"Spielt für Pakistan!"
"Spielt für Pakistan!"
Philipp Breu
"Spielt für Pakistan!"
Im zweitgrößten muslimischen Land der Welt riskiert ein christlicher Priester sein Leben für Frieden unter den Religionen. Seine Gegner kämpfen mit Waffen und dem Strafgesetz. Er mit Geduld und Fußball
Karin WengerPrivat
11.03.2022

Eigentlich müsste Emmanuel Parvez längst tot sein. Wie sein Cousin zum Beispiel, durchlöchert von Kugeln der pakistanischen Taliban. Auch den Priester wollten Fanatiker in Gottes Namen töten, als sie ihn 2011 in seiner Pfarrei in der ländlichen Kleinstadt Pansara suchten.

Karin WengerPrivat

Karin Wenger

Karin A. Wenger, 28, interessiert sich generell für ­islamische Länder. An Pakistan gefällt der Reporterin die Vielfalt in der Gesellschaft. Auch wenn die Fundamentalisten lautstark auftreten: Das Leben besteht auch hier aus vielen ­Nuancen.

Philipp Breu

Philipp Breu, 34, hat in einem Monat Pakistan kein einziges Mal schlecht ge­gessen. Liebend gern würde er frisch gepressten Zuckerrohrsaft auch in Berlin bestellen können.

Zehn Jahre später, an einem Vormittag im ­Februar 2021: In einem Nachbar­dorf von Pansara, in der Mitte des Landes, eilt Parvez auf ein Fußball­feld. Er ist 70 Jahre alt, fast jeden Tag unterwegs und strahlt viel Ruhe aus. "Das war kein Foul!", rufen Spieler dem Schieds­richter wütend zu. Parvez vermittelt. "Seid friedlich, sonst könnt ihr ­gehen", sagt er zu den jungen muslimischen Männern.
"Wer besser spielt, gewinnt", sagt der Priester auch, "nicht, wer besser betet." Andernorts in Pakistan könnte ein Mob ihn für solche Worte lynchen – so, wie viele ­Christen schon getötet wurden und bis heute noch ­getötet werden. Aber nicht hier im Dorf Khushpur, das auch der "Vatikan Pakistans" genannt wird, eine der wenigen ­Gegenden, wo Christen Land besitzen.

Und schon gar nicht in dieser Woche: Seit zwei Jahr­zehnten organisiert Parvez jedes Jahr im Februar ein Fußball­turnier, an dem über 30 Mannschaften aus dem ganzen Land teilnehmen. Ihre Spieler gehören ­verschiedenen ­Religionen an. Es ist eines der wenigen Großereignisse im Land, das Christen organisieren und bei dem Muslime die Gäste sind.

Es reicht der Verdacht, und man wird festgenommen

Die ganze Woche über flankieren schwarz gekleidete junge Männer mit Gewehren den Priester. Zu ­vertrauen, dass da schon nichts passiert, reicht für einen Priester wie Parvez nicht. In kaum einem anderen Land der Welt leben Christen so gefährlich wie in Pakistan. Rund vier Millionen Mitglieder zählt die religiöse Minderheit. Die große Mehrheit der 238 Millionen Einwohner gilt als muslimisch.

Das größte Problem besteht aus drei Ziffern und einem Buchstaben: 295-C. Dieser Artikel in Pakistans Strafgesetz sieht die Todes­strafe vor für jeden, der sich abfällig über den islamischen Propheten Mohammed äußert. Es reicht der Verdacht, und schon kann man ohne Haft­befehl festgenommen werden. Auf Kaution freizukommen, ist nicht möglich. Gerichtsverfahren, die oft jahrelang in der ­Schwebe bleiben, nehmen kafkaeske Züge an: Die An­kläger müssen im Gericht die vermeintliche Beleidigung nicht wiederholen, weil das eine erneute Gottes­lästerung wäre. Und so missbrauchen Menschen das Blasphemie­gesetz nicht selten für persönliche Rachefeldzüge, beschuldigen unliebsame Nachbarn, Kolleginnen oder Konkurrenten.

