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Wir stehen hier auf der Terrasse eines großen Wohnhauses im Süden von Stockholm, direkt an einem See. Im Haus gibt es kleine Wohnungen, Community-Workplaces, Küchen, Sporträume, im Park eine eigene Sauna. Das ist der Sitz des Emerge-Lakefront-Projekts. Du hast es mitgegründet. Was ist das genau?
Tomas Björkman: Emerge Lakefront ist ein Wohnprojekt für Menschen aus aller Welt, die hier für einen bestimmten Zeitraum, maximal für drei Jahre, leben und miteinander lernen wollen. Die an sich arbeiten und über sich hinaus wachsen wollen und etwas für die Gesellschaft tun wollen.
Wenn es nach dir und den Menschen, die jetzt hier leben, geht, dann soll Lakefront die Keimzelle einer großen, vielleicht sogar weltweiten Bewegung werden?
Ja, das wünschen wir uns. Wir alle stehen gerade vor einer immer komplexer werdenden Welt. Und diese Welt verlangt von uns neue Fähigkeiten - nicht nur intellektuell, sondern auch emotional. Das aber lernen wir nur durch eigene Erfahrung, am einfachsten im Zusammenleben, im Alltag. Daher das Zusammenwohnen. Auf Englisch lautet unser Claim: "Inner shift for outer change"; auf Deutsch lässt sich das leider nur sehr unelegant übersetzen, "innere Veränderung für äußeres Wachstum."
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Für diese Art von Wohnprojekten mit Bildungsanspruch gibt es ein historisches Vorbild in Skandinavien: die Folkhögskolan, "Volkshochschulen" …
Die skandinavischen Länder zählten im 19. Jahrhundert zu den ärmsten Europas. Die meisten Menschen, auch meine Großeltern, lebten auf dem Land, waren einfache Bauern. Doch schon damals gab es Menschen, heute würden wir sie Social Entrepreneurs nennen, die etwas gegen das Elend dieser Menschen tun wollten. Sie waren überzeugt davon, dass fehlende Bildung der Schlüssel für die Rückständigkeit ihrer Länder war, und gründeten Wohnheime, in denen Menschen aus allen Schichten der Bevölkerung für fünf bis sechs Monate kostenlos leben und lernen konnten.
Wer hatte die Idee dazu?
Der dänische Pastor Nikolai Frederic Severin Grundtvig. Er hatte sich intensiv mit den deutschen Idealisten und Romantikern beschäftigt, mit Johann Gottfried Herder, Wilhelm von Humboldt, Friedrich Schiller, Johann Wolfgang von Goethe und vor allem auch Johann Gottlieb Fichte, und dort das Konzept der ganzheitlichen Bildung für sich entdeckt. Bildung nicht im Sinne von Fremdsprachenlernen oder Formelnbüffeln, sondern als lebenslanges Lernen mit dem "Geist", eine "Erziehung zum Leben."
"Bildung" hat sich als Begriff auch ohne Übersetzung fest in den nordischen Ländern etabliert - die Bewegung wuchs sehr stark?
Um 1920 gab es allein in Schweden 150, in Dänemark 100 und in Norwegen 75 Häuser. Wichtig finde ich auch, wie stark Frauen involviert waren, das Thema Gleichberechtigung stand von Anfang an im Fokus der "Bildungsbewegung". Bis zum Zweiten Weltkrieg hatten etwa zehn Prozent der Bevölkerung so eine Einrichtung besucht. Das waren enorm viele, heute würden wir von einer "critical mass" sprechen. Viele Politiker dieser Staaten hatten eine Volkshochschule besucht und reformierten die Bildungspolitik dann auch von oben.
Du hast zusammen mit der Dänin Lena Rachel Andersen ein Buch über diese Bewegung geschrieben – das "Skandinavische Geheimnis". Wieso Geheimnis?
