Einsamkeit
In Lindweiler hört endlich jemand zu!
Köln-Lindweiler ist umgeben von Autobahnen, es gibt keine Geschäfte, viele Menschen fühlen sich abgehängt. Die AfD wurde hier stärkste Kraft. Zum Glück gibt es Melek Henze und ihr Team vom "Lindweiler Treff"
Melek Henze brachte neuen Schwung in die Siedlung
Vincent Kleemann
Tim Wegner
Vincent Kleemann
30.07.2025
7Min

Zu Melek Henzes Arbeit gehört es, Kaffee zu trinken. Wenn, so wie heute, die Sonne scheint, stellt sie pünktlich um neun zwei ­Holzhocker nach draußen und schaltet die ­Kaffeemaschine ein. Dann setzt sie sich auf den Marien­berger Hof, ­einen Platz im Zentrum von Lindweiler, und lädt jeden Passanten zum Kaffee ein. Ein Nein akzeptiert sie erst, wenn es einen guten Grund gibt.

Einen guten Grund hat der alte Mann mit der Schiebermütze, der kurz nach zehn seinen Rollator über den Platz schiebt. "Guten Morgen, wollen Sie sich setzen?", ruft ­Henze ihm entgegen. Der Mann lehnt ab. Er sei spät dran, müsse schnell, so schnell es eben geht, zum Sparkassenbus, sonst könne er erst in einer Woche wieder Geld ab­heben. Dass der Bus in Lindweiler hält, hat Melek Henze im ­Rahmen des Lindweiler "Veedelsbeirats" mitorganisiert.

Seit 2021 ist sie Leiterin des Lindweiler Treffs, eine dia­konische Begegnungsstätte auf dem Marienberger Hof. "Andere Stadtteile sind ohne Auto kaum zu erreichen, Lindweiler liegt zwischen der A 57, der A 1 und einer Bahnlinie", sagt sie. Wer Geschäfte, Cafés oder Ärzte erreichen will, muss den Bus nehmen. Das dauert lange und mit ­Rollator ist das Ein- und Umsteigen gar nicht so leicht.

Anita Kellershon ist mit ihrem Fahrrad vergleichs­weise mobil. Mehrere Male in der Woche kommt sie damit zum Lindweiler Treff, einem kleinen, rechteckigen Bau, der ­weiße Putz leicht gelblich verfärbt, umgeben von ­vierstöckigen Plattenbauten. Vor einigen Jahren ersetzte die Stadt die kranken Bäume auf dem kargen Platz durch bunte Bänke und Tische. Dazwischen hält Kellershon mit dem Rad.

"Hallo!", ruft sie. "Mein Sonnenschein", begrüßt Henze die 64-Jährige mit einem breiten Grinsen. ­Kellershon lebt seit ihrer Geburt in Lindweiler. "Meine Eltern haben immer gesagt: ‚Ihr kriegt uns nur im Sarg aus ­Lindweiler raus‘, und so war es dann auch", erzählt sie. Auch ­Kellershon will nicht mehr weg aus Lindweiler, aber hierherziehen würde sie heute nicht mehr. "Hier ist doch nichts, außer einem Kiosk. Früher konnte ich ­wenigstens noch zum Nachbarn gehen und nach Eiern oder Milch ­fragen, das würde ich heute nicht mehr ­machen." ­Inzwischen sind viele ihrer Bekannten weggezogen.

Die Leiterin Melek Henze (rechts) spricht viel mit ihren Gästen - auch über Politik


"Hier leben Menschen vor unserer Nase in einer international bekannten Stadt völlig abgehängt: Es gibt keine Ärzte, kein frisches Brot zu kaufen, keine Cafés", beklagt Melek Henze. Die Stadt Köln weiß das – im 2013 veröffentlichten "Integrierten Handlungskonzept für Lindweiler" hatte sie das Ziel formuliert, "das einzige noch bestehende Ladengeschäft mit Artikeln des täglichen Bedarfs" zu unterstützen. Das Gegenteil ist eingetreten: Es schloss im Mai 2024. "Fehlende Kaufkraft", sagt Henze. Wer kaufen könne, kaufe oft woanders. "Der Laden wurde auch von manchen bewusst gemieden, weil der Besitzer Türke war", sagt sie.