Indirekter Freistoß, ein Standard – eine Torchance? Beim Fußball vergisst man schnell die Religion
Es zählt das spielerische Geschick und nicht, woran man glaubt. Match beim Turnier von Khushpur in der Nähe von Pansara


Vollzogen wurde die Todes­strafe aus diesem Grund noch nie, doch viele Beschuldigte sterben trotzdem. Sie werden von wütenden Mobs ermordet, in Selbst­justiz mit Benzin überschüttet und vor Polizei­stationen angezündet, andere im Gerichtssaal erschossen. Doch auch in Pakistan gehen die Meinungen auseinander, welcher Islam der ­richtige ist. Junge Menschen in den Großstädten geben nicht viel auf konservative Normen. Sie sagen, das Gesetz gehöre abgeschafft, wenn auch hinter vorgehaltener Hand. Öffentliche Kritik traut sich niemand. Den Widerstand der Straße erfuhren diverse Politiker, auch Benazir Bhutto, die erste weibliche Premierministerin eines islamischen Landes. 1994 wollte sie eine zehnjährige Haftstrafe für Falschanschuldigungen einführen. Es kam zu Massenprotesten und Todes­drohungen. 2007 wurde sie in ihrem Auto erschossen.

Priester Parvez, den hier alle "Father" nennen, bleibt zunächst verhalten und diplomatisch, wenn er über das Blasphemie­gesetz spricht. Er ist vorsichtig geworden. Die Einwohner Khushpurs haben bereits einen Märtyrer.
Parvez ist in Khushpur unter Familien mit vielen ­Kindern und wenigen Betten aufgewachsen. Kühe und Schafe schlafen vor den Haustüren. Die Frauen kochen über dem offenen Feuer und schrubben ihre Wäsche in Eimern. Wer auf die Straße tritt, blickt auf Plakate, von denen übergroß Parvez’ Cousin hinunter­schaut: Shahbaz Bhatti.

25 Kugeln durch­löcherten sein Auto

Er war Christ und der erste Minister für Minder­heiten. Als er im März 2011 nach nur zweieinhalb Jahren Amtszeit durch einen Vorort der Haupt­stadt Islamabad fuhr, durch­löcherten 25 Kugeln sein Auto, acht davon fanden die Ärzte später in seinem Körper. Die Attentäter verstreuten Flugblätter: Er habe sterben müssen, weil er die Blasphemie­gesetze verletzt habe. Wer diesem Christen – die Attentäter diffamierten ihn als Ungläubigen – folge, dem werde es ähnlich ergehen. Absender: die pakistanischen Taliban. Bhatti habe ihm nahegestanden, erzählt Parvez. ­Shahbaz Bhatti habe sich bedroht gefühlt. "Soll ich ins Ausland, vielleicht nach Amerika?", habe er ihn kurz vor seinem Tod gefragt. "Wenn ich du wäre, würde ich in ­Pakistan bleiben", habe Parvez geantwortet: "Wir müssen uns opfern, damit andere Leute künftig nicht mehr getötet werden." Heute bereue er seinen Rat.

Bhatti liegt auf dem Friedhof in Khushpur begraben. Zu seiner Beerdigung reisten Tausende Menschen an. Namhafte Politiker aber blieben fern. Einige Führer der Pakis­tanischen Volkspartei (PPP), der Bhatti angehörte, flogen zwar in dem Helikopter mit, der den Leichnam von Islamabad nach Khushpur überführte, verließen aber das Dorf aus Sorge um ihre eigene Sicherheit. Solidarität kann für Muslime gefährlich sein: Knapp die Hälfte derer, die den Auswirkungen des Blasphemie­­gesetzes zum Opfer fallen, sind Muslime – darunter auch Schiiten; ein Drittel zählt zu den Ahmadiyyas, die manche eine Sekte nennen. Ein Sechstel sind Christen; zu den Übrigen zählen auch Hindus. Einigen weist die staatliche Statistik für diese Art von Morden keine Religionszugehörigkeit zu.

Priester Parvez erinnert sich an die Beerdigung. Die Menschen­menge in Khushpur habe skandiert: "Beendet das schwarze Gesetz!" Er selber habe in eine Video­kamera gesprochen: "Ich will nicht in ein Paradies, in dem Mörder leben, und ich glaube auch nicht daran, dass Gott Mörder mit dem Paradies belohnt. Diese Extremisten denken, dass sie ihrer Religion einen großen Dienst erweisen, doch ­ihre Taten bewirken, dass sich Menschen vor ihrer Religion fürchten."