Weil diese Erfolgsgeschichte in Vergessenheit geraten ist. Dabei ist sie der Schlüssel für den Aufstieg der skandinavischen Länder zu den reichsten Nationen der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg. Jetzt allerdings verlieren wir diese Vorreiterrolle. So wie in vielen Ländern droht auch bei uns ein Rechtsruck, die Gesellschaft fällt mehr und mehr auseinander, große Teile der Bevölkerung verarmen.
Tomas Björkman
Kann gemeinschaftliches Wohnen die Welt wirklich besser machen?
Es kann vielleicht einen kleinen Teil dazu beitragen. Das hoffen wir. Wir brauchen Menschen, die Verantwortung für die Gesellschaft übernehmen und sich konstruktiv einbringen. Das funktioniert aber nur, wenn sie sich selbst erkannt haben. In der Bildung nennen wir das "Selbstautorisierung": sich selbst in den eigenen Kräften erkennen und diese dann zum Wohle aller einbringen.
In deinem Buch erzählst du auch die Geschichte der US-Ableger der Volkshochschulbewegung.
Die Idee war mit den Auswanderern nach Amerika gelangt. Die bekannteste Volkshochschule war die Highlander Folk School in Tennessee. 2016 besuchten skandinavische Regierungschefs die USA, und Präsident Obama dankte den nordischen Ländern ausdrücklich für diese Idee. Sowohl Martin Luther King als auch die Bürgerrechtlerin Rosa Parks hatten die Folk School besucht. Ohne die beiden, so Obama, hätte er sich nie ermutigt gefühlt, der erste schwarze Präsident zu werden.
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Du selbst bist Schwede, hast viele Jahre in der Schweiz, in Genf gelebt und dort eine Vermögensverwaltungsgesellschaft gegründet. Was hat dich dazu bewogen, die Seiten zu wechseln und mit deinem Vermögen den Grundstock für eine Stiftung zu legen?
Als Geschäftsführer meiner Vermögensverwaltung hatte ich mit meinen Führungskräften an einer sehr innovativen und intensiven Fortbildung teilgenommen. Wir trafen uns im Laufe einiger Monate regelmäßig zu mehrtägigen Workshops. Wir sind zusammen verreist und haben uns im Team unglaublich gut kennengelernt. Diese Monate hatten sich nicht nur auf unser Unternehmen und seinen wirtschaftlichen Erfolg positiv ausgewirkt, sondern bei uns allen auch im Privatleben. Ich habe erkannt, was ich alles erreichen könnte, wenn ich mich selbst emotional weiter "ausbilde". Vielen anderen aus meinem Team ging es ähnlich. Und wir alle fragten uns: Wenn uns das in kleinem Kreis gelingt, warum nicht größer denken?
Du hast dann die "Inner Development Goals" mit entwickelt. Sie beschreiben in sieben Stufen, wie jeder Mensch zu innerem Wachstum gelangen kann. Die IDG-Bewegung wächst weltweit, mittlerweile gibt es über 800 Hubs, wie ihr sie nennt, in 90 Ländern. In den nächsten Tagen startet der Welt-Summit in Stockholm mit fast 1000 Teilnehmern. Werdet ihr da auch über Lakefront reden?
Einige der Veranstaltungen während des Summits finden in Lakefront statt. Das gibt den Teilnehmern die Möglichkeit, sich so ein Co-Living-Projekt, das der Förderung des inneren Wachstums gewidmet ist, aus nächster Nähe anzusehen. Und wir erhoffen uns natürlich, dass es Nachahmer gibt …
Ich bin in Lakefront, weil mein Sohn hier vor sechs Monaten eingezogen ist. Zurzeit leben ca. 40 Menschen hier, wie viele sollen es mal sein?
Wir gehen davon aus, in einem ersten Schritt auf rund 70 Personen anzuwachsen.
Menschen wie mein Sohn zahlen Miete, weil sie einen Beruf haben und Geld verdienen. Das können nicht alle, die sich hier bewerben. Gibt es Stipendien?
