Cheimaa Abdelmoula (Mitte) und ihre Mitbewohner*innen und Standortleiter Pascal Wolff (links oben außen)
Tausche Bildung für Wohnen e.V.
Wohnen
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Bei "Tausche Bildung für Wohnung" leben junge Menschen wie Cheimaa Abdelmoula mietfrei in einer WG und unterstützen im Gegenzug Schulkinder, die es alleine nicht schaffen
Tim Wegner
06.11.2025
4Min

Was wollen viele junge Menschen, wenn sie die Schule hinter sich haben?Vielleicht ausziehen? Eigene Erfahrungen machen? In einer WG mit anderen jungen Menschen leben? Das ist in deutschen Großstädten fast unmöglich. Es sind kaum noch Wohnungen auf dem Markt für klassische WGs, und wenn, dann werden sie zu Wucherpreisen möbliert vermietet.

Zugleich gibt es Stadtviertel, in denen viele Kinder aus systemisch benachteiligten Familien leben. Sie kommen in der Schule nicht mit, brauchen dringend Unterstützung. Warum nicht die einen, die eine Wohnung suchen, mit den anderen, die Unterstützung beim Lernen bräuchten, zusammenbringen?

Das versucht der Verein "Tausche Bildung für Wohnen e.V.". Junge Menschen können mietfrei in einer WG leben – und begleiten im Gegenzug Kinder aus armutsbelasteten Familien als Bildungspat*innen. Dies geschieht entweder im Rahmen des Bundesfreiwilligendienstes oder auch als Studierende während eines Freisemesters. Gezielt sucht sich der Verein für seine Arbeit Stadtteile aus, in denen besonders viele Menschen mit geringem Einkommen leben und viele Familien große Mühen haben, ihre Kinder im Schulunterricht zu unterstützen.

2012 hat sich der Verein gegründet und ist auf sechs Standorte in Deutschland angewachsen: Duisburg, Gelsenkirchen, Witten, Dortmund, Essen und Hamburg. In Summe über 4300 Kinder wurden seither in den Nachmittagsstunden betreut. Es gibt 11 WG-Wohnungen, mietfrei zur Verfügung gestellt von lokalen Wohnungsgesellschaften, die darin einen Mehrwert sehen, weil das Viertel belebt wird. Ebenfalls von den Gesellschaften gesponsert werden Flächen für die sogenannten "Tauschbars", offene Lern- und Begegnungsräume im jeweils gleichen Stadtviertel. Und 240 Bildungspat*innen haben sich seit der Gründung 2012 engagiert, in der Regel 25 neu in jedem Jahr.

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Eine von ihnen ist Cheimaa Abdelmoula aus Algerien. Da der Verein Teil des Bundesfreiwilligendienstes ist, können sich auch Menschen aus dem Ausland bewerben. Cheimaa hatte schon in ihrer Heimat Deutsch mit Abschluss Master studiert und wollte dann nach Deutschland ziehen, gerne für viele Jahre, vielleicht auch für immer.

Cheimaa Abdelmoula hatte viel Spaß in der WG (links) ebenso wie bei der Arbeit in der Tauschbar in Duisburg-Marxloh

Über Freunde hörte Cheimaa von dem Verein "Tausche Bildung für Wohnen". Sie bewarb sich 2023 online und wurde genommen. Für sie ideal: "Ich konnte kostenfrei wohnen und gleichzeitig etwas Wertvolles tun: Kinder aus benachteiligten Stadtteilen unterstützen."

Mittlerweile liegt das Jahr in der WG in Duisburg-Marxloh mit anderen jungen Menschen, die vielen Stunden Nachhilfeunterricht, spielen, gemeinsames Lernen, die pädagogische Arbeit hinter ihr. Cheimaa steckt mittendrin in einer Ausbildung als Sozialpädagogin und Erzieherin in einem Kindergarten; mit eigener kleiner Wohnung.

Was war ihre wichtigste Erfahrung?

"Wie stark ich sein kann, wenn ich anderen helfe – und zu sehen, wie gut sich manche Kinder mit unserer Hilfe innerhalb kurzer Zeit entwickelt haben", erzählt sie in fast akzentfreiem Deutsch. Da war zum Beispiel die achtjährige Alia (Namen geändert) aus Syrien, die kein Wort Deutsch sprach, als sie zum ersten Mal in die Tauschbar kam. Cheimaa spricht Arabisch, so wie Alia auch, und begann, sich intensiv um sie zu kümmern. Am Ende des Jahres war aus dem schüchternen Mädchen eine fröhliche und selbstbewusste Neunjährige geworden, die sich sowohl in der Schule wie nachmittags in der Tauschbargruppe voll einbrachte.