Parvez ist wieder ohne Leibwächter unterwegs

Einige Wochen später kamen sie: bewaffnete ­Männer, die ihn im Namen Gottes töten wollten. Parvez war ­gerade wegen einer Messe in einem anderen Dorf. Daraufhin schickte die Polizei Wächter, die zwei Jahre lang am ­Metalltor der Pfarrei Position bezogen. Auf dem Vorplatz und auf den Dächern schliefen bewaffnete junge Männer aus dem Dorf, obwohl Parvez ihnen gesagt habe, dass das nicht nötig sei. Er fürchte sich nicht.

Mittlerweile ist Parvez meist wieder ohne Leibwächter unterwegs. Aber er hält sich seither mit öffentlicher Kritik am Paragrafen 295-C zurück. "Ich habe keine Angst vor dem Tod, aber ich will noch nicht sterben", sagt er. Er habe noch viel zu tun.

Früher habe er oft gedacht, er wäre lieber in Afrika geboren als in einem Land voller Terroristen, sagt Parvez. Nun schätze er es, dass er in Pakistan so viel bewirken ­könne. Seit über 20 Jahren organisiert er das Fußball­turnier: "Wir können in Pakistan nicht sagen, sie sollen zu uns in die Kirche kommen, deshalb setzte ich auf Sport."

Während des Fußballturniers feiert Priester Parvez nahezu jeden Abend eine Andacht in der Kapelle von Khushpur
In kaum einem anderen Land der Welt leben Christen so gefährlich wie in Pakistan.


Zu Beginn nahmen ein Dutzend lokale ­Mannschaften teil, heute bewerben sich jedes Jahr über 70 Teams, der Hälfte muss er absagen. Fast jedes Spiel kommentiert der "Father". Er ruft: "Spielt für Pakistan, spielt für den Frieden. Lang lebe Pakistan!" Nationalismus vereine Menschen, die sonst viel trennt. Stunden­lang sitzt Parvez in der grellen Sonne, isst am Spielfeld­rand: "Eigentlich macht mir das keinen Spaß", sagt er, "doch ich will ihnen zeigen, dass ich für sie da bin." – Die muslimischen Spieler sagen, er sei "ein sehr guter Mann".
Das Preisgeld ist hoch, 100 000 Rupien, ­umgerechnet rund 500 Euro. Das entspricht drei bis vier durch­schnittlichen Monats­löhnen. Eine Woche lang stellen die örtlichen Gemeinden jedem Spieler einen Schlaf­platz und Essen umsonst. Rund 100 Freiwillige helfen mit, vieles am Turnier ist improvisiert. Es gibt weder eine Uhr noch eine Anzeige­tafel. Schon kurz nach Anpfiff ziehen Jungs mit Schub­karren voller Kreide ums Feld und zeichnen mit ­ihren Händen die Linien nach.

Volle Teller, volle Mägen, faire Spiele

Allahu akbar, Gott ist am größten – die Finalteams ­bilden vor Anpfiff je einen Kreis und schicken das Stoß­gebet zum Himmel. Dieses Jahr spielen ein Team aus dem nördlichen Swat-Tal und eines aus der nahe ­gelegenen Stadt Faisalabad um den Sieg. Kurz zuvor wollte ein ­Spieler ein Selfie mit dem Priester. Er möge eigentlich ­keine Bilder von sich, sagt Parvez. Doch dass muslimische Fußballer ein ­Foto mit ihm machen wollten, sei für ihn ein Erfolgserlebnis.

Das Spiel entscheidet schließlich die Mannschaft aus Faisalabad für sich. Bei der Sieger­ehrung hält ein Mann aus dem Dorf Khushpur eine Dankes­rede, er sagt ins ­Mikrofon: "Weder euer Prophet noch unserer bauten ­Brücken zwischen uns, aber Father Parvez tut das."

Priester Parvez konnte sich Respekt verschaffen, indem er den Mannschaften Jahr für Jahr eine gute Woche bietet, Teller und Mägen mit Essen füllt, faire Spiele organisiert. Und als Mitglied einer gering geachteten Minderheit versteht er es, sich diplomatisch auszudrücken.

