichte. Der eher zierliche Mann mit den sportlichen Unterarmen und kräftigen Händen bezeichnet sich selbst als "Spätberufener", der schon als Jugendlicher hätte ahnen können, dass er auf Männer steht. "Damals in den Siebzigern waren wir nicht so informiert wie heute. Dass ich anders war, habe ich aber gespürt."

"Ich dachte mir, ich bin zwar so, aber doch nicht so"

Die ersten Jahre nach seinem Erlebnis in der Sauna führte Sepp Stückl so etwas wie ein Doppelleben. Seinem Umfeld erzählte er in dieser Zeit nichts über das, was er fühlte. Stattdessen tauchte er im gut 70 Kilometer entfernten München in die Schwulenszene ein, lernte dort neue Menschen kennen und machte mit Ende 20 erste sexuelle Erfahrungen.

Mit Anfang 30 outete er sich vor seiner Familie, seinen Freunden im Verein und bei der Arbeit. Auslöser war die Beziehung zu einem Mann, der wie er vom Land kam und ihn verstanden habe. Er ermutigte ihn auch, nicht abzustreiten, wer er ist. "Ich kannte Schwule nur aus den Medien, das waren extravagante Künstler oder Filmregisseure. Mit denen konnte ich mich nicht identifizieren. Ich dachte mir, ich bin zwar so, aber doch nicht so." Stückl senkt den Kopf.

Sein Bruder fragte ihn damals, ob es dafür einen Arzt gäbe. "Das war nicht böse gemeint, er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Mein Vater tat sich schwer, darüber zu sprechen, aber er hat mich genauso liebevoll behandelt wie vor meinem Outing." Die Familie habe hinter ihm gestanden. Verständnis, das ihm nicht von allen entgegengebracht werden sollte.

Tanzen als Konstante

Sepp Stückl hat sein Leben lang getanzt. Standard in der Wirtschaftsschule, Rock ’n‘ Roll oder Foxtrott in der Münchner Partyszene, doch dazwischen war das Schuhplatteln immer präsent. Umso härter war also der Schlag, als seine Kameraden ihm zu verstehen gaben, dass sie mit seinem neuen Leben nichts anfangen konnten: "Sobald ich einen Partner mitbrachte, haben sie ihn absichtlich ignoriert. Das waren ja nicht nur irgendwelche Vereinsmitglieder, sondern meine Freunde." Stückl erinnert sich, wie ihm nahegelegt wurde, bei Geburtstagen alleine zu kommen, obwohl alle mit ihren Frauen da waren. Das hat ihn tief verletzt, einknicken wollte er aber nicht.

Deshalb machte er den Mitgliedern klar, dass er nicht der "Depp" sei, der alles organisiert, verwaltet und sich kümmert. "Entweder ich komme zu zweit oder gar nicht!" Nachdem sich ihr Verhalten nicht änderte, zog er eine harte Konsequenz: "Ich sagte, ich kandidiere nicht mehr und gebe meinen Posten als Vorstand ab."

Weil sich niemand Neues fand, musste der Oberbayer das Amt noch ein halbes Jahr weiter ausführen. So war es in der Satzung festgelegt. Bis heute gehört er dem Verein offiziell an, jedoch nur auf dem Papier. Mit dem alten Mitgliederkreis habe er so gut wie nichts mehr zu tun. Sie hatten ihn nicht zu Jubiläen eingeladen und nach einem TV-Beitrag dazu geraten, nicht mehr öffentlich mit dem Verein aufzutreten, weil sie nicht mehr für Stückls Sicherheit garantieren könnten. Heute kann er darüber lachen, doch das hat gedauert.

Bis heute trägt Stückl auch in seiner Freizeit Tracht. Als junger Mann sei er in Lederhose in München unterwegs gewesen. So habe er andere schwule Männer kennengelernt, die gerne Schuhplatteln, in ihren Vereinen aber nicht mehr willkommen waren. "Einige baten mich, mal eine Plattlprobe zu organisieren. Auch ein Musiker war dabei, dem sein Vorstand gesagt hatte, er dürfe nicht mehr kommen, weil er schwul sei."

Daraus entstand 1997 die erste Plattlerprobe für schwule Männer. Am Anfang war es gar nicht so einfach, auf einen Nenner zu kommen. Ähnlich wie beim Dialekt unterscheiden sich auch die Tänze von Region zu Region. Jeder schlage anders, obwohl die Musik oft dieselbe sei. Das Grundverständnis, dass alle willkommen waren und sich niemand ausgeschlossen fühlte, sei jedoch von Anfang an das Bindeglied gewesen. Aus losen Treffen entstand 2001 schließlich der erste Verein für schwule Schuhplattler: die Schwuhplattler waren geboren.

Den Volkstanz traditionsbewusst bewahren. Das liegt Vereinsgründer Stückl und genauso den Mitgliedern am Herzen: "Ich will nicht, dass die Leute denken, wir würden das Brauchtum missbrauchen. Ich bin da schon immer streng gewesen, dass jeder ordentlich daherkommt, mit anständigem Hemd und Lederhose, Hosenträgern, Hut und Haferlschuhen. Wir sind ja kein Faschingsverein", stellt er klar.

