Carlo (links) und Bela Große Extermöring auf dem Platz ihres Heimatvereins FSV Hansa 07
Nur selten gemeinsam auf dem Platz, Carlo (links) und Bela Große Extermöring pfeifen ihre Spiele allein
Patrick Desbrosses
Fußball
War das ʼne Schwalbe?
Fußballtalente gibt es nicht nur unter Spielern zu entdecken: In Berlin pfeifen sich die Zwillinge Carlo und Bela als Schiedsrichter aus der A-Jugend-Verbandsliga nach oben
Jens Oellermann
Privat
19.09.2025
8Min

Das Wetter könnte kaum besser sein an diesem Sonntagvormittag: blauer Himmel, ein paar Wolken und mit 17 Grad die ideale Temperatur für einen Herren-Kreisliga-Kick. Die beiden Mannschaften, Tasmania Berlin und TSV Mariendorf, sind schon auf dem Platz, um sich warm zu machen. In einer knappen Stunde ist Anpfiff. Carlo Große Extermöring ist ein wenig müde, am Abend zuvor haben er und sein Zwillingsbruder Bela ihren 17. Geburtstag gefeiert. Zu Hause, nichts Wildes, mit einem guten Dutzend Freunden. Carlo muss fit sein, er weiß, dass es heute auch auf ihn ankommt.

Noch sitzt er in seiner kleinen Umkleide, darin ein Tisch mit zwei Stühlen, ein Waschbecken und ein abgetrenntes WC – nur für ihn. Er kennt die Mannschaften nicht, weiß nicht, was da auf ihn zukommen wird, aber aufgeregt ist er nicht – noch nicht: "Die Aufregung kommt in der Regel eine Viertelstunde vor Spielbeginn", sagt er. Die Kreisliga der Herren kann ein hartes Pflaster sein, vor allem für einen Schiedsrichter. Die Spiele sind oft körperbetont, es wird viel reklamiert und gemeckert. Aber dass es gleich auf dem Platz zu einer Prügelei kommen könnte, ist nicht Carlos größte Befürchtung, das wäre zwar schlimm, sagt er, sei aber rational betrachtet kein Problem.

Seine größte Sorge: dass die Spieler seine Entscheidungen nicht akzeptieren. Er wird der Jüngste auf dem Platz sein, und er wird es dort mit Männern zu tun haben, die wesentlich größer und breiter sind als er. Und er wird allein sein, in der Kreisliga muss der Schiedsrichter ohne Assistenten an den Seitenlinien auskommen. Carlo Große Extermöring soll die Spieler möglichst siezen, anders als in der A-Jugend, die er meistens pfeift. Aus Erfahrung weiß er, dass er das mit dem Siezen manchmal vergisst, vor allem, wenn es hitzig wird.

Noch 15 Minuten bis zum Anpfiff. Carlo wühlt in seiner Sporttasche, er hat Trikots in verschiedenen Farben dabei, grün, rot, lila, gelb, blau, er entscheidet sich für das grüne. Dann steckt er sich die Gelbe und Rote Karte ein, greift die Pfeife und macht sich auf den Weg zum Platz.

Handschlag vor dem Spiel, Carlo pfeift Tasmania gegen TSV Mariendorf

Sechs Tage zuvor, nachmittags. Carlo und sein Bruder Bela sitzen auf einer Parkbank in Berlin-Friedrichshain, ihre Schule ist ganz in der Nähe. Sie reden über ihre Erfahrungen auf dem Platz. Auch Bela ist Schiedsrichter. Beide gehören zum Berliner Jugendleistungskader, sie pfeifen in der A-Jugend-Verbandsliga, der höchsten Berliner Spielklasse, und ab und an auch bei den Herren in der Kreisliga. Vor drei Jahren haben sie gemeinsam angefangen, mittlerweile hat jeder von ihnen mehr als 100 Spiele gepfiffen, so genau wissen sie das nicht.

"Schon in der Kita hat sich Bela gelbe und rote Pappkarten gebastelt und dann den Schiedsrichter gegeben", sagt Carlo und muss lachen, weil es oft so war, dass er sich fallen gelassen hat und von seinem Bruder die Gelbe Karte für die Schwalbe bekam. Carlo spielt auch selbst Fußball, Bela hat sich irgendwann für das Pfeifen entschieden, was auch daran lag, dass er nie so gut spielen konnte wie die anderen. Er ist mit einem Tumor zur Welt gekommen, im Alter von zwei Jahren wurde ihm das rechte Bein abgenommen. Seitdem läuft er mit einer Prothese.

