Gestern hat Real Madrid seinen historischen dritten Champions-League-Triumph in Folge klargemacht. Heute kommen die Spieler des TSV Kriegshaber zu ihrem letzten Heimspiel in der A-Klasse Augsburg Mitte aufs Klubgelände. Sie tragen selbst bedruckte blaue T-Shirts: "Meister 2018 – Nie mehr 10. Liga." Die Sonne brennt schon früh vom Himmel. Das "Nie mehr" haben sie gleich drei Mal aufs T-Shirt drucken lassen, als könnten sie es selbst nicht glauben.
Schon vor zwei Wochen hat die Mannschaft den Aufstieg in die Kreisklasse geschafft. Anschließend wurde Trainer Michael Heuberger, 57, mit einer Bierdusche gefeiert, wie man das aus der Bundesliga kennt.Heute appelliert der Coach noch einmal an den Mannschaftsgeist seiner Leute. Die TG Viktoria Augsburg II kommt mit fünf Spielern aus der ersten Bezirksliga. Das ist erlaubt, aber eben auch eine Kampfansage. Der Gegner will den frisch gekürten Meister auf dem eigenen Platz demütigen.
Thilo Komma-Pöllath
Robert Brembeck
Kurz vor Anpfiff redet Heuberger in der Kabine auf seine Jungs ein. Er sagt: Auf solche Spiele muss man gierig sein. "Wir hau’n noch mal einen Dreier weg." Michael Heuberger spricht deutsch. Alle nicken. Der Kader des TSV Kriegshaber stammt aus 17 Nationen. Es sind Gastarbeiterkinder dabei, Spätaussiedler, Kriegsflüchtlinge, bayerische Schwaben, Muslime, Atheisten, Evangelikale und Konvertiten. Aus ihnen hat Heuberger in nur einer Saison eine Gemeinschaft geformt.
Auch deshalb war die Meisterschaft eine kleine Sensation im bayerischen Amateurfußball. "Integration ist Mannschaftssport", sagt Coach Heuberger. "Alle reden davon, wir machen sie. Unsere Umkleide ist ein Mikrokosmos." So könne es im ganzen Land laufen.
Der TSV Kriegshaber im Westen Augsburgs ist ein Verein mit Tradition, 1888 gegründet, einer der ältesten in Bayern. Fußball-Abteilungsleiter Anton Kneitel, 55, ist seit 40 Jahren dabei. Hier nennen ihn alle nur "Schorsch". Er ist noch Torwarttrainer, bis vor vier Jahren trainierte er die erste Mannschaft. Dann hatte er einen Schlaganfall. Und obwohl er kaum sprechen konnte, rief er seinen Kumpel Michi Heuberger an und fragte unter Tränen, ob er übernehmen könne. Die beiden kennen sich aus Schulzeiten. "Der Klub ist mein Herz", sagt Schorsch mit einer Mischung aus Stolz und Wehmut.
"Wir lieben den Fußball, uns ist völlig wurscht, wie jemand heißt, was er ist, woher er kommt."
Seit etwa 15 Jahren, so ist ihm aufgefallen, kommen in der Mehrzahl Ausländer zum TSV Kriegshaber, die meisten aus dem Stadtteil. Der Verein profitiert davon. Mit den Russlanddeutschen fing es an, dann kamen Türken, Albaner, Ungarn, Bosnier, Kroaten, Menschen aus afrikanischen Staaten. Und zuletzt Bürgerkriegsflüchtlinge aus Irak und Syrien. "Wir lieben den Fußball, uns ist völlig wurscht, wie jemand heißt, was er ist, woher er kommt."
Mit Krieg habe der Name des Viertels nichts zu tun, sagt Kneitel auch gleich vorweg. Und wie als Beleg dafür, dass es sich in Kriegshaber gut leben lässt, erzählt er: Schon Napoleon habe "bei uns" übernachtet, dort drüben über der B17, wo heute das "Spectrum" steht, eine Disco. Kriegshaber ist Kneitels Heimat: Reihenhaussiedlungen, einfache Leute, in manchen Quartieren mit einem Ausländeranteil von bis zu 80 Prozent. Man könnte es auch anders sagen: Wer es sich leisten kann, wohnt woanders.
Kneitel ist stolz auf sein Viertel und seinen Verein, aber er macht sich auch Sorgen. Das Vereinsleben habe sich drastisch verändert. Das liege aber nicht an den Migranten. Smartphone und Zeitgeist seien schuld, dass die Jungs nach dem Training keine Zeit mehr haben. Früher habe man sich in der Vereinsgaststätte zusammengesetzt, auf ein paar Bier und Limo – und geschwätzt. Da war der Fußballverein der soziale Mittelpunkt nach der Arbeit. Das gibt es nicht mehr.
