NS-Zeit
"Nach 1945 ging die Verfolgung weiter"
Die Historikerin Stefanie Schüler-Springorum erzählt im Interview, wie ehemalige KZ-Häftlinge nach dem Krieg drangsaliert und ausgegrenzt wurden. Gerade ist dazu ihr neues Buch erschienen
Männliche Paare beim Tanz, Frankfurt 1972
Männer tanzen in einem Lokal in Frankfurt im Jahr 1972. Erst drei Jahre zuvor war homosexuelle Liebe legalisiert worden
Abisag Tüllmann / bpk-Fotoarchiv
Lena Uphoff
21.10.2025
5Min

chrismon: Für viele KZ-Insassen ging nach dem Ende der Naziherrschaft die Unterdrückung weiter. Warum?

Stefanie Schüler-Springorum: Weil die Verfolgungsmaßnahmen nicht alle abgeschafft wurden. Etwa für Schwule. Homosexuelle Handlungen standen unter Strafe. Sinti und Roma wurden verjagt, aber auch Menschen, die unter dem Label "asozial" in die Lager gebracht worden waren, wurden oftmals auch nach 1945 drangsaliert. Das waren Obdachlose, Prostituierte, Langzeitarbeitslose oder Menschen, die sich weder in das bürgerliche Leben noch dann in den NS-Staat einfügten. Viele sogenannte "Asoziale" blieben zum Beispiel weiter in Psychiatrien. Das galt auch für Homosexuelle. Sie alle waren auch in der Bundesrepublik unerwünscht.

TU Berlin / ZfA

Stefanie Schüler-Springorum

Stefanie Schüler-Springorum ist Historikerin und seit 2011 Direktorin des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin sowie seit 2012 Co-Direktorin des Selma-Stern-Zentrums für jüdische Studien Berlin-Brandenburg. Zuvor arbeitete sie bei der Stiftung Topographie des Terrors und leitete von 2001 bis 2011 das Institut für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg. Ihre zentralen Themen sind die jüdische, die deutsche und die spanische Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert.

Wie wurden Homosexuelle und ehemalige "Asoziale" nach 1945 überhaupt identifiziert?

Wer bei den Nazis wegen Homosexualität oder als vermeintlicher "Asozialer" ins KZ kam, wurde polizeilich registriert. Die Verwaltung nutzte die Daten auch nach dem Krieg. Einmal schwul – immer schwul. Für Verurteilte gab es keine "Stunde null". In der Bundesrepublik stellte der Paragraf 175 schwulen Sex und selbst Küssen unter Strafe. Das Küssen hatten die Nazis verschärfend unter Strafe gestellt – und die BRD blieb dabei. Die Weimarer Republik war in diesem Punkt liberaler als die Bonner Republik.

Wie sah die Verfolgung Schwuler in der BRD aus?

Es gab große Razzien gegen Homosexuelle in Bars und Kneipen, die als Schwulentreffpunkte galten. Bei den Prozessen während der Fünfzigerjahre wurden oftmals Hunderte Homosexuelle vorgeladen. Die hohen Zahlen kamen daher, dass die Polizei bei ihren Razzien in den vermeintlichen Schwulenbars einfach jeden Gast mit auf die Wache nahm und unter Druck setzte, um die Namen von weiteren Schwulen herauszufinden. Die Prozesse sorgten für große Angst unter Homosexuellen, gerade unter ehemaligen KZ-Häftlingen. Die Scham und die öffentliche Demütigung waren so groß, dass einige der Beschuldigten Selbstmord begingen. Hotspots der Verfolgung waren Frankfurt, Köln, München und Berlin. Erst 1969 wurde schwule Liebe legal, aber nur, wenn die Beteiligten über 21 Jahre alt waren. 1994 endete die strafrechtliche Verfolgung.

Zu wie vielen Verurteilungen kam es?

Zwischen 1949, dem Gründungsjahr der Bundesrepublik, und 1969 gab es 100.000 Ermittlungen wegen Paragraf 175 mit 50.000 Verurteilungen. Da kommt man auf mehrere Verfahren pro Woche. Manche wurden zu Haftstrafen verurteilt, die meisten zu Geldstrafen. Die niedrigsten Strafzahlungen lagen um die fünf Mark. Doch eine Verurteilung als Homosexueller konnte drastische Konsequenzen haben: Man konnte deswegen den Studienplatz verlieren oder gefeuert werden. Freunde und Verwandte grenzten einen aus. Soziale Ächtung war oftmals die Folge. Es ging also um mehr als nur um eine Geldstrafe. All das schaffte für Schwule ein Klima der Angst.

Die Nazis kastrierten Homosexuelle. Wie wurden die Überlebenden in der BRD entschädigt?