In den zahllosen Madrassas Pakistans, in den Koran­schulen, predigen Gelehrte derweil, dass der Islam die einzig wahre Religion sei. Kinder lernen arabische Verse auswendig, die sie nicht verstehen. Ihre Eltern sind froh, dass sie gratis einen Teller Essen erhalten und, anders als viele andere Kinder im Land, wenigstens lesen und schreiben lernen. Wo Armut und ein Mangel an Bildung zusammenkommen, können Prediger leicht Massen ­mobilisieren und beeinflussen.

"Die Mullahs haben beinahe so viel Macht wie die Armee", sagt Priester Parvez. Er treffe sich mit muslimischen Gelehrten, er diskutiere mit ihnen, zum Beispiel über das Geld, das der Staat für Schul­bildung ausgibt. Religion sei nie ein Thema, sagt er. Zu heikel.

Extremisten wollten Pakistan destabilisieren

Menschen­rechts­organisationen und Politiker anderer Staaten kritisieren den Gottes­lästerungsparagrafen. Doch der amtierende pakistanische Premier­minister Imran Khan verteidigte ihn ­immer wieder. Denn er weiß: 295-C anzutasten wäre sein politisches Ende.

Das Islamistenproblem begann in den 1980ern ­unter dem Militär­diktator Zia-ul-Haq. In Trainings­camps im ­Norden des Landes ließ der mächtige pakistanische Geheim­dienst Mudschahedin ausbilden, um in ­Afghanistan gegen die Sowjets zu kämpfen. Auch Zehntausende Pakistaner wurden für den Guerilla­krieg ausgebildet. Als nach dem Anschlag vom 11. September 2001 die USA das Talibanregime in Afghanistan stürzten, strömten militante Afghanen über die Grenze nach Pakistan und brachten ihre Kalaschnikows mit. Die Regierung von ­Pervez Musharraf galt ihnen als Verräter – als Kollaborateur der USA im "Krieg gegen den Terror".

Die Extremisten wollten Pakistan destabilisieren – und mit Angriffen auf Kirchen die amerikanischen Luft­angriffe rächen. Auch andere Minderheiten wurden immer wieder Opfer von Attacken militanter Gruppen, die sich 2007 zu den pakistanischen Taliban vereinigten. In den 14 Jahren nach 9/11 kam es in Pakistan zu fast 11 000 Terroranschlägen. Bei Drohnen­angriffen der USA auf Terror­verdächtige starben unzählige Zivilpersonen.

2014 war ein Horrorjahr. Terroristen attackierten erst den Flughafen in Karachi. Dann töteten sie 130 Kinder an einer Schule in Peshawar. Das Militär griff hart durch, ließ Tausende Verdächtige erschießen oder ver­schwinden, manche steckten sie in Deradikalisierungs-Camps, 700 000 Personen mussten ihre Häuser verlassen. Mit Gewalt brachte die Armee so etwas wie Ruhe ins Land. Seither ist Pakistan tatsächlich deutlich sicherer geworden.

Das spürt auch Father Parvez. Wie zum Beweis zeigt er auf seiner Facebook-Seite während das Fußball­turnier weiter­läuft, wie ein Imam eine der Blasphemie ­beschuldigte christliche Kranken­schwester verteidigt. "Das ist eine große Veränderung", findet Parvez. "Die Menschen spüren, dass das Blasphemie­gesetz nicht ­missbraucht werden sollte." Trotzdem ist er nicht sehr optimis­tisch, dass Pakistan jemals ein sicheres Land für Christen wird.

Christliche Schuld­knechte auf dem Land

Am Spielfeldrand steht Ashir Masroor. Der Neffe des Priesters ist 35 Jahre alt und wurde in Deutschland ­promoviert. Nun arbeitet er als Assistenz­professor am ­Institut für Land­wirtschaft der Universität Faisalabad. Dorthin muss er eineinhalb Stunden mit dem Auto fahren. Er pendelt jeden Tag, statt in einem Hostel zu schlafen, wie das sonst in Pakistan üblich ist. "Meine Mutter sorgt sich", erzählt er, "sie sagt, man wisse nie, die Leute im ­Hostel könnten mich vergiften." Als Christ müsse er ­immer vorsichtig und zurück­haltend sein. Manchmal fragten ihn ­seine Kollegen, wieso er an die heilige Dreifaltigkeit ­glaube, es gebe doch nur einen Gott. Dann schweige er lieber, um keine Probleme zu kriegen. Wird eine Position mit besserem Lohn frei, bewerbe er sich nicht. Er wolle sich lieber anderen nicht in den Weg stellen.

