Notfallseelsorger Albi Roepke
Albi Roepke ist Notfallseelsorger und Pfarrer
Ingmar Björn Nolting
Schicksalsschläge
"Jede Sekunde Normalität ist ein Geschenk"
Wie reagiere ich, wenn jemand einen schweren Schicksalsschlag erlitten hat? Albi Roebke ist Pfarrer und Notfallseelsorger. Er weiß, was Betroffenen hilft und was sie gerade nicht brauchen
Tim Wegner
05.11.2025
7Min

chrismon: Sie sind als Notfallseelsorger dabei, wenn Menschen von schweren Schicksalsschlägen erfahren. Ich bin vor ein paar Jahren mit einer entfernten Freundin zu einer Hochzeit gefahren. An dem Morgen hat sie die Nachricht erhalten, dass ihr Vater wegen eines Herzinfarkts im Koma liegt. Wir waren Schulfreundinnen, standen uns aber nicht mehr besonders nahe. Wie reagiere ich in dem Moment?

Albi Roebke: In so einer Situation können wir zunächst unser Beileid ausdrücken, um zu zeigen, dass wir das Leid wahrnehmen. Anschließend können wir fragen, ob die Person darüber sprechen möchte oder ob wir sie ganz normal behandeln sollen. So kann die Betroffene für sich bestimmen, wie sie mit der Situation umgehen möchte.

Wir können auch fragen, wie der Tag weiter verlaufen soll. Möchte sie nach Hause fahren oder zur Hochzeit gehen? Das sollte sie selbst entscheiden dürfen. Sie darf auf der Hochzeit auch völlig abtanzen, ohne dass dies hinterfragt werden sollte. Nach so einem Ereignis ist nichts mehr normal, jede Sekunde Normalität ist ein Geschenk.

Albi RoebkeIngmar Björn Nolting

Albi Roebke

Albi Roebke, geboren 1967, aus Bonn ist evangelischer Pfarrer und arbeitet seit 2000 als Notfallseelsorger. Darüber hat er gemeinsam mit der Journalistin Lisa Harmann ein Buch geschrieben: Und plötzlich ist nichts mehr wie es war, erschienen bei S. Fischer.

Ich wusste zunächst gar nicht, was ich sagen sollte.

Es ist auch in Ordnung, miteinander zu schweigen. Die Botschaft lautet: Deine Welt bleibt jetzt stehen, und wenn wir nichts dagegen tun können, bleibe ich wenigstens mit dir stehen.

Hätte ich sie umarmen sollen?

Nicht ohne zu fragen. In einer solchen Ausnahmesituation haben viele Menschen nicht die Kraft, "Nein" zu sagen. Es kann aber sein, dass sie in diesem Moment gar keine Berührungen wünschen. Wenn es sich um eine enge Freundin oder einen Familienangehörigen handelt, die man regelmäßig umarmt, ist das etwas anderes.

Wie reagiere ich, wenn zum Beispiel eine Arbeitskollegin ins Büro zurückkehrt, von der ich weiß, dass sie einen Schicksalsschlag erlitten hat?

Hier hilft ausnahmsweise eine Floskel wie "Mein Beileid", um zu zeigen, dass man Bescheid weiß. Man kann sagen: "Wenn du magst, behandle ich dich wie immer. Wenn du etwas anderes brauchst, sag mir Bescheid." Wenn eine Betroffene schnell wieder arbeiten möchte, dann ist das oft der Wunsch nach Normalität. Die Arbeit ist meist einer der wenigen Orte, an denen der verstorbene Angehörige nicht war und an denen nichts an ihn erinnert. Sie bietet die Möglichkeit, sich abzulenken.

Kann ich darüber hinaus konkret etwas tun, um zu helfen?

