Fine trägt eine Leopardenleggins, ein Leopardenkleid und darüber einen Pullover. Die Achtjährige steht auf dem Fußballplatz in Schwabing-Freimann in München. Fußballtraining. Sie läuft über den Rasen und schießt Bälle aufs Tor. Dabei wirbelt der weite Rock des Kleides um sie herum.
Die ersten 15 Minuten der heutigen Trainingseinheit ist Fine die einzige Teilnehmerin auf dem Sportplatz der Mittelschule am Albertus-Magnus-Platz. Es hat gerade geregnet. "Die anderen warten wahrscheinlich erst mal ab, wie sich das Wetter entwickelt", mutmaßt Trainer Roman Maliha. Er ist neben zwei weiteren Trainerinnen Ansprechperson für die Mädchen und ihre Eltern. Dass gerade dreimal so viele Aufsichtspersonen wie Mädchen auf dem Platz stehen, scheint nicht zu stören. Die zwei Trainerinnen, Studentinnen Anfang 20, die beide selbst Fußball spielen, laufen sich in einer Reihe mit Fine warm. Danach stellen sie sich im Dreieck auf und passen einander den Ball zu. In Fines Richtung mit etwas weniger Kraft. Nimmt die Achtjährige den Ball sauber an, gibt es ein Lob.
Es gibt feste Anfangs- und Schlusszeiten, jedoch dürfen die Mädchen frei entscheiden, wann sie kommen. Das ist einer der Kerngedanken des Projekts, sagt Anna Seliger, Pädagogin und Projektleiterin von "Mädchen an den Ball" (MadB). "Wir setzen bewusst nicht auf Leistung und bewusst auf freie Entscheidungen im Kommen und Gehen, Unpünktlichkeit gibt es bei uns nicht, damit wollen wir uns von Lehrplänen und leistungsorientierten Vereinen abheben." Die Mädchen sollen sich mit eigenen Ideen und Interessen einbringen und vor allem Spaß an Bewegung haben.
In der Schule bestimmen die Jungs, welche Mädchen den Platz betreten dürfen
Seliger hatte das Projekt 2007 in München gegründet. Das Ziel war von Anfang an, Mädchen Freude an Bewegung und Spaß am Fußball zu vermitteln. Wettkämpfe, Vereinsbindung oder andere Verpflichtungen gibt es nicht. Die Botschaft lautet: "Das Angebot ist absolut freiwillig, ihr könnt gerne unpünktlich sein, Hauptsache, ihr kommt, und wenn es nur für eine halbe Stunde ist", sagt Seliger. Vielen Mädchen ermöglicht das, überhaupt Fußball spielen zu können. Vereinsspielerinnen müssen bei den Trainings pünktlich da sein, um bei den Spielen mitmachen zu dürfen. Wenn die Eltern ihre Töchter nicht allein schicken wollen, es aber nicht schaffen, sie rechtzeitig zu bringen, kann dies das Ende in einer Vereinsmannschaft bedeuten.
Auf dem Fußballplatz im Münchner Norden trudeln nach und nach immer mehr Eltern mit ihren Töchtern ein. Einige setzen die Kinder ab und fahren wieder, andere stellen sich an den Spielfeldrand, schauen zu und unterhalten sich untereinander. Eine Mutter erzählt, dass ihre Tochter jedes Mal stolz ist, "wenn sie in der Schule auch nur mitspielen darf". Denn dort bestimmten die Jungs, welche Mädchen den Platz betreten dürften – wo sollen Mädchen also spielen? "Auch da setzt ‚Mädchen an den Ball‘ an", sagt Anna Seliger. Dass Mädchen sich weniger bewegten als Jungs, habe nämlich auch etwas mit der geschlechtsspezifischen Sozialisation zu tun. MadB will die Mädchen empowern und ihnen Zugang zu öffentlichen Räumen wie Fußballplätzen verschaffen.
Nach einer Viertelstunde stehen sechs Mädchen auf dem Platz, nach einer Dreiviertelstunde, bei mittlerweile strahlendem Sonnenschein, schießen 13 Mädchen zwischen sechs und dreizehn Jahren Bälle aufs Tor, laufen um die Wette oder schlagen Räder am Spielfeldrand. "Meine Tochter ist die, die zwischendurch immer mal Turnübungen macht", sagt ein Vater und zeigt auf ein kleines Mädchen in rotem Fußballoutfit.
Eine lange Geschichte von Verboten und Erniedrigung
Frauen ist es in Westdeutschland erst seit 1970 erlaubt, auf offiziellen Plätzen Fußball zu spielen. Vorher galt ein Verbot des Deutschen Fußball-Bunds (DFB). Angeblich könne Fußball dem weiblichen Körper und der Seele schaden, zudem ginge den Frauen die Anmut verloren, lauteten die Argumente. "Da wurden abstruse Sachen behauptet, die medizinisch schon längst entkräftet waren", sagt die Kulturanthropologin Friederike Faust, die das Buch "Fußball und Feminismus" geschrieben hat.