Masroor hat es mit seiner guten Ausbildung weit gebracht. Die große Mehrheit der Christen lebt in Armut am Rande der Gesellschaft. Manche kommen in den Slums der Großstädte unter, andere arbeiten auf dem Land als Schuld­knechte.
Zum Beispiel Altaf Yusuf. Er ist 34 Jahre alt, aber ­seine Haut wirkt älter. Sie ist von Sonne und Staub gezeichnet. Er ging nie zur Schule, nun arbeitet er auf einer der ­vielen ­Ziegeleien im Land. Er kann nur ein einziges Wort ­schreiben und lesen: seinen Namen. Alle Arbeiter haben beim Besitzer Schulden: weil sie mal krank waren oder einen Unfall hatten. Oder weil sie für die Hochzeit eines ihrer Kinder aufkommen müssen. Die Schulden werden vererbt, von ­Generation zu Generation weitervererbt. Um sie abzuarbeiten, werden Kinder in die Schuldknechtschaft geboren, in die Sklaverei. Ab und zu besucht Priester Parvez die Arbeiter und Arbeiterinnen. Ziegeleien seien für ihn ein besonderer Ort, sagt er. Eigentlich habe er Arzt werden ­wollen. Doch als er als 15-Jähriger eine Ziegelei besucht habe, habe er beschlossen, sein Leben den Armen zu widmen.

Yusuf und die anderen in der Ziegelei beginnen ihre ­Arbeit um vier Uhr morgens, pro Tag produziert eine ­Familie rund 1000 Ziegel. Nach Abzug einer Schulden­rate erhalten sie dafür umgerechnet nicht einmal drei Euro. Wenn Regen die Ziegel wegschwemmt, verdienen die ­Arbeiter nichts.

Ob Junge oder Mädchen, Kinderarbeit trifft hier auf dem Lande alle. Eine Minderjährige stapelt Ziegel zum Trocknen
"Father" Emmanuel Parvez segnet eine Freigekaufte in einer Siedlung für Arbeiterinnen und Arbeiter in Pansara

Früh an einem Morgen besucht Parvez die ­Ziegelei, wo die Familie Amjed arbeitet. Das Ehepaar hat sechs Kinder: die Mädchen Rida, 13, Rifa, 12, Swera, 10, und Mahak, 5, sowie die Buben Rihan, 8, und Miran, 7. Alle sitzen barfuß in der Hocke, drehen flink die halb getrockneten Ziegel­steine um, immer im gleichen Rhythmus. Es ist noch kalt, zwölf Grad Celsius. "Meine Güte", sagt der Priester, "das macht mich so traurig, sie sollten in der Schule sein." Natürlich wolle auch sie die Kinder lieber in den Unterricht schicken, sagt die Mutter Tahira Parveen: "Aber wenn wir alle arbeiten, produzieren wir mehr Ziegelsteine."

Der Besitzer der Ziegelei trägt ein frisches schwarzes Hemd und äußert sich nicht zum Verbot von Kinder­arbeit. Der Lohn seiner Arbeiter sei "nicht schlecht", findet er. ­Warum die Familie bei ihm verschuldet ist, und warum er sie so in seine Abhängigkeit zwingt? – Sonst kümmere sich ja niemand um sie, sagt er. Natürlich fände er es gut, wenn die Familie Amjed ihre Kinder in die Schule ­schicken ­würde. Doch er könne sie nicht zwingen, ihr Geld für einen bestimmten Zweck zu nutzen.

65 Familien hat Parvez bereits freigekauft

Der Besitzer und Parvez haben ein höfliches Verhältnis. Der Priester spart seit einiger Zeit. Mit dem Geld möchte er dann die umgerechnet 1100 Euro Schulden von Altaf Yusuf sowie die 2200 Euro der Familie Amjed begleichen und sie aus ihrer Schuldknechtschaft erlösen.