Die besten Wahlergebnisse fuhr die AfD ein

Diese Haltung spiegelt sich in den hohen Wahlergebnissen der AfD wider. Bei der Bundestagswahl 2025 wurde die AfD mit über 24 Prozent stärkste Kraft. In Köln insgesamt kam die Partei gerade mal auf zehn Prozent. "Das finde ich ein alarmierendes Zeichen für einen Stadtteil, der so vielfältig ist in Lebensentwürfen, Herkunft und sozialen Milieus", sagt Henze.

Die starken Wahlergebnisse der AfD in Lindweiler ­waren auch ein Grund für Henze, die Stelle ­anzunehmen. Sie selbst hat türkische Eltern, ihre Familie kam vor mehr als 40 Jahren aus der Türkei ins Ruhrgebiet. "Schon in ­meiner Kindheit habe ich gelernt, mich in sehr unterschiedlichen Lebenswelten zurechtzufinden."

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Henze schreckt nicht davor zurück, mit den Menschen über ­Politik zu sprechen. "Vor der Bundestagswahl habe ich mit einigen den Wahl-O-Mat gemacht. Die wählen zwar die AfD, aber eigentlich kommen andere Parteien beim Wahl-O-Mat raus, darüber haben wir dann gesprochen."

Das Vertrauen musste Henze sich hart erarbeiten. "Mittlerweile kann ich mit den meisten gut reden, weil sie merken, dass ich ein ehrliches Interesse habe." Das verlangt auch ein gewisses Maß an Flexibilität. Als sie für den Lindweiler Treff Biomilch besorgte, wollten die nicht ­alle trinken und sagten Henze: "Da sind Impfstoffe drin, die da oben wollen uns über Umwege Chipmaterial unter­jubeln", erzählt sie. Seitdem gibt es nur noch Kondensmilch.

Wochentags zwischen 9.30 und 12 Uhr trifft sich eine Rentnergruppe im Café Schatztruhe, das zum ­Lindweiler Treff gehört. Die Rentner trinken den ein Euro teuren ­Kaffee, essen die ebenso günstigen belegten Brötchen und schimpfen. "Es wird so viel gekifft, dass mir manchmal schlecht wird", klagt etwa eine Frau mit rot gefärbtem Kurz­haarschnitt. Wenn sie die Kiffenden anspreche, ­werde sie von ihnen bedroht. Sie habe schon mehrmals Anzeige erstattet, nachdem ihre Wohnungstür von Nachbarn beschmiert worden sei. "Die Anzeigen haben nichts gebracht", sagt sie. "Niemand hört uns zu, ich will hier weg." Doch in anderen Stadtteilen findet sie keine Wohnung, die sie mit 800 Euro Rente bezahlen kann. "Hier ist es wirklich nicht schön! Hier ist nichts los", sagt eine andere Rentnerin am Tisch.

In der Schatztruhe arbeiten vor allem Ehrenamtliche

In der "Schatztruhe" arbeiten vor allem Ehrenamtliche. Auch Anita Kellershon verkauft dort freitagvormittags Kaffee, Brötchen und Secondhandkleidung. Sie bekommt Bürgergeld, wie viele in Lindweiler – der Anteil ist laut "Kölner Lebenslagenbericht" mit rund 20 Prozent überdurchschnittlich hoch. Zudem leben dort viele Alleinerziehende, die ein höheres Armutsrisiko ­haben. Als Kellershons vier Kinder klein waren, habe sie für einen geringen Lohn im Lager gearbeitet. Eigentlich wollte sie eine Ausbildung zur Erzieherin machen, aber das schnelle Geld schien ihr verlockender. "So dumm, wie man als Jugendliche eben ist", sagt sie. Mittlerweile sind die Kinder ausgezogen, sie lebt allein. "Durch die Arbeit in der ‚Schatztruhe‘ komme ich überhaupt mal raus und treffe andere Leute", sagt ­Kellershon. "Sonst bin ich eher ein Stubenhocker."