Wenn wir den Betroffenen selbst nicht nahestehen, können wir enge Angehörige oder Freundinnen fragen, wie wir am besten unterstützen können. In der Regel gibt es Ansprechpersonen, die wissen, welche Aufgaben anfallen. Wir können beispielsweise vorschlagen, dass sich sieben Personen organisieren, die jeweils einen Tag in der Woche Essen vorbeibringen. Betroffene haben in solchen Situationen oft keinen Hunger und erst recht keine Lust zu kochen.

Das Essen sollte ohne zu klingeln zu einer vereinbarten Uhrzeit vor die Tür gestellt und das Geschirr abends wieder abgeholt werden. Die Betroffenen sollen selbst entscheiden können, ob sie die Tür öffnen wollen oder ob sie Ruhe brauchen. Je nach eigenen Fähigkeiten und Kapazitäten kann man auch etwas anderes anbieten, etwa bei anfallender Bürokratie zu unterstützen.

Ich schreibe meistens Whatsapp-Nachrichten mit der Bemerkung: "Wenn du etwas brauchst, melde dich."

Aufgrund dieser Bemerkung wird sich die betroffene Person in der Regel nicht melden, denn sie hat nicht die Kraft dazu. Besser ist es, ihr konkret etwas anzubieten.

Was sollte man vermeiden?

Trostfloskeln wie "Das wird schon wieder" oder "Alles hat auch etwas Positives" sollten vermieden werden, damit die betroffene Person sich ernst genommen fühlt. Eigene spirituelle Vorstellungen wie "Sie sitzt jetzt auf einer Wolke und guckt dir zu" können in so einer Situation auch unangebracht wirken. Wenn die Betroffenen die verstorbene Person sonntags um drei beim Kaffeetrinken vermissen, ist es kein Trost, sie jetzt als Engel zu sehen. Solche Bilder dürfen wir die Betroffenen selbst entwickeln lassen.

Videotipp: Viele Menschen fühlen sich hilflos, wenn andere trauern. Was soll man in Beileidsbriefen schreiben? Und wie lang dauert Trauer eigentlich? Ein Webinar über das Trösten

Was kann man als Christin in so einer Situation sagen?

Dass ich da bin. Kurz nach einem Schicksalsschlag erzählen wir nicht ungefragt von unseren Glaubensvorstellungen. Wenn jemand jedoch danach fragt, antworten wir ehrlich. Was wir auch ungefragt tun können, ist, zum Abschied zum Beispiel zu sagen: "Ich bete heute Abend für dich." Das sollte dann aber keine leere Floskel sein, sondern ernst gemeint. Dann sollten wir das auch tun.

Sie arbeiten ehrenamtlich als Notfallseelsorger, hauptberuflich sind Sie evangelischer Pfarrer.

Die Notfallseelsorge ist ein Angebot der Kirchen, das es seit Ende des 20. Jahrhunderts gibt. Das ICE-Unglück von Eschede 1998 war der erste große Unfall in Deutschland, bei dem systematisch und in großem Umfang Notfallseelsorge betrieben wurde. Die positive Wirkung zeigte, dass wir mehr Notfallseelsorger ausbilden sollten.

Auch aufgrund meines Glaubens habe ich mich angesprochen gefühlt und im Jahr 2000 die Ausbildung gemacht. Ich verstehe das Christentum als Gemeinschaftsreligion. Wir haben den Auftrag, anderen Menschen beizustehen, vor allem an Wendepunkten im Leben – bei Taufe, Konfirmation, Hochzeit und Beerdigung.

"Zweifel gehören zum Glauben dazu, besonders in Momenten des Schmerzes"

Albi Roebke

Was sagen Sie, wenn Sie nach Unglücken gefragt werden, wo Gott ist?

Ich antworte erst einmal authentisch: "Das wüsste ich auch gern." Wenn es sich nicht nur um einen wütenden Ausruf handelt, sondern die Person tatsächlich eine Antwort möchte, verweise ich darauf, dass selbst Jesus am Kreuz gefragt hat: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Auch als Christ ist es völlig legitim, sich diese Frage zu stellen. Zweifel gehören zum Glauben dazu, besonders in Momenten des Schmerzes. In unserer Tradition haben wir verlernt, dass Gott es aushält, wenn wir sauer auf ihn sind.

