Nationalsozialismus
Sie weigerte sich mitzumachen
Die Ärztin Adélaïde Hautval wird nach Auschwitz deportiert. Dort lehnte sie ab, Josef Mengele bei seinen Menschen­versuchen zu assistieren. Woher nahm sie den Mut dafür?
Illustration der Ärztin Adélaide Hautval: "Von dem Moment an, wo Sie Juden verteidigen, werden Sie auch deren Schicksal teilen", droht man ihr
Ärztin Adélaïde Hautval weigerte sich, Josef Mengele bei Menschenversuchen zu assistieren
Laura Breiling
chrismon
Aktualisiert am 14.05.2025
3Min

Als sie realisiert, dass sie an medizinischen Menschenversuchen teilnehmen soll, gibt es für sie nur eine Option: "Ich bin absolut dagegen." Ungeheuerlich, was dort geschieht, auf keinen Fall wird sie dabei mitmachen. Adélaïde Hautval ist Ärztin, Mitte dreißig, stammt aus Frankreich und befindet sich als Gefangene im Konzentrationslager Auschwitz. Den hippokratischen Eid, den sie einst geschworen hat, nimmt sie absolut ernst und die möglichen Folgen in Kauf.

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Juliane Ziegler

Juliane Ziegler ist freie Journalistin für Print, Online und Hörfunk in Frankfurt am Main. Volontariat an der Evangelischen Journalistenschule, Studium der Literaturwissenschaft, Politikwissenschaft und Romanistik (Magister) in Osnabrück, Siena und Buenos Aires. Sie arbeitet für den Hessischen Rundfunk, ard.de, NZZ, chrismon und Publik Forum.

1906 kommt Adélaïde Hautval in den Vogesen auf die Welt, ihr Vater ist Pastor, sie wird protestantisch erzogen, studiert Medizin. Unterwegs zu einem Krankenbesuch bei ihrer Mutter überquert sie 1942 verbotener­weise die Demarkations­linie – die Grenze, die das unbesetzte Gebiet vom von Deutschen besetzten Frank­reich trennte. Prompt wird sie erwischt, verhaftet und erlebt mit, wie eine jüdische Familie schikaniert wird. Hautval ergreift Partei für die Familie.

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Im Gefängnis von Bourges, wohin sie gebracht wird, will sie sich solidarisch zeigen, bastelt sich einen gelben Papierstern. "Von dem Moment an, wo Sie Juden verteidigen, werden Sie auch deren Schicksal teilen", droht man ihr. Von nun an wird sie des Delikts der "Juden-Freundin" beschuldigt und deshalb deportiert: Nach verschiedenen Zwischenstationen bringt man sie Anfang 1943 nach Ausch­witz. Hautval wird als Lagerärztin eingesetzt. Sie erlebt Selektionen mit, behandelt Typhuserkrankte und ­meldet sie nicht, um sie vor dem sicheren Tod zu bewahren. Jüdinnen betteln Hautval um Giftspritzen an, falls sie für die Gaskammer geholt werden.

Mit anderen gefangenen Ärztinnen und Krankenschwestern, mit denen sie im Lager zusammenarbeitet, tauscht sie sich über ethische Fragen aus: Wie lässt sich mehr erreichen – sich den Befehlen der Nazis komplett verweigern oder versuchen, Kompromisse einzugehen? Mit ihnen diskutieren oder schweigen?

"Wir sind ­absolut ­unfähig, diesen ­Schrecken aufzuhalten"

Adélaïde Hautval

Bis die Ärztin schließlich zu Block 10 im Stammlager des KZ Ausch­witz gebracht wird. Hier werden unter anderem Zwangssterilisationen an Frauen auf grausame Weise durchgeführt, und Adélaïde Hautval soll dabei assistieren. Voller Abscheu weigert sie sich, verweist als Vorwand auf ­ihre ­eigene angeschlagene Gesundheit, doch man glaubt ihr nicht.

Später erinnert sie sich an die Reaktion eines verantwortlichen Arztes: "Sehen Sie denn nicht, dass diese Leute ganz anders sind als Sie?", fragte er. "Ich kann mich nicht hindern zu antworten, dass in diesem Lager ziemlich viele Leute anders als ich sind, beispielsweise er selbst", so beschreibt es Hautval. Auch der SS-Arzt Josef Mengele befiehlt ihr, bei den Versuchen mitzuarbeiten. Doch sie bleibt bei ihrer Überzeugung und weigert sich. Sie weiß um die Konsequenzen, dass sie ihr eigenes Leben in Gefahr bringt, und wie brutal im Lager vorgegangen wird gegen jene, die sich widersetzen.

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Kurz darauf erhält Hautval von der Lagerältesten die geheime Botschaft, man plane, sie zu töten. Doch zum angekündigten Termin kommt niemand. Was genau ablief und wer konkret sich für sie einsetzte, hat sie auch später nicht rekonstruieren können. Irgendjemand muss ihr geholfen haben.

Adélaïde Hautval hat extremes Glück und kann einer Bestrafung entgehen. 1944 verlegt man sie in das KZ Ravensbrück und auch dort versorgt Hautval kranke Gefangene, doch zu medizinischen Experimenten wird sie nicht mehr gerufen. Sie scheint zu resignieren und hält fest: "Wir sind absolut unfähig, diesen Schrecken aufzuhalten." Doch dann, im Frühjahr 1945, wird das Lager Ravensbrück befreit. Adélaïde Hautval beschließt, erst mal dortzubleiben, um Kranke und Schwache weiterhin zu versorgen.

Später ist sie Zeugin in ­mehreren Prozessen gegen führende SS-Ärzte, unter anderem im Nürnberger Ärzteprozess, und wird mehrfach für ihr Engagement geehrt.1988 stirbt Adélaïde Hautval durch Suizid.

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Guten Tag,

zu dem informativen Artikel von Juliane Ziegler möchte ich noch anmerken, dass die Ärztin Adélaide Hautval auch in dem sehr lesenswerten Roman "Die Postkarte" (bei dem es sich eher um einen Bericht handelt) von Anne Berest in zwei Kapiteln vorkommt.

Mit freundlichen Grüßen
Walter Ehrmantraut

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Der Bruder meines Vaters, Otto, Jahrgang 1919, war Arzt und glühendes NSDAP Mitglied. Als er ins Foltergefängnis Bautzen als Arzt versetzt wurde, weigerte er sich dort zu arbeiten, denn er hatte den hippokratischen Eid doch geleistet… das schrieb er seinem Vater.
Er wurde daraufhin nach Stalingrad strafversetzt und kam dort durch ein Schrapnell zu Tode.
Seine Frau und deren Familie, alle NSDAP-Mitglieder, begangen 1945 in Dresden Suizid mit Zyankali…
Was ging in diesem NSDAP-Mitglied und Arzt vor? Warum brachten sich die NSDAP-Mitglieder, seine Frau und Familie um?
Haben sie zum Schluss das Unrecht erkannt? Oder „nur“ Angst vor den Russen gehabt? Wir wissen es nicht. Wir haben stapelweise Feldpostbriefe archiviert, aber in diesen ist kein Unrecht durch die Wehrmacht beschrieben - heute sind wir eines besseren belehrt…..die Wehrmacht war an unzähligen Verbrechen beteiligt…. Otto muss es gespürt haben….

Andreas Fritzsche