Die Ehrenamtlichen sollen durch ihre Tätigkeit den Anschluss nicht verlieren. "Etwas mehr als die Hälfte der Ehrenamtlichen sind schon länger arbeitslos", sagt Melek Henze. Finanziert wird der Lindweiler Treff aus Projekt-, Stiftungs- und kommunalen Mitteln. Um Letztere muss die Diakonie jedes Jahr aufs Neue kämpfen – kurzum: Es ist nicht genug Geld da, um die Ehrenamtlichen für ihren Aufwand zu entschädigen. Als Dankeschön versucht Henze, sie so oft wie möglich zum Mittagessen einzuladen oder Feste zu organisieren. Würstchen und Waffeln kostenlos.

Myriam Kind studiert Soziale Arbeit und ist im Café Schatztruhe tätig, wo es auch Secondhandkleidung gibt

Kürzlich hat Henze das Projekt beim Kölner Ehrenamtspreis angemeldet. "Gewonnen haben wir zwar nicht, aber alle Ehrenamtlichen haben eine Urkunde bekommen." Eine der Frauen weinte vor Freude und konnte es kaum erwarten, die Urkunde ihren Söhnen zu zeigen. "Es wird kaum wahrgenommen, dass sich Menschen mit wenig Geld engagieren. Die Wertschätzung ist für die Menschen unglaublich wichtig", sagt Henze. Außerdem nutzen Henze und ihr kleines Team die Arbeit mit den Ehrenamtlichen, um diese zu ­unterstützen – etwa bei Bewerbungen oder Sozialhilfeanträgen. Der Lindweiler Treff bietet Schülerhilfe an, Sozialpädagogen planen mit ihnen ihren Berufsweg. Auch Erzählcafés, PC-Schulungen und Bewerbungstrainings stehen auf dem Wochenplan.

Bevor sie beim Lindweiler Treff anfing, arbeitete die studierte Sozialwissenschaftlerin als selbstständige interkulturelle Beraterin und zertifizierte Mediatorin und organisierte Veranstaltungen. Als Corona kam, veränderte sich die Arbeitsweise. Alle Angebote waren nur noch aus dem Homeoffice und online möglich. "Während Corona ist mir deutlich geworden, wie wichtig mir der unmittelbare Kontakt zu Menschen ist."

Zugleich sei ihr während des Lockdowns bewusst geworden, wie gut sie es im Vergleich zu einsameren Menschen habe. Sie habe etwas zurückgeben wollen und engagierte sich ehrenamtlich. "Ich hatte eine 87-jährige jüdische Nachbarin aus Venezuela. Die Frau hat aufgehört zu essen und hat von venezolanischem Essen aus ihrer Kindheit erzählt, da habe ich im Internet recherchiert und für sie Arepas, Maisfladen, zubereitet." Das habe beiden so gutgetan, dass Henze nach einer Stelle suchte, bei der sie mit Menschen zu tun hat. "Ich verdiene jetzt weniger Geld als vorher, aber mir geht es seelisch viel besser, weil ich weiß, dass ich direkt etwas bewirken kann und auch direkt eine Wirkung sehe."

So wird es auch weiterhin zu ihren Aufgaben gehören, mit den Menschen aus Lindweiler am Kaffeetisch ins Gespräch zu kommen. Der Herr mit der Schiebermütze, 97 Jahre alt, ist vom Sparkassenbus zurückgekehrt. Er erzählt vom Zweiten Weltkrieg, von seiner russischen Kriegsgefangenschaft in einem Bergwerk im Donbass, von den 750 Mark Entschädigung, die er ­damals für die vier Jahre bekommen hat. Er empört sich, dass die Ukrainer in Deutschland so viel Geld bekämen. Als er sich immer weiter in Rage redet, beendet Henze das Gespräch mit einem "Wollen wir mal zur ‚Schatztruhe‘ rüber­schauen?". Der Mann bedankt sich: "Sie sind eine gute Zuhörerin."

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