Abuko ist ein kleiner Ort mit angrenzender Savanne und dem wohl schönsten Fußballplatz Gambias. Am Horizont sieht man die Mangrovenwälder der Atlantikküste. Eben zieht eine Rinderherde über das sandige Spielfeld und verschwindet irgendwo im Gehölz. Am Rande des Platzes hocken junge Frauen auf einer Eisenstange und holen Sportzeug aus ihren Rucksäcken: rote Hosen, rote Trikots, Fußballschuhe. Sie trainieren täglich hier, ihr Club Abuko United spielt in der ersten Liga.
Martina Keller
Leo Schulte
Mariama Dukanda braucht etwas länger als die anderen. Die 21-Jährige zieht einen knöchellangen geblümten Kapuzenumhang aus ihrem Sack und streift ihn über ihr Trikot. Dann breitet sie eine Plastikfolie auf dem Boden aus, die von einer Kampagne der World Food Organisation übrig geblieben ist. Und betet. Die Rufe und das Lachen der anderen, die schon dem Ball nachjagen, stören sie nicht. Sie hält die Augenlider geschlossen. Ein junger Mann kniet neben ihr und murmelt leise: "Allahu Akbar."
Mariama ist Muslimin wie rund 95 Prozent der Menschen in Gambia. Etwa vier Prozent sind Christen. Die Anhänger beider Religionen leben friedlich miteinander: Ostern laden manche Christen ihre muslimischen Nachbarn zum Festessen ein. Muslime wiederum bewirten ihre christlichen Freunde beim Fastenbrechen während des Ramadan. Religion ist wichtig in Gambia, auch wichtig für Mariama. Aber die Regeln sind nicht starr, und die Menschen sind tolerant. Bei Abuko United betet jede so oft und intensiv, wie sie mag.
Der Kapuzenumhang verschwindet wieder im Rucksack, Mariama schnürt ihre Fußballschuhe. Sie freut sich aufs Training. Eine Frau wird es diesmal leiten, weil der Chefcoach von Abuko United verhindert ist: Monika Staab, die im Auftrag des Deutschen Olympischen Sportbunds nach Gambia kam, um den Frauenfußball zu fördern. Mädchen sollen kicken dürfen wie die Jungs, auch an Schulen, auch auf dem Land. Dafür organisiert Staab Fußballturniere und bildet Trainerinnen aus.
Fußball ist für die 61-Jährige mehr als nur ein Job. Als sie jung war, half ihr der Sport aus der Dietzenbacher Provinz in die Welt hinaus. Sie hatte Hotelfachfrau gelernt, aber anstatt die Bäckerei und Pension der Eltern zu übernehmen, ging sie nach London, lernte Englisch, spielte bei den Queens Park Rangers. Später wurde sie zur erfolgreichsten Vereinstrainerin Deutschlands, gewann mit dem 1. FFC Frankfurt Titel und Pokale. Seit 2007 freut sie sich an anderen Erfolgen. Rund 80 Länder hat sie bereist, um den Frauenfußball voranzubringen. Sie war in Bahrein, Pakistan, Iran, Kambodscha, Bhutan, Uganda, Ruanda, auf den Fidschi-Inseln . . . Und jetzt Gambia, einer der kleinsten Staaten Afrikas.
Endlich Abwechslung
"Schnappt euch einen Ball, Ladys, jede einen Ball!" Monika Staab lässt die Frauen zum Warmmachen nicht etwa Runden um den Platz drehen wie viele andere Trainer. Die Spielerinnen absolvieren jede Übung mit Ball: Sie ziehen ihn mit der Sohle vor und zurück, dribbeln durch ein Quadrat, probieren den "Übersteiger", eine nicht unkomplizierte Finte, bei der man mit dem linken Fuß über den Ball fährt, um ihn dann mit dem rechten mitzunehmen.
Mariama gefällt das Tempo, die Abwechslung. "Wir wollen mehr Trainerinnen", sagt sie während einer Trinkpause im Schatten eines Neembaums, "wir haben nur Männer, Männer, Männer." Einer Frau könne sie sich leichter anvertrauen, wenn sie ein Problem habe. Bei einem Trainer denke sie: "Er ist doch ein Mann. Vielleicht ist er aggressiv." Auch die Sorge mancher Eltern müsse man ernst nehmen. "Sie denken vielleicht: Unsere Tochter wird von einem Mann trainiert, warum nicht von einer Frau? Ist das sicher?"