Dass sie beim TSV Kriegshaber einen besonderen Umgang pflegen, weiß auch Sascha Haller, 34, Sohn von FCA-Legende Helmut Haller. Der Polizist und Fanbeamte für die Hooligans beim FC Augsburg ist erst vor einem Jahr in den Club eingetreten. Als Ausgleich zum Job spielt er bei den Alten Herren im Tor. Für ihn ist der TSV ein Paradebeispiel, wie man den wachsenden Vorurteilen in der Gesellschaft auch begegnen kann: mit Halloweenpartys, Vatertagsausflügen, gemeinsamen Volksfestbesuchen. Haller junior sagt: "Was der Verein hier für die Jungs macht, das ist besonders."
Coach Michael Heuberger, der bei der Post arbeitet und Großkunden berät, ist ein bulliger Kerl mit kurz geschorenem grauem Haar. Er kann sehr direkt sein, einer, der mit Sarkasmus seine eigenen Bemerkungen infrage stellt. Er sei kein Gutmensch, sagt Heuberger, sondern ein Schleifer. Mit seinem oberschwäbischen Tonfall klingt selbst das sympathisch. Disziplin und feste Regeln seien enorm wichtig. Und schon ist nicht mehr ganz klar, ob er über Fußball redet oder das große Ganze. Dass sich seine Spieler auf dem Platz danebenbenehmen oder Schlägereien anzetteln, im Amateurfußball keine Seltenheit, das würde er nie durchgehen lassen. Selten kommt einer zu spät zum Training, und wenn, dann nur weil er Spätschicht hat.
"Ich bin kein klassischer Trainer, ich leiste Lebenshilfe.
Heuberger arbeitet gern mit jungen Leuten – "sportlich und menschlich". Da komme so viel mehr Dankbarkeit zurück als bei den Profis. Er selbst hat dritte Liga gespielt, an der Schwelle zum Profivertrag, in der Jugend beim FCA zusammen mit Bernd Schuster und Armin Veh. Einmal, als sie noch in unterschiedlichen Vereinen gekickt haben, hat er den Schuster in einem Spiel "regelrecht umgesenst", erinnert sich Heuberger. "Der hat richtig geflennt."
Heuberger sagt auch: "Ich bin kein klassischer Trainer, ich leiste Lebenshilfe. Ob gut oder weniger gut geraten, ich empfinde große Empathie für diese Jungs." Er selbst stammt aus Herrenbach, dem größten Problemviertel in Augsburg. "Da entwickelt man Ideen, was man für die Leute tun kann. Die meisten meiner Jungs sind allein wegen ihrer ethnischen Herkunft Außenseiter. Wenn man die richtig anpackt, dann gehen die den ganzen Weg mit."
Als er zum TSV Kriegshaber kam, hatten sie sieben Arbeitslose im Team, heute hat nur Hasan, ein Syrer, der neu dazugekommen ist, noch keinen Job. 52 Bewerbungen hat Heuberger für seine Jungs geschrieben und nachgebessert, bis sie alle untergebracht waren: bei Amazon und MAN, bei einem Metallverarbeiter und einem Reifenhändler.
Natürlich habe es auch viele Rückschläge gegeben. Acht Syrer, um die sich der Verein vor rund zwei Jahren sehr bemüht hat, verschwanden von heute auf morgen ohne ein Wort. Zwei Jungs wurden wegen Betrugs und Körperverletzung eingesperrt. Fallengelassen wird keiner, regelmäßig hat das Team Pakete zur Post gebracht. Die beiden Straffälligen sind mittlerweile entlassen, haben einen Job, eine neue Chance.
"Du mit deiner Scheißausländertruppe"
Zu den Rückschlägen gehören auch die Beschimpfungen, die Heuberger und seine Mannschaft bei Auswärtsspielen im Landkreis zu hören bekommen, von Fans, Gegenspielern, Clubverantwortlichen. "Du mit deiner Scheißausländertruppe" gehört noch zu den harmloseren Beleidigungen. Selbst sein bester Freund, den er seit 40 Jahren kennt, will nicht mehr verstehen, was Heuberger treibt. Der Freund wählt inzwischen AfD. Aber die Freundschaft wird bleiben, sagt Heuberger. Das müsse man im Leben aushalten können.
"Den Migranten bei uns im Team sehe ich anders als den in den Fernsehnachrichten", gesteht Rolf Schnell. Bis vor einigen Jahren hat Schnell noch in der zweiten Mannschaft gespielt, heute ist er CSU-Ortsvorsitzender im Stadtteil Kriegshaber. "Den Fremden zu vertrauen, ist schwierig. Unseren Jungs vertraue ich blind." Schnell ist selbst Migrant, er kam Ende der Achtzigerjahre aus Siebenbürgen. Seine Position war die des Abwehrchefs.