Sind Sie auch nach 25 Jahren noch aufgeregt, bevor Sie als Notfallseelsorger zu einem Fall gehen?

Ja, weil ich meistens kaum Informationen darüber habe, was mich erwartet. Oft weiß ich nur, wohin ich muss und dass etwas Schlimmes passiert ist. Ich weiß nicht, ob ich gleich in einer Villa oder in einem sozialen Brennpunkt stehe, wie viele Menschen mich erwarten oder was genau passiert ist.

Albi Roepke: Und plötzlich ist nichts mehr, wie es war. FISCHER, 256 S., 18 Euro

Sie treffen meistens auf ganz unterschiedliche Reaktionen und Emotionen.

Es gibt kaum eine Situation, in der man einen Menschen echter erleben kann als in Krisenmomenten. Da spielt niemand mehr etwas vor, es gibt kein Richtig oder Falsch. Die einen sind wütend, die anderen wollen reden, und wieder andere versuchen, zur Normalität zurückzufinden, indem sie sich direkt einer Aufgabe widmen.

Wichtig ist, dass die Betroffenen in dieser Ohnmachtssituation Kontrolle zurückerlangen, indem sie eigene Entscheidungen treffen. Ich frage zum Beispiel häufig zuerst, ob sie jemanden anrufen möchten. Egal, wie die Antwort lautet: Ich muss sie akzeptieren und alles zurückstellen, was ich selbst in der Situation machen würde oder für gut halte.

Das habe ich auch selbst erlebt: Meine Eltern und mein Bruder sind durch einen Autounfall ums Leben gekommen. Eine meiner ersten Reaktionen war, zu ihrem Haus zu fahren, um die Mangos zu holen, die ich ihnen ein paar Tage zuvor geschenkt hatte. Mein erster Gedanke war: Nicht, dass die Mangos vergammeln! Aus der Notfallseelsorge wusste ich, dass ich dadurch in meiner Hilflosigkeit Kontrolle suchte.

Konnten Sie nach Ihrem Erlebnis noch weiter als Notfallseelsorger arbeiten?

Das ging sogar recht schnell, was auch daran liegt, dass ich als Notfallseelsorger selbst durch Supervision begleitet werde. Es ist dabei aber ganz wichtig, dass ich ehrlich zu mir selbst bin und mich frage, ob ich die Krise wirklich überstanden habe. Auch in der Notfallseelsorge dürfen wir Grenzen setzen.

Es gab auch immer wieder Fälle, die ich abgegeben habe, allerdings eher im Zusammenhang mit meiner Rolle als Vater: Einmal trug ein verstorbenes Kind die gleichen Sandalen, die wir kurz zuvor unserem Sohn gekauft hatten. Das kam mir emotional zu nah, ich konnte den Fall nicht weiterbetreuen.

Sie sind in der Notfallseelsorge permanent mit belastenden Ereignissen konfrontiert. Wie halten Sie das selbst aus?

Ich kann die Schicksale anderer viel besser aushalten, wenn ich nicht nur von ihnen höre, sondern Teil davon bin und aktiv reagieren kann. Gleichzeitig ist es wichtig, dass ich mich nicht verantwortlich fühle, dass es den Leuten wegen meiner Arbeit gut geht. Im Grunde gebe ich nur den Anstoß dafür, dass die Betroffenen sich eine Strategie suchen, mit der sie sich selbst helfen können. Ich darf bei dem Wunder zuschauen, dass Menschen etwas scheinbar Unaushaltbares aushalten und ihr Leben weiterleben.

