Irgendwo stand neulich sinngemäß: dass viele Westdeutsche Malle besser kennen als Magdeburg. Vielleicht wird deshalb hier drüben so viel über den Osten, seine Befindlichkeit und vor allem seine Wählerbewegungen diskutiert: immer noch – ein rätselhafter Landstrich mit einer düsteren, nicht aufgearbeiteten Vergangenheit?
Jedenfalls einer, über den viele Klischees im Umlauf sind: Mangelwirtschaft, Plattenbau, Trabi. Im Westkino war der deutsche Osten lange das Stasi-Universum – gern gesehen in graubrauner Farbe mit Einschlägen von Knochenblässe. Wie in Florian Henckel von Donnersmarcks "Das Leben der Anderen", einem klaustrophobischen, bedrückenden Überwachungsthriller, der 2007 den Oscar gewann, von weiten Teilen der Kritik bejubelt wurde und bei uns immerhin 2,3 Millionen Zuschauer hatte.
Lesen Sie hier: Der Schauspieler Sebastian Koch übers Älterwerden, Krisen-meistern und seine Kinder
Als Parabel auf autoritäre Regime im Allgemeinen ließ sich 2012 Christian Petzolds "Barbara" lesen; der ebenfalls preisgekrönte Film erzählt von einer Berliner Ärztin, die in ein Provinzkrankenhaus versetzt wird, weil sie einen Ausreiseantrag gestellt hat.
Dagegen gilt der 1959 in Quedlinburg geborene Regisseur Leander Haußmann als Erfinder des "Ostalgie"-Films. Haußmanns "Sonnenallee" ist eine Geschichte über das Erwachsenwerden in der DDR der Siebziger, flott, poppig und ohne Scheu vor flachen Witzen: "Die Partei ist die Vorhaut der Arbeiterklasse." Als "Sonnenallee" 1999 herauskam, sagte Haußmann, es habe nicht nur die Stasi und die Verfolgten gegeben, sondern auch die "90 Prozent dazwischen", gewissermaßen die Parallelwelt derjenigen, die ihren Alltag am System vorbeilebten.
Fast immer stellt sich bei Filmen, die im deutschen Osten spielen, die Frage nach der Authentizität der Personen und Verhältnisse. Das gilt erst recht für die staatlich gelenkte Filmkultur der DDR selbst, die sowohl Vor- als auch Nachzensur kannte und kritische Filme wie Frank Beyers "Geschlossene Gesellschaft" und "Spur der Steine" im Giftschrank verschwinden ließ.
Filmemacher müssen nicht unbedingt das erlebt haben, wovon sie im Kino erzählen. Würde man das zur Voraussetzung machen, gäbe es ganze Genres nicht, die Science-Fiction zum Beispiel oder den Western. Aber wenn es um Geschichte geht, die uns so nahe ist, haben Zeitzeugen zweifellos eine wichtige Stimme. Und wenn wir schon zusammengehören wollen, dann müssen wir hier drüben auch mal die Lufthoheit im Deutungsraum aufgeben. Wir haben daher Filmschaffende mit "Ost-Bezug" gefragt, welche Filme aus dem und über den deutschen Osten, egal ob vor oder nach der Wende gedreht, sie als besonders wichtig und wahrhaftig empfinden.
"Spur der Steine" (R.: Frank Beyer, 1966)
Alexander Scheer, Schauspieler und Musiker, * 1976 in Ostberlin:
"Es ist zum Heulen. Der Film kam 1966 zur richtigen Zeit ins Kino und wurde sofort verboten. Da war die DDR noch nicht mal volljährig. Heute betrachtet, nimmt jenes Verbot das Ende dieses Landes bereits zehn Jahre vor der Ausbürgerung Biermanns vorweg. Nie ist mit mehr Idealismus und letztlich erfolgreicher darum gerungen worden, gesellschaftliche Gegenwart im Film tatsächlich abzubilden. Nie wurde im deutschen Kino direkter gespielt, Dialoge wurden nie gerader gesprochen. Nie war Manfred Krug so sehr eine Klasse für sich. Im Ergebnis ist dieser Film jedoch nie im Jetzt angekommen, fand nie sein Publikum. Ein Western des Sozialismus, der für immer zeitlos zwischen den Epochen hängt. Ein schwarz-weißes Monument der Vergeblichkeit. Wer etwas vom Osten wissen will, mache sich auf die Suche nach der Spur der Steine."
Katrin Sass, Schauspielerin, * 1956 in Schwerin:
"Die Filme der DDR waren besonders – wenn man zwischen den Zeilen gelesen hat. Spur der Steine habe ich damals nicht gesehen, weil er verboten wurde. Dann kam er nach der Wende heraus. Und man fragt sich: Wo haben wir gelebt? Es scheint alles so lapidar aus heutiger Sicht, dass man es kaum mehr fassen kann. Für mich war es eine Erinnerung an eine Zeit, in der es mich noch gar nicht gab in diesem Beruf. Ich habe versucht, mir vorzustellen, wie es gewesen wäre, wenn der Film normal gelaufen wäre. Das konnten sie sich nicht erlauben? Aber für die damalige Zeit war es tatsächlich sehr, sehr mutig."