Bildungspatinnen wie Cheimaa sind zwar interessiert an der Arbeit mit Kindern, aber keine ausgebildeten Pädagogen. Auch sie selbst müssen viel lernen: über Verantwortung, Geduld, soziale Dynamik. In den ersten Wochen steht für sie ein intensives Einstiegsseminar auf dem Programm, hinzu kommen regelmäßige Reflexionsgespräche, Mentorings und verschiedene Workshops. Vormittags werden gemeinsam mit der pädagogischen Standortleitung das Tages- und Ferienprogramm sowie kleine Selbstverteidigungs- oder Kunst-Workshops für die Kinder geplant, bevor sie am Nachmittag mit den Kindern arbeiten – ein Fulltime-Job.

Hinzu kamen die Erfahrungen in der WG, erinnert sich Cheimaa. "Anstrengend" sei das manchmal gewesen, dieses intensive Zusammenleben mit erstmal völlig unbekannten anderen jungen Menschen. Einige aus ihrer WG-Gruppe waren zum ersten Mal weg aus dem Elternhaus und mussten nun selbständig ihren Alltag organisieren. Ihre Wohnung lag nur wenige Minuten von der Tauschbar entfernt – Arbeiten und Freizeit waren ständig miteinander verknüpft.

Doch genau darin liege der Reiz des Sozialunternehmens, sagt Gründerin Christine Bleks: "Wir wollen eine Win-Win-Win-Situation schaffen: für die jungen Erwachsenen, die Kinder und den jeweiligen Stadtteil." Junge Menschen, die ausziehen wollen, aber keine Chance auf dem Wohnungsmarkt haben, könnten mietfrei wohnen und in dieser Zeit auch viel über sich selbst viel lernen: "Sehr häufig finden sie erst bei uns heraus, welchen Weg sie einschlagen wollen", so Bleks und sagt weiter: "Ähnliches gilt für die Kinder, die hier einen sicheren Rahmen zum Lernen und Spielen bekommen, sowie verlässliche Bezugspersonen finden – alles Anker, die ihnen im Alltag oft fehlen." Und zuletzt profitiere auch der Stadtteil, der neu belebt werde, gerade eben durch die Nähe von WG und Tauschbar, arbeiten und wohnen an einem Ort.

Ohne Spenden von Stiftungen und Unternehmen, den Zuschüssen vom Bundesfreiwilligendienst und auch dem Engagement der lokalen Wohnungsgesellschaften könnte "TBfW", so das Kürzel, nicht überleben. Die jungen Menschen bekommen nicht nur eine mietfreie Wohnung, sondern auch ein Taschengeld von 420 Euro im Monat. 47 Angestellte müssen finanziert werden. Der Verein ist längst ein kleines Unternehmen und will weiter wachsen. Der Standort in Hamburg ist ein Social Franchise-Partner, weitere Ableger sollen hinzukommen.

Interesse an einer Bildungspatenschaft mit kostenlosem WG-Zimmer? Gerade läuft das Aufnahmeverfahren für den Jahrgang 2026 - noch gibt es Plätze!

Infobox

"Tausche Bildung für Wohnen e.V." richtet sich an junge Menschen, die sich im Tausch für 1 mietfreies WG-Zimmer, monatliches Taschengeld und eine intensive Qualifizierung als Bildungspat:innen für Kinder in strukturell benachteiligten Stadtteilen engagieren.

Die Bewerbungsfrist für 2026 ist angelaufen. Infos gibt es hier, oder per Mail: bewerbung@tauschebildung.org; Tel: +49 (0) 1590 6434920.

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Kolumne

Dorothea Heintze

Wohnen wollen wir alle. Bitte bezahlbar. Mit Familie, allein oder in größerer Gemeinschaft. Doch wo gibt es gute Beispiele, herausragende Architekturen, eine zukunftsorientierte Planung? Dorothea Heintze lebt in einer Baugemeinschaft in Hamburg und weiß: Das eigene Wohnglück zu finden, ist gar nicht so einfach.