Außerdem begeistert es mich, wie groß die Solidarität unter den Menschen bei Katastrophen ist, wie viel Menschen möglich machen können, wenn es darum geht, Gutes zu tun. Zugegeben, es ist für mich auch ein Anreiz, dass in diesem Amt kein Tag dem anderen gleicht, wir fahren zum Teil in Polizeiautos mit und an Absperrungen vorbei.

Wenn ich Sie richtig verstehe, kommt Notfallseelsorge direkt nach einem Unglück zum Einsatz. Aber so ein Schock ist ja nicht mit einem Gespräch überwunden. Wie lange begleiten Sie die Leute?

Oft dauert ein Einsatz drei Stunden. Ganz oft kommen wir in Situationen, in denen die Polizei noch vor Ort Spuren aufnimmt, die verstorbene Person zur Gerichtsmedizin gebracht wird oder der Notarzt noch da ist und zusammenpackt. Normalerweise ist der Einsatz dann vorbei. Ich habe auch schon Betroffene länger begleitet, das habe ich dann aber privat gemacht, ich nenne das dann meine "unsichtbare Gemeinde". Als Notfallseelsorger haben wir in der Regel keine Zeit dafür.

Danach entsteht leider eine Versorgungslücke. Hier sind Gesellschaft und Kirche aufgefordert, Angebote zu machen. Beispielsweise könnte eine Ansprechperson einmal in der Woche vorbeikommen und schauen, inwiefern die Person noch Unterstützung braucht. Das sollte von selbst passieren, ohne dass sich die Betroffenen aktiv darum kümmern müssen.

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Hier finden Sie professionelle Hilfe:

Es kann ratsam sein, sich professionelle Hilfe zu suchen, wenn erste Reaktionen nach einem belastenden Ereignis länger als vier Wochen andauern. Dazu zählen starke Nervosität, Schreckhaftigkeit, Schlafstörungen, Appetitlosigkeit, Gefühle der Sinnlosigkeit, Erinnerungslücken und Konzentrationsprobleme und Flashbacks oder das verstärkte Bedürfnis nach Alkohol oder Beruhigungsmitteln. Hilfe von außen kann schwere Folgeerkrankungen verhindern. Bundesweit gibt es dafür eine Reihe von Institutionen wie Beratungsstellen, Psychotherapie, traumazentrierte Fachberatung, Seelsorge und Ärzt*innen.

Telefonseelsorge: 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222, online.telefonseelsorge.de

Beratungsstellen der Diakonie: hilfe.diakonie.de

Beratungsstellen der Caritas: caritas.de/hilfeundberatung

In dringenden Fällen geben Sie "Traumaambulanz" und Ihren Wohnort in die Suchmaschine ein.

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Notfallseelsorge

Notfallseelsorge ist ein Angebot der Kirchen, Menschen seelsorglich beizustehen, die sich in einer akuten Notsituation befinden. Dazu zählen Angehörige nach dem plötzlichen Tod eines Menschen, Verletzte, Überlebende und Zeugen. Bei größeren Krisenlagen wie dem Hochwasser im Ahrtal 2021 oder dem Terroranschlag in Magdeburg 2024 sind oft zahlreiche Notfallseelsorgende im Einsatz. Sie werden ausschließlich über Rettungsdienst, Feuerwehr und Polizei alarmiert.

Insgesamt gibt es rund 7.500 ehren- und hauptamtliche Mitarbeitende in der Notfallseelsorge und in Kriseninterventionsteams in ganz Deutschland. Es handelt sich vor allem um hauptberufl­iche Mitarbeitende der Kirchen mit einer seelsorglichen Berufsausbildung und Menschen, die durch einen therapeutischen oder beraterischen Beruf die notwendigen fachlichen Voraussetzungen mitbringen. Ehrenamtliche absolvieren eine Ausbildung mit 100 Stunden (à 45 Minuten) als Basis, es folgen Fort- und Weiterbildungen. Die Notfallseelsorgenden selbst verarbeiten Erlebtes durch kollegialen Austausch und Supervision. Mehr Informationen gibt es unter notfallseelsorge.de.

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