Der einzige Unterschied zu den meisten anderen Plattlvereinen: Die Schwuhplattler treten öffentlich für queere Rechte ein und europaweit auf – bei CSDs, auf dem Oktoberfest, bei der Welt-Aids-Konferenz oder beim Herbstball des schwul-lesbischen Tanzclubs. Unter den 130 Mitgliedern ist auch Stückls Ehemann, den er 1994 kennenlernte. Bei Auftritten stehe er selbst nicht mehr auf der Bühne, das sei ihm körperlich zu anstrengend.

Vorbild und Störenfried

Gegenwind bekomme Stückls Verein seit seiner Gründung: "Als die ersten Interviews mit uns erschienen, hat uns der Trachtenverband ‚asozial‘ genannt. Sie unterstellten uns, wir würden das Brauchtum ausnutzen. Heute sind das nur noch vereinzelte Stimmen." In der Trachten- und Verbandszeitung habe nicht mal der Name "Schwuhplattler" gestanden, die Rede sei von "plattelnden Randgruppen" gewesen. Erst zwei Jahre später sei das korrigiert worden.

Die Schwuhplattler sind ein eigenständiger Verein. Nationalität oder Geschlecht sind egal. Es gibt Plattelnde aus Schweden, Kolumbien, Brasilien, Belgien und aus allen Teilen Deutschlands. Waren es anfangs nur schwule Männer, die sich für die Schwuhplattler interessierten, sind inzwischen auch zwei Frauen Mitglied. Aus der zusammengewürfelten Gruppe ist inzwischen ein fester sozialer Kreis geworden und es sind sogar Partnerschaften entstanden.

Mit ihren Auftritten leisten die Schwuhplattler seit fast drei Jahrzehnten einen wichtigen Beitrag zur Sichtbarkeit von queerem Leben. Vor gut 20 Jahren porträtierte ein TV-Team die Gruppe und ihren Gründer Stückl. Nach der Ausstrahlung stand sein Telefon nicht mehr still: "Mich riefen viele ältere Leute an, die selbst schwul sind, aber nie zu sich standen, darunter sogar Priester." Alle wollten Tipps von ihm, manche einfach nur einen Menschen, der ihnen zuhört. "Ich hab ihnen Mut zugesprochen, gab ihnen Nummern von Beratungsstellen. Mehr konnte ich nicht tun", erinnert sich Sepp Stückl.

Zu dieser Zeit arbeitete Stückl noch in einer Bankfiliale in Uffing, wo Menschen aus seinem Dorf ein und aus gingen. Viele sprachen ihn auf den Beitrag an – manche aber nur dann, wenn niemand zusah. "Seit ich dich kenne, denke ich über die Schwulen ganz anders", sagte eine Bekannte einmal zu ihm. Sein prägendstes Erlebnis war allerdings ein langes Gespräch mit einer älteren Dame. Einer ihrer Cousins habe sich als Jugendlicher geoutet. Sie habe das zur Kenntnis genommen, tat aber nichts. "Einige Zeit später hat er sich das Leben genommen und niemand wusste wieso. Ich war der Erste, dem sie das erzählt hat, 60 Jahre danach."

Für viele war Sepp Stückl nun so etwas wie ein Anker, ein Vorbild für jene, die sich noch nicht trauten, ihre Sexualität offen auszuleben. Für andere war er ein Sonderling, ein Störenfried, der das Brauchtum in den Dreck zog oder jemand, der nicht in der Öffentlichkeit zu sehen sein sollte. Auch der oberste Chef seiner Bank habe ihn ohne Begründung vom Beraterposten abziehen wollen, irgendwohin, wo er nicht so präsent war. Eine befreundete Anwältin riet ihm, den Chef zu fragen, was er falsch gemacht habe. "Ich habe ihm im Gespräch gesagt, dass ich ihn ja auch nicht frage, mit wem er ins Bett geht. Daraufhin hat er mich angesehen und nichts mehr gesagt." Stückls sonst so bedachte, ruhige Stimme wird laut und er beginnt, losgelöst zu lachen. Voller Stolz erfüllt über das, was er sich damals getraut hat.

Im Oktober 2022 erhielt Sepp Stückl den Bayerischen Verdienstorden – für sein Engagement und dafür, den ersten schwulen Plattler- und Trachtenverein der Welt gegründet zu haben. Die Zeiten sind besser geworden, bemerkt er, die Menschen offener. Und trotzdem sind nicht alle Mitglieder der Schwuhplattler bei den Auftritten dabei. Zu groß sei immer noch die Angst, sich öffentlich zu outen und erkannt zu werden. Sepp Stückl weiß, dass vielen das unterstützende Umfeld fehle. Er selbst hält es da wie sein Mann, der immer sagt: "Wenn wir uns verstecken, haben wir ein Problem. Wenn wir es nicht tun und sie uns nicht wollen, dann haben sie eins."

Dieser Text erschien zuerst im Veto Magazin und wurde von der chrismon-Redaktion redaktionell bearbeitet und aktualisiert.

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