Anfangs war der Vater dagegen
Monika Staab habe einiges verändert. Noch vor zwei Jahren, erzählt Mariama, musste sie mit ihrem Team in der Hitze spielen, um halb drei Uhr nachmittags. Manchmal sei eine Spielerin umgefallen. Monika, kaum im Land, habe gesagt: "Wie können die Mädchen bloß um diese Zeit spielen, unter dieser heißen Sonne? Wir müssen das ändern!" Jetzt spielen sie am späten Nachmittag. "Männer spielen auch nicht um halb drei – warum also Frauen?"
Auf dem Platz geht es mit einem kleinen Wettbewerb weiter. Wenn Staab ein gelbes Plättchen hochhält, müssen alle sofort aufhören zu dribbeln und sich auf ihren Ball setzen. Das rote Plättchen bedeutet: Huckepack auf die nächste Mitspielerin springen – Staab macht es mit Mariama vor, die bei den Übungen ihre Assistentin ist. Kichernd spurten alle los. Wer als Letzte eine Partnerin findet, muss Sit-ups machen.
Fußball ist in Gambia Sportart Nummer eins, auch bei den Frauen. Es gibt drei Spielklassen, und die Nationalelf hat es dieses Jahr in die FIFA-Rangliste geschafft. Mariama und ihre Schwester Sarjo kicken seit Kindertagen, früher mit Jungs auf der Straße, heute im Verein. Ihr Vater war anfangs dagegen. Doch als Sarjo, die Jüngere, in Gambias U17-Team berufen wurde, änderte er seine Meinung. Sarjo durfte mit dem Team nach Ghana und Sierra Leone reisen und bekam einen Pass und sogar die Flüge bezahlt. Als sie in einem Punktspiel ein wichtiges Tor schoss, berichteten darüber Gambias Medien. Mariama lacht: "Seitdem ruft er jeden Tag an: Mädchen, geht ihr auch zum Training?"
Mariama lernt Elektrotechnik
Nach anderthalb Stunden ist Schluss, und Monika Staab bringt Mariama nach Hause. Sie schätzt die wache junge Frau – sie könnte vielleicht als Trainerin ihre Arbeit in Gambia fortsetzen helfen, wenn Staabs Vertrag diesen Oktober ausläuft: "Sie ist engagiert, will sich verbessern, hört genau hin."
Mariama und Sarjo leben bei der Großmutter, um sie im Haushalt zu unterstützen. Sie teilen sich ein dunkles Zimmer mit hellblauen Wänden, eine ist beklebt mit Fotos von englischen Premier-League-Clubs: Arsenal, Chelsea, Manchester United. Neben der Tür steht ein Plastikstuhl, auf dem Boden liegen ein abgewetzter Teppich und eine große Matratze, auf der die Schwestern schlafen.
Jetzt sitzt dort Sarjo, kurze Sporthose, trauriges Gesicht. Das linke Knie ist mit blauem Tape bandagiert, es riecht nach Sportsalbe. Sie hat sich beim Fußballspielen verletzt, glücklicherweise nichts Ernstes, nur ein lädierter Muskel. Mariama und Sarjo studieren an derselben Fachhochschule. Sarjo hat sich auf Elektronik spezialisiert, Mariama lernt Elektrotechnik. Sie zeigt Fotos auf ihrem Handy: Wie sie Solarpaneele installiert, einen Ventilator anschließt, eine Steckdose prüft und Leitungen verlegt. Mariama hat sich bewusst für diesen Beruf entschieden. "Wenn du Technik studierst, kannst du überall hin gehen und Arbeit finden. Wir können nicht alle im Büro sitzen."
Der Onkel schickt Geld aus Deutschland
So eine Ausbildung kostet viel Geld. 10 500 Dalasi, umgerechnet rund 170 Euro, hat Mariama vergangenes Jahr an Studiengebühren bezahlt, fast das dreifache Monatsgehalt einer jungen Lehrerin. Ihr Vater hat noch eine zweite Familie zu ernähren und kann nicht viel dazuzahlen. Gäbe es nicht Onkel Sidath, könnte sich Mariama das Studium nicht leisten.
Ein Anruf bei dem 42-Jährigen. Er lebt seit 2014 in Deutschland, mittlerweile im Status der Duldung. Mariama, sagt er, sei für ihn wie eine kleine Schwester. Er selbst sei ungelernt, aber er schätze Bildung. Deshalb unterstütze er Mariama und Sarjo von seinem Verdienst bei einer Zeitarbeitsfirma. Auch er spielt Fußball – als Verteidiger bei Türkspor Neu-Ulm.