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Als Schiedsrichter bekommen sie in der A-Jugend für jedes Spiel 22 Euro zuzüglich acht Euro Fahrtgeld, das ist bei etwa zehn Spielen im Monat ein ordentliches Taschengeld, aber nicht der Grund, weshalb sie pfeifen. Da sei zum einen die körperliche Herausforderung, sagt Bela. Und zum anderen hilft ihnen das Pfeifen in der persönlichen Entwicklung. Es hat sie verändert.

"Wir sind sicherer und selbstbewusster geworden", so Carlo, der von sich selbst sagt, er sei eher schüchtern gewesen. Sich einer Horde von aufgebrachten Spielern zu stellen, Entscheidungen im Bruchteil einer Sekunde zu fällen und dann dazu zu stehen, auch wenn sie möglicherweise falsch sind, sich Autorität auf dem Platz zu verschaffen, das muss man lernen, vor allem, wenn man so jung ist wie Carlo und Bela. Sie haben gelernt, sich auf den Fußballplätzen durchzusetzen. "Ein Schiedsrichter muss Verantwortung übernehmen, er braucht Selbstsicherheit", sagt Bela. Und er muss in stressigen Situationen ruhig bleiben. Lernen, einmal durchzuatmen und sich nicht von Emotionen anstecken zu lassen.

Das Spiel der Tasmanen gegen Mariendorf endete 3:3

Beide nehmen auch einiges in Kauf. Ihnen fehlt oft die Zeit, um mit Freunden abzuhängen, und sie lassen auch öfter Partys aus, wenn sie wissen, dass sie am nächsten Morgen auf dem Platz stehen müssen. "Aber man kann nicht alles haben", sagt Carlo, "und ich habe mich ja bewusst dafür entschieden." Schiedsrichter sein ist eine äußerst undankbare Aufgabe. Man ist schnell derjenige, an dem sich die Wut von Spielern entlädt, manchmal reicht da eine falsche Entscheidung, ein Elfmeter, der keiner war, ein Abseits, das keines war, und gerade im Freizeitsport ist es für einen Schiedsrichter nahezu unmöglich, alles richtig zu sehen, allein auf dem Platz, ohne Assistenten. "Nach dem Spiel kein Thema zu sein", sagt Bela, "ist das Beste, was ich als Schiedsrichter erreichen kann."

Allein in Berlin trägt der Fußballverband jedes Wochenende etwa 1500 Spiele aus, es gibt über 1000 Schiedsrichter. Zu wenige. Auch weil es immer wieder zu Vorfällen kommt. Da werden Schiedsrichter beleidigt, bedroht und auch körperlich angegangen, geschubst, geschlagen. Wobei meist nicht die Spieler das Problem sind, sondern die Trainer, ihre Assistenten und die Zuschauer.

Dass es hitzig wird auf dem Platz, erleben auch Bela und Carlo regelmäßig, dass von allen Seiten kommentiert und reklamiert wird. Dass sie viel Kritik abbekämen, sei normal, sagt Carlo. Mehr aber haben sie noch nicht erlebt. "Das Schlimmste", sagt Bela, "war ein Vater, der auf den Platz gerannt kam, weil ich einen Elfmeter nicht gepfiffen habe". Der Vater habe ihm seine Brille hingehalten und gerufen: Hier, nimm, dann siehst du besser! Geschockt sei er gewesen, sagt Bela, und habe eine Weile gebraucht, um innerlich wieder runterzukommen. Aber das ist schon etwas her.

Bela und Carlo auf der Anlage ihres Heimatvereins, dem FSV Hansa 07 Berlin

Auf dem Platz haben sie drei Möglichkeiten im Umgang mit Spielern, die sich danebenbenehmen: ignorieren, ansprechen oder bestrafen. Die erste Halbzeit zwischen Tasmania und Mariendorf verläuft ohne besondere Vorkommnisse, erst in der zweiten Halbzeit kommt es zu einer kleinen Rudelbildung nach einem Foul. Carlo ist gleich zur Stelle. Auf dem Platz hat er eine andere Körpersprache, sehr klar, auch die Haltung ist anders, aufrechter, Schultern durchgedrückt. Und er zögert nicht, geht sofort auf die Männer zu, ermahnt sie, lässt sich auch durch Widerrede nicht aus der Ruhe bringen und zückt dann die ersten Gelben Karten. Am Ende des Spiels sind es sechs Gelbe und eine Gelb-Rote, weil ein Spieler nach einem Pfiff den Ball weggeschossen hat. Für Carlo ein Spiel ohne besondere Vorkommnisse.