Buchtipp: Katrin Sass und weitere Menschen sprechen über den Verlust eines geliebten Menschen
Ronald Zehrfeld, Schauspieler, * 1977 in Ostberlin:
"Die ersten Filme, die mir dazu einfallen: Spur der Steine mit Manfred Krug als Brigadeleiter Hannes Balla, gefolgt von Solo Sunny. Aber die spannende Frage ist doch: Welche Filme sind nach dem Mauerfall gewissermaßen im ‚Giftschrank‘ gelandet, welche Filme über die DDR bekommen die Zuschauer nicht zu sehen, die aber sehenswert wären – und die im Zuge der Einigung unter den Teppich gefallen sind? Ich denke, dass wir Bedarf haben, uns einfach die Filme der DEFA, Filme, die in der DDR entstanden sind, noch einmal zu Gemüte zu führen. Da sind sicher Diamanten zu entdecken."
"Stau – Jetzt geht’s los" (R.: Thomas Heise, 1993)
Christian Schwochow, Regisseur und Drehbuchautor, * 1978 in Bergen auf Rügen:
"Ich empfehle jedem diesen Film aus der Halle-Neustadt-Trilogie von Thomas Heise – ein Dokumentarfilm von 1992 über rechtsextreme Jugendliche in einer ehemaligen DDR-Mustersiedlung. Heise, der im Mai gestorben ist, hat einen einzigartigen und tiefsinnigen Blick auf Menschen im Osten geworfen, ohne sie zu bewerten. Als jemand, der selbst im Osten aufwuchs, hat mir sein Werk eine neue Perspektive und ein tieferes Verständnis dieses Landes vermittelt. Leider ist Heises Werk wenig bekannt, besonders im Westen Deutschlands. Seine Arbeiten liefen selten in westdeutschen Kinos. Das ist bedauerlich, denn er ist ein ganz besonderer Chronist des Ostens und damit auch Deutschlands."
"Solo Sunny" (R.: Konrad Wolf, 1980)
Andreas Dresen, Regisseur, * 1963 in Gera:
"Die Schlagersängerin Sunny träumt von ihrem Solo. Ein wunderbarer, rührender, verzweifelter und oft auch komischer Blick auf ein Land, in dem Angepasstheit jeder Individualität ihre Grenzen setzt. Mit tollen Dialogen und vielschichtigen Figuren, großartiger Filmmusik von Günther Fischer und einer umwerfenden Renate Krößner als kratzbürstig-verletzliche Sunny, als bunter Vogel in einer Welt ohne Amplituden. Für mich einer der besten DEFA-Gegenwartsfilme."
"Wittstock-Zyklus" (R.: Volker Koepp, 1975–1997)
Helke Misselwitz, Regisseurin, * 1947 in Planitz:
"‚Also, einen Spielfilm stell ich mir so vor‘, sagt Elsbeth, die alle Stupsi nennen, gerade mal 18 Jahre alt. Sie beschreibt ein Szenarium aus Liebe, Verrat, Versöhnung, auch was von der Arbeit, nicht haltmachen beim Happy End und vor den Konflikten, zusehen, wie die Familie wächst. – Es ist, als hätte der Regisseur Volker Koepp sich Stupsis Szenarium zu Herzen genommen. Nur dass er ganz viel von der Arbeit erzählt, der Arbeit der Textilarbeiterinnen Stupsi, Edith und Renate im Obertrikotagenbetrieb ‚Ernst Lück‘ in Wittstock, in der Prignitz. Der Arbeit, die sie selbstbewusst macht und deren Pro- duktionsabläufe sie unermüdlich, manchmal verzweifelt kritisieren. Immer wieder, zwischen 1975 und 1997, sehen wir dem Leben der drei Frauen zu, den Vergeblichkeiten und Verlusten und den seltenen Momenten von Glück. Dass Schönheit aus Wahrhaftigkeit entsteht, wie es Koepp mit dem Dokumentarfilmzyklus Wittstock beweist, hat kein Spielfilm über das Leben in der DDR und der nachfolgenden Umbruchszeit derart erreicht."
"Gundermann" (R.: Andreas Dresen, 2018)
Martin Brambach, Schauspieler, * 1967 in Dresden:
"Ich halte Gundermann von Andreas Dresen für einen der besten Filme über die DDR. Die Ambivalenz der Hauptfigur ist grandios: Gerhard Gundermann, ein Musiker, der auch nach dem Mauerfall mit seiner Musik berührt und den seine Stasivergangenheit einholt, der aus Liebe zur Heimat als Informant arbeitete und ebenfalls bespitzelt wurde. Eine brillante Geschichte, diese herrlich poetische Musik, die es nur in der DDR gab, und das Ganze spielt auch noch in einem Tagebau . . . ein großartiger und vielschichtiger Film!"