Die Kastration war für Homosexuelle die Möglichkeit, aus dem KZ zu kommen. Dort bildeten sie die unterste Stufe in der Lagerhierarchie. Sie wurden nicht nur von der SS gequält, sondern auch von anderen KZ-Häftlingen. Wer sich kastrieren ließ, kam wieder in ein Gefängnis und erhöhte so seine Überlebenschancen. In der BRD kämpften dann Gerichte um jeden Pfennig, um den Kastrierten so wenig wie möglich zu zahlen. Ein Betroffener klagte bis in die 60er-Jahre um eine Entschädigung. Am Ende bekam er 50 Mark monatlich. Daraufhin klagte eine Sozialbehörde auf Senkung der Summe. Der Betroffene bekam dann nur noch 30 Mark im Monat. Erst als er dagegen juristisch vorging, erhielt er wieder die 50 Mark. Das Beispiel zeigt den beschämenden Umgang mit Naziopfern in der BRD.

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Wie wird heute an homosexuelle Verfolgte erinnert?

Da gibt es ein positives Beispiel: Der 27. Januar – Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus – wurde 2023 den homosexuellen Opfern gewidmet – ein wichtiges, wenn auch spät gesetztes Zeichen. Solche Schritte sind emotional bedeutsam, doch sie kommen oftmals erst dann, wenn Überlebende selbst nicht mehr sprechen können. Die Forderung bleibt, das Gedenken inklusiver zu machen und Anerkennungs- und Forschungsprogramme zu etablieren, damit auch schwierigere Opfergruppen – wie die der sogenannten "Berufsverbrecher" – nicht länger übersehen werden.

Der Bundestag hat erst 2020 die Opfergruppe der sogenannten "Asozialen" und "Berufsverbrecher" anerkannt. Warum hat das so lange gedauert?

Die Antwort ist einfach: Dies sind sehr komplexe, schwierige Opfergruppen, die ganz unterschiedliche Lebensgeschichten umfassen und, im Falle der "Berufsverbrecher" zum Teil auch selbst kriminell waren, wenngleich in sehr unterschiedlichem Ausmaß. Eine Erinnerung, so wie wir sie gewohnt sind, verlangt nach klaren Einteilungen in "Gut" und "Böse" und möglichst nach Identifizierung. Da ist oftmals kein Raum für Ambivalenzen und Widersprüche. Das sollte sich mit dem zeitlichen Abstand ändern können.

Frau mit tätowierter Häftlingsnummer auf dem Unterarm, die aus einem KZ stammt. Die Aufnahme entstand 1971 in einer Wohnwagensiedlung der Sinti und Roma in Mainz

Wie wurden Sinti und Roma diskriminiert?

Forschungsergebnisse zeigen, dass Sinti und Roma einfach überall unerwünscht waren. Die Kommunen ließen sie mit Hilfe der Polizei verjagen. So mussten die Sinti und Roma von einer Ortschaft zur nächsten ziehen, bis sie auch von dort wieder vertrieben wurden. Oft waren es sogar dieselben Polizisten, die schon unter Hitler Sinti und Roma jagten. Die Polizei der Bundesrepublik griff auf eine Kartei mit über 30.000 Einträgen zurück, in der schon während der Weimarer Republik und der Nazizeit Sinti und Roma registriert wurden. Richtig professionell, mit Foto, Fingerabdruck und – nach 1945 – mit Erkennungsmerkmalen wie der tätowierten Auschwitz-Nummer. Die Polizei nutzte diese Kartei bis in die 70er Jahre. Vor Gericht galten Sinti und Roma in der jungen Bundesrepublik nicht als verlässliche Zeugen. Auch dann nicht, wenn sie gegen ihre Peiniger aus den Konzentrationslagern aussagten. Wenn sich Sozialämter um Sinti und Roma kümmerten, brachten sie diese unter den möglichst schlechtesten Bedingungen unter. Etwa in Überflutungsgebieten oder in der Nähe von Abwasserkanälen und Müllhalden.

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Wie sah es mit der Entschädigung von Opfern von medizinischen Experimenten aus?

Diese wurden – mit wenigen Ausnahmen – überhaupt nicht entschädigt, da zum Beispiel die 400.000 Zwangsterilisationen in der NS-Zeit durch ein Gesetz legitimiert waren und daher als "medizinisch notwendig" oder zumindest als zumutbar galten. Vermutlich spielte auch eine Rolle, dass die Ärzte, die diese Politik zu verantworten hatten, weiterhin in Amt und Würden waren.

Stefanie Schüler-Springorum: Unerwünscht, S. Fischer, 256 Seiten, 25 Euro.

Gab es Solidarität zwischen den Opfergruppen?

Es gab Solidarität und gemeinsame Initiativen – etwa jüdische Anwälte und Ärzte, die sich für Sinti und Roma einsetzten. Zugleich existierten Vorurteile innerhalb und zwischen Gruppen, und Konkurrenz um Aufmerksamkeit und Ressourcen war nicht ausgeschlossen. Homosexuelle erfuhren lange kaum Solidarität, da Homophobie quer durch politische Lager wirkte.

Ist die historische Aufarbeitung abgeschlossen?

Nein. Es braucht mehr Forschung, gerade lokale Aufarbeitungen und institutionelle Anerkennung, damit zumindest ein Bewusstsein dafür entstehen kann, dass das Unrecht für viele Menschen nach 1945 nicht aufhörte.

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