Nach dem Abschlusstraining, drei Tage vor dem Viktoria-Spiel, hatte der stellvertretende Kapitän Alois Volk, ein Russlanddeutscher aus Kasachstan, einen Kasten "Löschzwerg" in der Kabine verteilt, ein naturtrübes Kellerbier aus Augsburg. Und Heuberger rief – natürlich ironisch – in den Raum: "Unsere strenggläubigen Moslems sollen jetzt nichts trinken. Abbas, du trinkst nichts!" Abbas Wadi, Stürmer, trank aber doch: Spezi. Ebenso Nima Taghipoor-Rahimi, Linksverteidiger. Der Kasten Spezi steht nach dem Training als Erstes in der Kabine, nicht das Bier. Noch so eine Heuberger-Regel.
Abbas ist ein kurdischer Kriegsflüchtling aus dem Norden Iraks, Nima ein in Deutschland geborener ehemaliger Atheist aus dem Iran, der sich vor zehn Jahren taufen ließ, in der apostolischen Pfingstgemeinde. Nima spielt so gut wie nie bei Pflichtspielen mit, weil er sonntags in die Kirche geht. Trotzdem kommt er regelmäßig zum Training. Er liebt das Spiel, er will die Jungs sehen, die Gemeinschaft motiviert ihn. Nima sagt: "Ich rede mit Abbas oft über unseren Glauben. Auch bei uns in der Gemeinde gibt es über 30 Nationalitäten, aber es gibt diesen übergeordneten Fokus, der alle zusammenhält. Dort ist es Gott, hier der Fußball."
Michael Heuberger wird nach der Saison nach vier Trainerjahren aufhören, das ist lange besprochen. Er will am Wochenende freie Zeit mit seiner Frau haben. Und die Mannschaft brauche einen neuen Trainer, sagt er. Das eingefahrene System reize die Jungs nicht mehr. Aber abseits vom Platz will er sich für sie trotzdem weiter Zeit nehmen. Beim Abschlusstraining übergab er das Team ganz offiziell: "Frank, ich überlasse dir eine Bombentruppe. Da sitzt der Iraker Arm in Arm mit dem Iraner. Im normalen Leben würden sie sich bekriegen. Einfach überragend!" Und Frank Motzet, der neue Coach, sagte: "Ihr lebt von eurem Zusammenhalt. Mit dieser Grundstimmung werden wir in der Kreisklasse mit dem Abstieg nichts zu tun haben."
Vorletzter Spieltag. Das Spiel gegen Viktoria ist das letzte Heimspiel für Coach Heuberger. Eigentlich geht es um nichts mehr, ein "Wepperle", wie man hier sagt, ein belangloser Kick. Aber so etwas gibt es für Michael Heuberger nicht. Was auf dem Platz geschieht, spiegelt die gesamte Saison wider: Der TSV Kriegshaber kontrolliert Spiel, Gegner und Feld. Die ganze Mannschaft greift an, verteidigt oder spielt Pressing. Selbst der launische Spielmacher Sven Gruber hilft hinten aus. Jeder spielt auch für den anderen. Kriegshaber kickt diszipliniert und gut organisiert, ziemlich deutsch, obwohl nur vier Deutsche mitspielen. Das weiße Trikot und die schwarzen Hosen erinnern an das Nationaltrikot aus den Siebzigern.
In der 40. Minute schnappt sich Stürmer Yaya Bayo, 30, in der Mitte der gegnerischen Hälfte den Ball, überläuft mit seiner Schnelligkeit fast alle Abwehrspieler und verzieht nur knapp. Die bisher größte Chance des TSV, es bleibt zur Halbzeit beim Null-zu-null.
Yaya ist vor gut zehn Jahren aus Gambia nach Europa geflohen. Mit seiner Freundin und seiner kleinen Tochter lebt er noch nicht lange in Augsburg. Seit dieser Saison geht er für Kriegshaber auf Torejagd. "15 Mal hat er bislang getroffen, er hat die wichtigen Tore gemacht", sagt Heuberger, an diesem Vormittag kommt kein weiteres dazu, obwohl er drei, vier gute Möglichkeiten hat. Nach dem Spiel geht Yaya direkt zum Trainer und entschuldigt sich, es ist ihm sichtlich unangenehm, dass er seiner Mannschaft heute nicht helfen konnte.
