Der Charme des Fehlers
Das Fußballspiel ist die Schwester 
von Konzert, Theater und Spielfilm. Der Videobeweis hingegen ist mit seiner juristisch-mathematischen Pedanterie fehl am (Fußball-)Platz.
Lena Uphoff
28.05.2018

Wenn das Leben doch tatsächlich ein Spiel wäre! Am bes­ten ein Fußballspiel. Ich als anerkannter Tor wünschte es mir sehnlichst. Und wenn schließlich der Videobeweis in unserem gesamten Alltag Fuß fasst, wird unser Dasein eine runde Sache. Die Richtig-oder-falsch-Logik soll im Schwimmbad gelten, auf dem Markt, am Tresen in der Kneipe – überall. Was der große George Orwell in seinem wunderbaren Buch "1984" in den Vierzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts als Utopie eines totalitären Staates beschrieben hat, durchdringt unsere Wirklichkeit bereits tiefer, als viele glauben: Big brother is watching you. Der große Bruder Google Maps zum 
Beispiel weiß per Mini-Cam und ­Handy längst, wohin ich unterwegs bin. Und am Tempo meiner Reise erkennt er: Mein kleiner Kunde, du fährst mit dem Rad.

Der sogenannte Videobeweis verdirbt alles

Solche Gedanken überwältigen mich, wenn ich wahrnehme, wie die Kultur des Perfektionismus aus einem spektakulären Fußballspiel widerlichen Regelernst macht. Der sogenannte Videobeweis mag – rein theoretisch – für Gerechtigkeit sorgen, praktisch verdirbt er alles. Minuten dauert es, bis der Schiedsrichter nach seinem Pfiff überprüft hat, ob er einen Fehler gemacht hat. Dann stellt sich heraus, dass auch der Videobeweis unvollkommen ist. Die Position der genutzten Kameras mag zwar visuelle Wahrheit zulassen, aber keine erlebte.

Lena Uphoff

Arnd Brummer

Arnd Brummer, geboren 1957, ist Journalist und Autor. Bis März 2022 war er geschäftsführender Herausgeber von chrismon. Von der ersten Ausgabe des Magazins im Oktober 2000 bis Ende 2017 wirkte er als Chefredakteur. Nach einem Tageszeitungsvolontariat beim "Schwarzwälder Boten" arbeitete er als Kultur- und Politikredakteur bei mehreren Tageszeitungen, leitete eine Radiostation und berichtete aus der damaligen Bundeshauptstadt Bonn als Korrespondent über Außen-, Verteidigungs- und Gesellschaftspolitik. Seit seinem Wechsel in die Chefredaktion des "Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatts", dem Vorgänger von chrismon im Jahr 1991, widmet er sich zudem grundsätzlichen Fragen zum Verhältnis Kirche-Staat sowie Kirche-Gesellschaft. Seine besondere Aufmerksamkeit gilt kulturwissenschaftlichen und religionssoziologischen Themen. Brummer schrieb ein Buch über die Reform des Gesundheitswesens und ist Herausgeber mehrerer Bücher zur Reform von Kirche und Diakonie.

Das Spiel gehört seit Urzeiten zu den Dingen im Leben, die gerade nicht den Prinzipien logisch begründeter Ernsthaftigkeit entsprechen. Der hier schon mehrfach zitierte Religions­soziologe Peter Berger zählt es neben der Liebe, der Musik und dem Humor zu den "Spuren der Transzendenz" in der irdischen Wirklichkeit. Im Spiel kann das Glück dem Schwachen ­helfen, den Starken zu besiegen. Um Betrug und Heimtücke zu vermeiden, gibt es Spielregeln. Und ein sogenannter Unparteiischer hat darauf zu achten, dass sie eingehalten werden. Dieser Schiedsrichter soll für Fairness sorgen. Aber den Ernst des Lebens mit juristischer oder mathematischer Pedanterie auf dem Spielfeld durchzusetzen, löscht den Kitzel, den gerade jene suchen, die ein Fußballspiel als Urlaub vom Alltag begreifen wie ein Konzert oder einen Spielfilm.

Ein Spiel, das immer wieder unterbrochen wird, weil ein Video­­­­as­sistent aus einem weit entfernten Büro sig­nalisiert hat, dass eine Entscheidung nicht stimme, verliert seine choreographisch-dramaturgische Qualität. Es rutscht aus der Welt von Kunst und Spektakel, in die es als Schwester von Konzert, Theater und Gottes­dienst gehört. Es verliert seinen atmos­phärischen Charme, der weit über das Geschehen auf dem Platz ­hinaus ­wirken kann. Etwa wenn ­Tage, ­Monate oder Jahre später noch immer über Tore, Abläufe und – ja, auch – Fehlentscheidungen in Kneipen oder Wohnzimmern diskutiert wird.

Demut und Respekt statt Videobeweis!

Das Wembley-Tor im WM-Finale 1966, das Deutschlands Niederlage gegen England einleitete, beschäftigt bis heute die Gemüter. War der Ball drin oder nicht? Mit 2:2 waren die beiden Teams in die Verlängerung gegangen. Dann traf Geoff Hurst die Unterkante der Torlatte. Zunächst entschied der Schiedsrichter, dass es kein Tor gewesen sei, ließ sich aber von seinem Linienrichter umstimmen. England schoss noch ein weiteres Tor und ­ge
wann. Dem deutschen Fußball und 
der Elf von 1966 hat die wahrscheinliche Fehlentscheidung nicht geschadet. Bei ihrer Rückkehr in die Heimat wurde die Truppe des Bundestrainers Helmut Schön umjubelt und gefeiert. Man bezeichnete sie als "wahre Weltmeister". Der Trainer selbst urteilte: "Natürlich wären wir gern Weltmeis­ter geworden. Aber wir sind auch mit dem zweiten Platz zufrieden." Demut und Respekt statt Videobeweis! Im Spiel kann das Glück dem Schwachen helfen.

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Der Artikel geht davon aus, dass Fußball irgend etwas mit Spiel und Sport zu tun hätte. Dabei ist es doch klar, dass der Fußball, bei dem der Videobeweis zum Einsatz kommt, nichts aber auch gar nichts mit Sport oder Spiel zu tun hat. Einfach nur Kommerz.