Diese Entscheidung fällt Käthe leicht. Als in ihrem noblen Wohnbezirk Wien-Döbling Arbeitersiedlungen entstehen und 1914 viele Männer in den Krieg ziehen, hört sie: Die Kinder der Arbeiterinnen seien tagsüber sich selbst überlassen. Kurz entschlossen meldet sie sich erst als Köchin, dann als Erzieherin.
Gut vernetzt in bürgerlichen Kreisen, organisiert sie Spenden, Frühstück und Kleider für die Arbeiterkinder. So lernt das Mädchen aus gutem Hause mit 20 das Proletariat kennen, das später ihr Forschungsgebiet werden sollte: Käthe Leichter wird Sozialforscherin, in Österreich erkämpft sie sich als eine der ersten Frauen den Doktortitel.
Jura ist für Frauen verboten, sie studiert Staatswissenschaft, zeitweise in Heidelberg, weil es da liberaler zugeht. Sie promoviert bei Max Weber. 1917 hält sie auf einer Studentenversammlung ihre erste politische Rede und verfasst ein "Bekenntnis zum Sozialismus". Von den Arbeiterinnen wird die Intellektuelle zunächst misstrauisch beäugt. "Was weiß Frau Doktor über die Sorgen einer Metallarbeiterin?", schreibt eine Betriebsrätin. Doch auch ihre bürgerlichen Freunde sind misstrauisch. Zwischen den Stühlen entfacht sie große Energie: schreibt, streitet, forscht. Zum Beispiel darüber, dass Frauen nach der Rückkehr der Männer aus dem Ersten Weltkrieg wieder zurück an den Herd beordert werden.
1925 baut sie das Frauenreferat der Arbeiterkammer Wien auf. Mit detaillierten Fragebögen erhebt sie die Lebensumstände der Frauen: Zwei Drittel der Hausgehilfinnen arbeiten länger als die vorgeschriebenen 13 Stunden. Mädchen unter 14 schuften nachts in der Gastronomie. Kunstblumenerzeugerinnen sind nicht vor Unfällen geschützt. Käthe Leichter nutzt für ihren Arbeitskampf moderne Medien, nimmt "Radiostunden für arbeitende Frauen" auf. Heute würde man das einen Podcast nennen.
Privat ist sie eng verbunden mit ihrer Schwester Valerie, sie wachsen auf wie Zwillinge. "Vally ist die Schönere und Käthe die Gescheitere", sagt die Mutter. Als Käthe später die Flucht vor den Nazis misslingt, nimmt die Mutter sich das Leben.
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Die Nazis treten 1934 ins Leben der Familie Leichter. Die Austrofaschisten sorgen dafür, dass Käthe bei der Arbeiterkammer entlassen wird. Das Ehepaar – Käthes Mann Otto ist kritischer Journalist – geht in den Untergrund: Bei den "Revolutionären Sozialisten Österreichs" schult Käthe weiter Funktionärinnen und schreibt Artikel unter dem Decknamen "Anna Gärtner".
Als 1938 die Nazitruppen aus Deutschland einmarschieren, gerät die Familie doppelt ins Visier: als Juden und als Sozialisten. Käthe erwägt die Flucht, aber diese Entscheidung fällt ihr schwer. Während Mann und Söhne mit gefälschten Pässen über die Schweiz in die USA fliehen, sorgt sie sich noch darum, wie das Klavier verpackt werden soll. Sie zögert zu lange.
Während sie ihre Ausreise sorgfältig plant, wird sie von einem Spitzel, einem ehemaligen Sportredakteur der "Arbeiterzeitung", verraten und am 30. Mai 1938 von der Gestapo verhaftet. Sie kommt zunächst ins Wiener Landesgericht. 1939 wird ihr der Doktortitel aberkannt. 1940 wird sie ins KZ Ravensbrück deportiert. Überlebende Mitgefangene dort schildern sie später als "Seele des Blocks", sie schreibt Gedichte und schmuggelt für andere Frauen Kassiber nach draußen. Am 17. März 1942 wird sie in der Tötungsanstalt Bernburg an der Saale ermordet.
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Ihre Söhne Henry und Franz kämpfen als Anwälte und demokratische Politiker in den USA für die Ideale ihrer Eltern. Und für die Würde ihrer ermordeten Mutter: Im November 2014 bekommt Dr. Käthe Leichter an der Uni Heidelberg posthum ihren Doktor zurück. Die Universität entschuldigt sich bei der Familie.