Die Deutschen sind "Krisenakrobaten", sagen Sie – eher die verarmten Artisten an der roten Ampel oder eher "Stars in der Manege"?
Stephan Grünewald: Wir sind Stars in unserer privaten Manege. Wir haben in Tausenden von Interviews festgestellt: Im Privaten jonglieren die Leute äußerst wirksam, haben Selbstvertrauen - aber diese Resilienz wirkt nicht auf die Gesamtgesellschaft.
Stephan Grünewald
Was heißt das?
Unsere große Zuversichtsstudie sagt: 87 Prozent sind zuversichtlich mit Blick aufs Private, aber nur 23 Prozent mit Blick auf Politik und Gesellschaft. Krisen wirken wie Zombies, sie kommen ewig immer wieder. Also ziehen sich die Leute in ihr Schneckenhaus zurück und ziehen einen Vorhang vor die Welt da draußen. Sie gucken weniger Nachrichten, lesen weniger Zeitung. Maximierung der privaten Zufriedenheit durch Minimierung des Gesichtskreises. Aber der Vorhang ist nicht blickdicht. So entsteht eine diffuse Bedrohung, ein Gruselkabinett.
Akrobatik im Privaten: Wie machen das die Menschen?
Sie schaffen sich Wohlfühloasen, kaufen Trostprodukte, oft solche aus der "guten alten Zeit". Sie pflegen den eigenen Körper mit Cremes, Yoga und Fitness. Und sie suchen Gleichgesinnte, um sich zu bestärken. Wir stellen fest, dass die Freundeskreise immer hermetischer werden. Anstrengende, andersdenkende Freunde werden eher aussortiert. Aber genau das führt leider langfristig zu einer Wagenburgmentalität. Sehr gefährlich für die Demokratie!
"Junge Leute tun sich schwer, ihre Meinung zu sagen, weil sie Angst haben, gecancelt zu werden"
Stephan Grünewald
Und Sie haben herausgefunden: Die Deutschen spielen wie wild! Warum?
Spiele bieten einen sicheren Rahmen, ein festes Regelwerk. Man kann Wünsche ausagieren, die politisch nicht korrekt sind, ich setze einen matt, schmeiße ihn raus, mache Beute. Junge Leute, das haben wir erforscht, tun sich im echten Leben schwer, ihre Meinung zu sagen, weil sie ständig Angst haben, gedisst oder gecancelt zu werden. Im Spiel kann man das ausleben. Aber auch die Spieleabende finden in sehr ähnlichen Kreisen statt – regelrecht hermetisch.
Wo führt das hin?
Hermetik führt immer zu Radikalisierung. Die Gruppen, die Menschen in den Silos haben keinen Kontakt mehr zueinander. Silodarität statt Solidarität. 89 Prozent unserer Befragten sagen, sie leiden unter zunehmender Aggressivität.
Wie kommen wir da raus?
Raus aus der Komfortzone! In der Stadt muss es viel mehr Räume geben, wo Menschen sich begegnen. In den Schulen müssen die sozialen Skills erlernt werden, da ist unter Corona viel verloren gegangen. Über Gefühle reden, ganz viel auf Klassenfahrt fahren, soziales Pflichtjahr! Und in den Betrieben: Vorsicht vor zu viel Homeoffice, maximal zwei Tage. Klar muss es die Möglichkeit dazu geben. Aber wir stellen fest, wer nur zu Hause arbeitet, hat eine Wirklichkeitsdeprivation. Man ist nicht unter Kollegen, man fährt nicht mehr Bahn, so verliert man wie bei einem Daueraufenthalt in der körperwarmen Badewanne das Gefühl für sich und die Welt.
Corona ist schuld an allem …
Na ja, Corona hat auch viel Akrobatik befördert, um aus der Ohnmacht rauszufinden. Hamstern, putzen, heimwerken – und puzzeln wie wild. Als die Welt in 1000 Teile zersprungen war, haben sie sie wieder zusammengesetzt.