Ja, und zurzeit wohnen auch zwei Stipendiatinnen hier, eine Künstlerin und eine Wissenschaftlerin. Aber grundsätzlich soll sich Lakefront finanziell selbst tragen, wir brauchen eine stabile wirtschaftliche Basis zum ruhigen Arbeiten.
Wer mitwohnen will, ob als Stipendiat oder Mieter, muss sich bewerben. Was sind eure Auswahlkriterien?
Sicher nicht Alter, Geschlecht, Herkunft oder Nationalität - dafür umso mehr die innere Einstellung, zu dem, was diese Menschen machen: Ihre Arbeit sollte in irgendeiner Weise darauf ausgerichtet sein, die Welt zu einem besseren Ort machen, und sie sollten daran interessiert sein, an ihrem eigenen inneren Wachstum zu arbeiten.
Das Projekt ist explizit kein Wohnprojekt auf Lebenszeit?
Bei den Volkshochschulen waren das nur fünf bis sechs Monate, bei uns können es maximal drei Jahre sein. Vielleicht schaffen wir es in der Zukunft, auch ein Projekt fürs lebenslange Zusammenwohnen aufzubauen, mit ähnlichen Zielen.
Wie sieht euer Lehrprogramm aus?
Alle, die hier leben - auch meine Partnerin Karin und ich - bringen sich ein: Dazu gehören Workshops und Diskussionen, wir schauen gemeinsam Filme, machen Improvisationstheater, Yoga, diskutieren über Geschichte, Politik, Gleichberechtigung, über unsere Gefühle und individuellen Probleme. Dazu ist der gemeinsame Alltag eine Herausforderung in so einer großen Gruppe. Das wissen alle, die mal in einer WG oder großen Familie gelebt haben. Aufeinander Rücksicht nehmen sagt sich immer so leicht, aber es ist eine alltägliche Herausforderung.
Der Ort, an dem Lakefront entsteht, hat, wie die Volkshochschulbewegung selbst, eine besondere Vergangenheit?
Das Haus steht auf dem riesigen Gelände der Stora Sköndal Stiftung, die jetzt einen Teil ihrer Gebäude verkauft, weil sie so nicht mehr gebraucht werden. Sie wurde 1905 von der schwedischen "Christian Foundation" zur Ausbildung von Diakonen, Krankenschwestern und Kirchenmusikern gegründet. Das heißt, da, wo wir heute leben und arbeiten, ging es schon immer um Mitmenschlichkeit, gemeinsames Wachstum, gemeinsames Lernen. Ich finde das sehr inspirierend.
Unten am See steht ein schönes Holzhaus mit einer Orgel - dort wurden früher Kirchenmusiker ausgebildet. Gehört euch das auch?
Nein, das haben wir nicht mitgekauft, aber wir dürfen es nutzen und hatten neulich schon ein wunderbares Konzert dort. Wir singen und musizieren hier viel, auch das gehört dazu.
Emerge Lakefront ist ein gemeinwohlorientiertes Non-Profit-Wohnprojekt in Stockholm. Die Miete für ein Zwei-Zimmer-Apartment mit Kochnische und Bad liegt bei ca. 700 Euro. Wie beim historischen Vorbild, den skandinavischen Volkshochschulen, gibt es bei Lakefront keine Verpflichtung, sein Leben zu ändern und bestimmte Verhaltensmuster einzuüben. Bewerben kann sich jede Person, die mit Leidenschaft und Interesse ihren Beruf ausübt und sich zum Wohle aller mit diesen Fähigkeiten aktiv in die Gesellschaft einbringen möchte. Noch gibt es freie Plätze. Bewerbungen sind online möglich.
Der IDG-World Summit findet vom 15. bis 17. Oktober 2025 in Stockholm statt.
Das Buch "Das skandinavische Geheimnis" erschien 2020 im Phänomen-Verlag, 572 Seiten, 24,95 Euro