Yayas verletzter dunkelhäutiger Sturmpartner Viktor Hermogenes aus Brasilien steht direkt neben Heuberger und sagt mit gespielter Empörung: "Hey Coach, der Neger trifft das Tor nicht!" Seine Art von Humor am Fußballplatz. Heuberger hält dagegen: "Yaya, dank dir spielen wir jetzt bunt, aber du kannst doch nicht in jedem Spiel treffen." Wie die beiden türkischen Mittelfeldspieler Ilker und Cengiz hält auch Yaya Bayo das Fastengebot für den Ramadan, auch während des Viktoria-Spiels. Aber dass ihn das Fasten geschwächt hätte, lässt Yaya nicht als Entschuldigung gelten. "Letzte Woche habe ich auch zwei Mal getroffen", sagt er.
Die Tore schießen heute andere, Kremser, Gruber, Kus, am Ende heißt es 3:0 für Kriegshaber gegen einen aufgemotzten Gegner. Nach dem Schlusspfiff macht der Abteilungsleiter der TG Viktoria seine Mannschaft mit lautem Gebrüll nieder. Das meiste, was er sagt, wird vom Ghettoblaster im Duschraum des TSV verschluckt. Der amerikanische Hip-Hopper J. Cole singt: "Can’t Get Enough."
"Wir funktionieren nur als Team"
Zu Beginn der Saison hatte niemand beim TSV Kriegshaber mit einem solchen Erfolg gerechnet. Die sechs besten Spieler hatten den Verein verlassen. Vielleicht weil sie woanders noch 500 Euro bekamen. Zu 80 Prozent sei die Mannschaft heute eine andere als vor einem Jahr, so Heuberger. Der TSV Kriegshaber zahlt seinen Spielern kein Geld, natürlich nicht.
"Wir funktionieren nur als Team", so erklärt Selcuk Kus, Schütze des dritten Viktoria-Tores, das sportliche Clubgeheimnis. Und wir nutzen die unterschiedlichen Charaktere und Spielertypen perfekt für uns aus. Das macht uns unberechenbar", Selcuk ist Innenverteidiger und der erste ausländische Kapitän in der 130-jährigen Geschichte des Vereins. Als Heuberger ihn vor zwei Jahren zum Spielführer ernannte, gab es erst mal Gemurmel: Wie kann er nur, das geht doch nicht!
"Natürlich geht das", sagte Heuberger, der sich einiges anhören durfte. Heute ist Kus, 25, die vielleicht größte Spielerpersönlichkeit im Verein. Ein groß gewachsener junger Mann, links trägt er einen goldenen Ohrring. Er ist schon Familienvater. Abends trinkt er gerne ein Bier. "Selcuk ist unser Leader und unser Mädchen für alles", witzelt Co-Kapitän Alois Volk, "er kümmert sich sogar um die dreckige Wäsche." Selcuk Kus sagt: "Ich übernehme gerne Verantwortung." Kus ist in Augsburg geboren und aufgewachsen, er hat einen türkischen Pass. Seine Mutter ist in Deutschland geboren, sein Vater kommt aus Trabzon am Schwarzen Meer.
Er sei in seinem Leben zwei Mal im Urlaub in der Türkei gewesen, sagt Selcuk. Mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan könne er nichts anfangen. Aber er finde es auch übertrieben, dass die Nationalspieler Özil und Gündogan für ihre Selfies mit dem türkischen Präsidenten so heftig kritisiert wurden. Selcuk Kus ist in Augsburg zu Hause, und doch gehört er nicht ganz dazu. Diese Zerissenheit in der dritten Generation der Gastarbeiter verstehen zu lernen, das sei für ihn das Schwierigste, erklärt Heuberger.
Mittags um zwei packt Michi Heuberger seine Tasche und marschiert zum Ausgang der Vereinsgaststätte. Sein letztes Heimspiel für den TSV Kriegshaber ist seit zwei Stunden vorbei. Der Coach bekommt feuchte Augen, eine "fette Wehmut" packt ihn jetzt. Nach vier Jahren wird er nicht mehr am Spielfeldrand stehen, der kroatische Vereinswirt Robi wird ihm nicht Mitte der zweiten Halbzeit sein erstes Bier ans Spielfeld bringen. Aber er ist ja auch nicht aus der Welt und wird sich weiter um den Verein kümmern, der ihm in den vergangenen vier Jahren so ans Herz gewachsen ist.
Gleich nächste Woche will Heuberger mit der Motorsäge über die Äste an der Begrenzungshecke gehen. Er hat sich vorgenommen, mit seiner Frau die schimmelnden Kabinen zu streichen. Und er will Sponsoren gewinnen, damit der TSV Kriegshaber endlich die fehlenden drei Flutlichtmasten bekommt, die es für einen geregelten Trainingsbetrieb im Winter dringend braucht.