Wie Leon Weintraub der Hölle von Flossenbürg entkam, weiß er nicht mehr genau. Er wog kaum noch 35 Kilo, war krank und schwach. Durch das große Metalltor muss der 19-Jährige getrieben worden sein, dann die Hauptstraße hinunter, die sich durch das ganze Dorf windet. Vorbei an den zugezogenen Vorhängen und verrammelten Fensterläden, die zwar vor Blicken schützten – aber nicht vor dem Klappern der Holzschuhe, die die Gefangenen trugen. Am Bahnhof pferchten sie Weintraub in einen der Waggons. Es war der 22. März 1945, so haben es die Nazis notiert. Das Ziel: ein weiteres Konzentrationslager, das KZ Natzweiler, Kommando Offenburg.
Wenn Leon Weintraub, 92 Jahre, heute über die Schwelle tritt, wo damals das große Metalltor stand, muss er kurz innehalten. Ein Schauer fährt ihm dann über den Rücken. "Flossenbürg, das ist Hunger, Kälte, Tod", sagt Weintraub. Aus den dunklen Nadelwäldern des Oberpfälzer Waldes fegt ein eisiger Wind über den Platz.
Fast jedes Jahr kehrt Weintraub an die Orte seiner Entmenschlichung zurück. Auschwitz, Flossenbürg, auch in Offenburg war er wieder. Weintraub kommt, um der Toten zu gedenken, aber auch um der Geschichte zu begegnen. Seiner Geschichte. Erinnern heißt vergegenwärtigen, sagt Weintraub. Denn so etwas wie damals darf sich nie mehr wiederholen.
An einem Montag im oberfränkischen Marktredwitz: Als Weintraub zu sprechen beginnt, wird es still in der neunten Klasse des Otto-Hahn-Gymnasiums*. Gerade sind die Schüler aus der Pause zurückgekommen. Vor der Tafel steht er, der ältere Herr, beiges Tweedsakko, ungewöhnlich große Fliege, das kurze Haar akkurat nach hinten gebürstet. So aufrecht steht Weintraub da, dass er wirkt wie ein Schüler kurz vor einem Referat. Nur dass er sein Referat schon Hunderte Male gehalten hat.
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