"Die Bereitschaft, in der Krise anzupacken, ist groß"
Stephan Grünewald
Kann man vom Puzzeln was lernen?
Nur, wenn alles ineinandergreift, ergibt es ein Ganzes. Wenn es einen sicheren Rahmen gibt. Und wir alle sind ja ein behindertes Kunstwerk. Erst wenn auch schräge Seiten – wie im Puzzle – zusammenkommen und sich ergänzen, klappt es.
Was brauchen wir noch, damit die Gesellschaft wieder zusammenfindet?
Eine Art Resonanz, wie im Jazzquartett. Ich muss begreifen, dass mal der eine vortritt und mal der andere. Und eine Schicksalsverbundenheit, wie wir sie manchmal beim Bahnfahren erleben. Der ICE bleibt auf offener Strecke stecken und schon informieren und solidarisieren sich alle im Abteil. Unfreiwillig tut die Bahn da einiges für den gesellschaftlichen Zusammenhalt …
Panne als Chance. Davon hat die Infrastruktur ja einiges zu bieten, neben der Bahn sind ja auch Straßen und Schulen kaputt. Warum kommt da keine Aufbruchstimmung auf?
Wir leiden unter gestauter Bewegungsenergie. Sie wurde einmal in den letzten Jahren erfolgreich kanalisiert, als wir alle zusammengeholfen haben, um die Energiekrise zu meistern. Wir, aber auch die Nachbarn haben das Thermostat runtergedreht und Habeck hat in Rekordzeit LNG-Terminals errichtet. So ist es uns gelungen, das Einsparziel sogar zu übertreffen.
Welches Thema könnte das jetzt sein?
Jetzt muss die Politik ein, zwei Themen priorisieren und klare Handlungsdirektiven aufzeigen. Die gestaute Bewegungsenergie wird nicht kanalisiert, wenn nur der Goldesel in Form eines Sondervermögens aktiviert wird. Stattdessen müssen Probleme klar und schonungslos benannt werden und der Knüppel muss aus dem Sack. Die Leute wären froh, wenn sie einbezogen würden. Die Bereitschaft, in der Krise anzupacken, ist groß.
Also eine Blut-, Schweiß- und Tränenrede. Wie einst Winston Churchill.
Ja! Vorhang runterziehen. Klar sagen: Das ist ein echtes Problem. Und das ist der Weg, wie wir das alle zusammen schaffen. Wie bei den Bremer Stadtmusikanten. Die haben es nur im Zusammenwirken geschafft, bezahlbaren Wohnraum zu finden. Übrigens landeten die nie in Bremen – aber sie hatten ein klares Ziel. Moses hat auch nie das Gelobte Land erreicht, aber er hatte ein Ziel.
Und was kann ich selber tun, um wieder Zuversicht und Selbstwirksamkeit zu erleben?
Gesprächsbereit bleiben, auch für Andersdenkende. Dafür brauchen wir Kneipen und öffentliche Plätze, Public Viewing – aber auch Kirchengemeinden und Stadtteilfeste. Auch mal raus aus dem Homeoffice. Nicht nur Netflix, sondern lineares Fernsehen mit verstörenden Nachrichten und Brennpunkten. Menschen auch analog treffen, nicht nur im Zoom.
Warum?
Menschen im echten Leben treffen – das hat eine andere Berührbarkeit, eine Unmittelbarkeit. Man kann sich in den Arm nehmen, man macht sich gemeinsam auf einen Weg. Das ist so wichtig!
Machen Sie das selber auch?
Meine Frau und ich haben einen Raum in Köln geschaffen, um unterschiedliche Perspektiven zuzulassen. Wir nennen es "Zusammenhaltestelle". Da haben sich zum Beispiel Politiker ganz unterschiedlicher Parteien getroffen. Wir kochen zusammen und machen "Küchenpsychologie". Oder ein Improtheater zum Thema "Schämen" – wir nennen es "My lovely shame". Ein Anfang.