65 Familien hat er bereits freigekauft. Sie wohnen in einem Dorf, das Parvez für sie bauen ließ. Die Ortschaft heißt "Christ the King Colony". Die Häuser haben je ­eine Wasser­pumpe, zwei Zimmer, ein paar alte Möbel, ­eine ­kleine Küche und eine Toilette. Das mag ­bescheiden ­klingen. Doch für die Menschen hier bedeutet es ein ­Leben in Würde. Parvez zeigt auf ein leeres Feld am Rand des Dorfs: "Hier soll noch ein weiterer Straßenzug ­dazukommen. Mein Ziel ist, 300 Häuser zu bauen."

Jeden Sonntag holt ein Helfer die Bewohner ab und fährt sie mit einem Bus nach Pansara zur Pfarrei. In der großen Kirche stimmt Parvez ein "Halleluja" an, 150 ­Menschen singen ausgelassen mit.

Parvez hofft, dass eines Tages ein Team von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sein Lebenswerk weiterführt, auch das jährliche Fußballturnier. Noch zehn Jahre vielleicht, sagt er, habe er die Energie, bevor er sich zur Ruhe setzt. "Ich mache weiter, weil ich befürchte, dass niemand meine Arbeit fortsetzen wird."
Die Pandemie hat die finanzielle Lage verschlechtert, es kamen weniger Spenden ­herein. Den Bischof habe er nicht um Geld bitten können. Diese Fußballspiele, die seien sein persönliches Projekt, sagt Parvez. Verwandte halfen ihm aus. Nun sorgt er sich schon wieder um das nächste ­Turnier im kommenden Jahr. Aufhören will er auf keinen Fall, zu groß seien die Fortschritte.
In den ersten Jahren hätten sich die Spieler noch ge­weigert, Anders­gläubigen die Hand zu reichen. Mittler­weile setzen sich nach den interreligiösen Fußball­spielen manche muslimischen Spieler abends in die kleine ­Kapelle zu Parvez. Der Priester liest ihnen aus der Bibel vor. Und über den Köpfen der Männer hängt schief ein großes Bild, das Jesus zeigt, wie er das Brot bricht. Für prachtvolle Leuchter, Weihwasserbecken, Altarbilder, Tabernakel und andere Ausstattung fehlt das Geld.

Parvez verteilt Hostien. Die muslimischen Spieler ­nehmen sie, aber essen sie nicht. Auch nicht Yaqoob Khan Kharotti, ein 32-Jähriger, der schon seit zehn Jahren zum Turnier kommt. Er höre dem "Father" gern zu, sagt er. "Ich finde es gut, dass Menschen verschiedener Religionen hierher­kommen", sagt er, "das ist ein Zeichen von Liebe und Frieden."

Infobox

Zur religiösen Lage in Pakistan

Bis 1947 gehörte Pakistan zu Britisch-Indien. Nach seiner Unabhängigkeit wurde das Land entlang religiöser Grenzen geteilt. Mohammed Ali Jinnah, Staatsgründer des damals noch ­geeinten West- und Ostpakistan (heute: Bangladesch), schwebte ein muslimisches Land vor, in dem alle Religionen die gleichen Rechte haben, ein "Land der Reinen".

1948, ein Jahr nach Staatsgründung, starb ­ mit dem Qaid-e Azam, dem "größten Führer", auch dessen Vision. Bis dahin folgte mehr als ein Fünftel der Bevölkerung einem anderen als dem muslimischen "Way of Life". Heute sind es weniger als fünf Prozent: Hindus, Christen, die geschmähten Ahmadiyya-Muslime, Bahai, Sikhs und Buddhisten. Pakistanis verehren Jinnah weiterhin. Familien posieren in seinem Mausoleum in Karachi für Selfies.

1971 spaltete sich Bangladesch von der islamischen Republik Pakistan ab.

1977 putschte sich Mohammed Zia-ul-Haq an die Macht und begann, das Land und seine ­Gesetze zu islamisieren.

1986, zwei Jahre vor dem Ende seiner Herrschaft, führte Zia-ul-Haq Paragraf 295 gegen die ­Beleidigung jeder Religion ein. 295-B droht mit lebenslanger Haft bei Schändung des Koran, 295-C mit Todesstrafe bei Gotteslästerung.

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