Einige Frauen organisierten sich deshalb selbst – bis der DFB das Verbot aufhob. Dieses war laut Faust einerseits vor den lauter werdenden Rufen nach Gleichberechtigung und Emanzipation nicht mehr rechtfertigbar gewesen, andererseits wollte der DFB dadurch vermutlich Kontrolle über das Spiel der Frauen gewinnen. "Die Frauen wollten eigene Verbände gründen, das wollte der DFB verhindern." Medien und Gesellschaft belächelten den Frauenfußball weiterhin. Statt Geld gewann die Frauenmannschaft für ihren Sieg 1989 bei der EM ein Kaffeeservice. Auch zu DDR-Zeiten wurde Frauenfußball erst nicht, dann nur sporadisch gefördert.
Der Wandel kam erst nach der Jahrtausendwende, als Deutschland 2011 die Frauenfußball-WM austrug. Danach begann der DFB, Frauen- und Mädchenfußball als Breitensport zu fördern. In den vergangenen Jahren erlebte Mädchenfußball mit das größte Wachstum im Vereinssport. Es sei mittlerweile viel anerkannter und normaler, dass nicht nur Jungen Fußball spielten, sagt die Kulturanthropologin Friederike Faust.
Heute gibt es deutlich mehr Möglichkeiten für Mädchen, im Verein Fußball zu spielen. Trotzdem gibt es vielerorts noch keine reinen Mädchenmannschaften. Am Spielfeldrand in Freimann erzählt eine Mutter, bevor sie auf MadB gestoßen sei, hätte sie zunächst nach einer Vereinsmannschaft für ihre Tochter gesucht, aber keine passende für Anfängerinnen in der Umgebung gefunden. Vor allem auf dem Land müssen immer noch Mädchen, die kicken wollen, in Jungenmannschaften mitspielen – und um Akzeptanz kämpfen, so Friederike Faust.
Die Kulturanthropologin hat mit Fußballspielerinnen gesprochen, die diese Erfahrung in ihrer Kindheit gemacht haben. Schon kleine Fehler brächten Zweifel auf, ob die Mädchen wirklich für Fußball geeignet seien. So entstehe quasi ein impliziter Zwang, als Junge anerkannt zu werden. Die Pubertät führe dann zum Bruch. Wegen der körperlichen Veränderungen müssten sich die Mädchen häufig allein in einer anderen Kabine umziehen. Sie seien kein "vollwertiges" Mitglied der Mannschaft mehr. Für viele ein einschneidendes Erlebnis, nicht selten verlassen sie den Sport.
Frauenfußball ist weniger sichtbar
Ab 16 Jahren können die Mädchen in Frauenmannschaften im Erwachsenenfußball mitspielen. Weil es unter Erwachsenen keine Alterseinteilung mehr gibt, haben auch in ländlichen Regionen viele Vereine mindestens eine Frauenmannschaft. Laut Projektleiterin Anna Seliger wechseln 80 Prozent der Mädchen irgendwann von MadB in eine Vereinsmannschaft. Manche kommen trotzdem weiter zu dem offenen Angebot, die dreizehnjährige Anouk etwa, "einfach wegen der Gemeinschaft". Sie ist nicht nur älter als viele der anderen Mädchen, sie kann ihnen auch mit Leichtigkeit den Ball abnehmen. Es sei schön, sagt Anouk, dass es hier mal nicht um Leistung gehe.
Zum Teil beenden auch einige Mädchen ihre Vereinsmitgliedschaft, wenn sie zu MadB kommen. Die zwölfjährige Matilda etwa trainierte zuvor gemeinsam mit ihrer besten Freundin bei den Jungen der Schwabinger Kickers. Als die Freundin dort aufhörte, ging auch sie: "Allein mit den Jungs wollte ich nicht spielen."
Die Europameisterschaft der Frauen in diesem Sommer habe ein Leistungsniveau im Frauenfußball gezeigt, das es so vorher nicht gab, sagt Kulturanthropologin Faust. Trotzdem hätten die Frauen oft immer noch mit sexistischen Kommentaren zu kämpfen und würden stärker nach ihrem Äußeren bewertet als die Männer, kritisiert Faust. Die Schweizer Nationalspielerin Alisha Lehmann etwa war während der EM permanent Anfeindungen und Hasskommentaren ausgesetzt. Ihr wurde vorgeworfen, sich zu stark zu schminken.
Auch medial unterscheide sich die Anerkennung, die Frauen im Fußball und im Sport allgemein bekämen, noch stark von der für Männer, sagt MadB-Gründerin Seliger: "In der Zeitung zähle ich auf den Sportseiten oft die Fotos von Frauen. In der ‚Süddeutschen‘ zum Beispiel zeigen von rund 16 Sportfotos meistens maximal zwei eine Sportlerin."
Vielleicht sind auch deshalb die Vorbilder der Mädchen im Fußball größtenteils männlich: Ronaldo oder Messi, aber auch die Schwabinger Kickers. Für Fine hingegen ist die vier Jahre ältere Spielkollegin Anouk "meine Lieblingsspielerin". Die meisten der MadB-Spielerinnen finden sowieso: Ob Männer oder Frauen, das ist egal – Hauptsache Fußball. Einen Unterschied sieht Fine trotzdem: "Die Mädchen spielen mehr mit Köpfchen und nicht so viel mit Gewalt wie die Jungs."