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Bela hat da eine Woche später schon mehr zu tun. Er pfeift sein erstes Spiel in der Bezirksliga der Herren, es ist die nächsthöhere Liga. FC Spandau gegen FC Amed. Auf der Tribüne sitzt ein Schiedsrichterbeobachter, der Belas Leistung bewerten wird. Das kommt regelmäßig vor, weil Carlo und Bela als große Talente gelten, und auch Schiedsrichter können aufsteigen: Nach der Bezirksliga kommt die Landesliga und irgendwann ganz am Ende die Bundesliga. Von der träumen auch Carlo und Bela, beide wissen aber, dass es eher ein Traum bleiben wird. Es sind nur 24 Schiedsrichter, die in der ersten Liga pfeifen.

Bela leitete Spandau gegen FC Amed, die Gäste gewannen 2:1

Vor dem Spiel in der Umkleide sagt Bela, es sei wichtig, auf dem Platz sicher dazustehen, nicht unsicher zu wirken. Er selbst sei früher eher konfliktarm gewesen, aber er habe gelernt, sich zu trauen, Entscheidungen zu fällen. Während Bela auf dem Platz hin und her läuft, am Ende werden es zehn Kilometer sein, und immer versucht, einen guten Blick aufs Spielgeschehen zu haben, sitzt sein Beobachter auf der kleinen Tribüne und macht sich Notizen. Er achtet auf die Zweikampfbewertung, auf Belas Persönlichkeit, seine Fitness, sein Stellungsspiel und natürlich auf, wie er sie nennt, spielrelevante Fehler.

Gleich zu Beginn kommt es zu einer strittigen Szene, ein Spieler foult an der Seitenlinie, für den Beobachter hart an der Grenze zur Rücksichtslosigkeit, also Gelb. Bela pfeift, lässt aber die Karte stecken und macht dem Spieler auch keine deutliche Ansage. Eine Sache, die der Beobachter nach dem Spiel ansprechen wird. Ansonsten ist er von Belas Kommunikation auf dem Platz sehr angetan. "Selbstbewusstsein hat er", sagt er. Bela scheut keinen Konflikt, geht direkt auf die Spieler zu, die sich beschweren oder schreiend auf dem Boden wälzen. Irgendwann ist er umringt von mehreren Männern, unter ihnen auch einer der Torhüter, der 30 Meter aus dem Tor gerannt ist, weil Bela dessen Ansicht nach zu Unrecht auf Ecke entschieden hat. Bela aber bleibt ruhig. Und es ist faszinierend zu sehen, wie dieser eher schmächtige Junge da inmitten dieser aufgebrachten Männer steht, ihnen mit einer Seelenruhe seine Entscheidung erklärt und dann Gelb zeigt.

Torwart überflüssig, im Minitor fürs Training

Wie so oft ist das Spiel nach dem ersten Tor hitzig geworden, die letzten zehn Minuten wird ständig und von überall "ey, Schiri" gerufen, auch von der Trainerbank. "Ey, Schiri, bist du blind?" Eigentlich eine Beleidigung, die mit einer Roten Karte bestraft werden müsste, aber Bela hat es nicht mitbekommen. Am Ende hat er neun Gelbe Karten verteilt. Und weil es auch noch angefangen hat, heftig zu regnen, sitzt er nach dem Spiel völlig durchnässt und sichtlich erschöpft in seiner Umkleide. Es sei ein schwieriges Spiel gewesen, sagt er. Und dass er so viele Sprüche bekomme, sei zwar nicht schön, aber das werde ihn nicht lange beschäftigen. "Auch das lernt man als Schiedsrichter." Er ist zufrieden mit seiner Leistung. "Ich habe das ganz gut gemanagt", sagt er, "und nachvollziehbare Entscheidungen getroffen."

Der Beobachter lobt die Souveränität, mit der Bela sein erstes Bezirksligaspiel geleitet hat. "Und das in deinem Alter!", sagt er. Es könne nur sein, dass Bela irgendwann an seine Grenzen stoße wegen seiner Prothese, wenn das Spiel schneller werde, weil er Schwierigkeiten bekommen könnte mit der Geschwindigkeit. Bela weiß das. Aber er hofft, mit seinem guten Stellungsspiel einiges wettmachen zu können. Unter den Zuschauern war ein ehemaliger Fußballprofi. "Ein Superschiri", sagte der, "so ruhig und konsequent. Ich wünsche mir, dass er noch viel höher pfeifen wird."

Bela hat es nicht gehört, er war da schon in der Umkleide.

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