Es ist dunkel, als Monika Staab aufbricht. Damit sie aus dem Gewirr unbeleuchteter Gassen zur Hauptstraße findet, fährt Mariama ein Stück mit, steigt aus, als die Richtung klar ist. Einmal noch abbiegen . . . Zu spät merkt Monika Staab, dass sie verkehrt herum in eine Einbahnstraße geraten ist. Sie ahnt, was kommt. Tatsächlich hat eine Verkehrspolizistin sie erblickt und hält sie an. Ausweis, Fahrzeugpapiere. Dann die Bemerkung: "Ich hatte noch kein Abendessen." Eine kleine Gabe würde die Sache beschleunigen. Staab seufzt, das kann dauern. "Don’t bribe the police" steht überall auf Plakaten: Nicht die Polizei bestechen.
Wenige Tage später sehen Monika und Mariama sich wieder, bei einem Coachingkurs am National Technical Training Center in der Nähe des Flughafens. Normalerweise bereiten sich hier gambische Nationalteams auf ihre Spiele vor, doch die 20 jungen Frauen, die an diesem Morgen zusammenkommen, sind fast alle Fußballnovizinnen. Sie unterrichten an Grundschulen, wurden von den Schulleitern für die Weiterbildung zum Coach hierhergeschickt. Monika Staab hat Mariama und einige andere Fußballerinnen eingeladen, damit sie den Neulingen helfen.
An den ersten drei Tagen trainieren die Lehrerinnen Grundtechniken wie Passen, Stoppen, Dribbeln und Schießen. Am vierten probieren sie die dazugehörigen Übungen miteinander aus, um später ihre Schülerinnen unterrichten zu können. Mariama, zum zweiten Mal bei einem solchen Kurs dabei, ist ungeduldig. Sie schlüpft schon in die Rolle der Trainerin, bevor sie an der Reihe ist: "Du musst dich bewegen", ruft sie einer Spielerin zu: "Passen! Passen!"
Dann ist es endlich so weit, Mariama darf eine Übung anleiten. Sie steckt mit Hütchen ein kleines Feld ab und lässt fünf gegen drei spielen. Energisch erteilt sie Kommandos, korrigiert, feuert an: "Wenn der Ball aus ist, kümmert euch nicht drum, ich gebe euch einen neuen!" Die Lehrerinnen am Spielfeldrand schauen zu und notieren, was ihnen auffällt: Wie baut Mariama die Übung auf? Wie ist ihre Körpersprache? Ruft sie ihre Anweisungen laut genug? Am Ende wird sie sehr gelobt. Auch Monika Staab ist angetan: "Wenn du so weitermachst, wirst du irgendwann Nationaltrainerin."
Corona hat sie ausgebremst
Vorerst allerdings wartet eine andere Herausforderung. Die Corona-Pandemie hat auch Gambia nicht verschont. Die Regierung hat den Notstand ausgerufen: Schulen, Moscheen und Kirchen sind über Monate geschlossen, Cafés und Restaurants ebenfalls, der Tourismus, der wichtigste Wirtschaftszweig in Gambia, kommt zum Erliegen. Viele Menschen verlassen nur für Einkäufe ihr Haus. Auch jede Art von Sport ist verboten. Das Leben sei extrem langweilig, sagt Mariama am Telefon. Außer Essen, Schlafen und Fernsehen gebe es kaum Abwechslung. Anfang Juli, kurz bevor Gambias Regierung erste Lockerungen erlaubt, wird sie krank. Sie hat Malaria, Gambias Volkskrankheit Nummer eins.
Im Spätsommer 2020 gelten immer weiter Abstandsregeln, Maskenpflicht und Hygienevorschriften. Immerhin: Die Schulen sind für Abschlussklassen wieder geöffnet, und Mariama hofft, dass sie im Herbst ihr Studium der Elektrotechnik fortsetzen kann. Bei Abuko United will man nach der Regenzeit mit der Vorbereitung auf die neue Saison beginnen. Für Mariama ist es vielleicht die letzte als Spielerin, Monika Staab hat sie zu neuen Plänen inspiriert: In einem Jahr will sie ihren Abschluss in Elektrotechnik machen – und sich danach eine Zeit lang auf das Coaching konzentrieren.
"Wir schlagen uns hier alle durch. Keine weiß, wo sie ihr Glück findet", sagt Mariama. Vielleicht bekommt sie einen Job als Elektrotechnikerin, vielleicht als Trainerin. "Wenn sich eine Chance bietet, greife ich zu."