Ursula Werner, Schauspielerin, * 1943 in Eberswalde:
"Dieser Film behandelt in ehrlicher Stellungnahme die Kompliziertheit und Wahrheitsfindung eines der heikelsten Themen der DDR: Stasitätigkeit! Großartige Darsteller, besonders Hauptdarsteller Alexander Scheer, in hervorragender Regieführung! Unbedingt anschauen!"
"Spuk unterm Riesenrad" / "Spuk im Hochhaus" (ab 1979)
Max Riemelt, Schauspieler, * 1984 in Ostberlin:
"Mein Tipp: die Kinderserie, die in der DDR in den späten Siebzigern und in den Achtzigern lief. Man sieht hier sehr gut den Osten, wie er damals war – wenn zum Beispiel die zum Leben erweckte Geisterbahnhexe mit dem Staubsauger über den Alex fliegt. Da sind richtig schöne Bilder dabei. Einer meiner Lieblingsfilme ist im Übrigen ‚Baby‘, ein Krimi von Uwe Frießner, nicht aus dem Osten, aber ziemlich nah dran, der Held lebt im Märkischen Viertel und ist Türsteher auf dem Kuʼdamm: Auch da ist wunderbar Berlin eingefangen."
"Alarm im Kasperletheater" (R.: Lothar Barke, 1960)
Grit Lemke, Autorin und Regisseurin, * 1965 in Spremberg/Niederlausitz:
"Im Ernst, den Osten mit EINEM Film erklären? Bekommen wir dann von euch auch EINEN Westfilm genannt? Also, in Anbetracht der Unmöglichkeit habe ich versucht nachzudenken, was denn ALLE Ostmenschen, egal welcher Generation, geprägt hat. Da kommt man schnell auf den Teufel, der Omas Pfannkuchen klaut und mit Bauchschmerzen bestraft wird (übrigens vom ‚Walt Disney des Ostens‘ Lothar Barke). Merke: Was allen gehört, sollst du dir nicht einverleiben. Teilen statt gierig sein. Ergibt irgendwie eine Weltsicht. Und nun wisst ihr auch, was der Ossi meint, wenn er sagt (was er gern macht): ‚Er hat sie ALLE aufgegessen.‘ Oder: ‚Oh. Mein Bauch!‘ Bitte schön!"
"Die Beunruhigung" (R.: Lothar Warneke, 1982)
Annika Pinske, Regisseurin und Drehbuchautorin, * 1982 in Prenzlau:
"Meine Empfehlung: Lothar Warnekes unkonventioneller Low-Budget-Film mit der wunderbaren Christine Schorn in der Hauptrolle. Der Film von 1982 zeichnet das Porträt einer Frau, die modern, vielschichtig, fehlbar und so unkonventionell ist, dass ich mich manchmal frage, wieso ich 40 Jahre später immer noch mit so vielen stereotypischen Frauenfiguren in Geschichten zu tun haben muss. Inge Herold, Psychologin und alleinerziehende Mutter, erkrankt an Brustkrebs, beginnt nach der Diagnose, ihr bisheriges Leben und ihre Rolle darin zu hinterfragen, und stellt sich im Zuge dessen als Frau neu auf. Die Beunruhigung gehörte zu den besucherstärksten DEFA-Filmen in der DDR, sicher auch, weil er tief in das Leben seiner Protagonistin – und mit ihr in das Leben vieler Frauen in der DDR – blicken lässt. Christine Schorn schuf eine so eindringliche Frauenfigur, eine echte Herzensempfehlung! Den Film kann man kostenlos auf dem Youtube-Kanal der DEFA-Stiftung sehen."
Sandra Hüller, Schauspielerin, * 1978 in Suhl:
"Ein supermoderner Film, überhaupt nicht gefällig, komplex, unglaublich schön. Christine Schorn ist darin umwerfend."
Lesen Sie hier: Warum die Schauspielerin Sandra Hüller einen Oscar verdient hätte
"Good Bye, Lenin!" (R.: Wolfgang Becker, 2003)
Christian Friedel, Schauspieler, Regisseur, Musiker, * 1979 in Magdeburg:
"Dieser liebevolle Film erzählt auf lustvolle und wunderbare Weise von den Veränderungen nach der Wende und spielt mit den Klischees über den Osten und den Westen. Das fantastische Ensemble wirft sich in diese Komödie, ohne die Figuren bloßzustellen oder komisch sein zu wollen. Berührend und inspirierend wirkte das auf mich in meiner Jugend und erinnerte mich an meine Kindheit in der DDR und an meinen Großvater, der so sehr an dieses System glauben wollte und sich doch eingestehen musste, dass es leider nicht funktionierte."
Aktuell im Kino
Am 29. August startete Torsten Körners Dokumentarfilm "Die Unbeugsamen 2 – Guten Morgen, ihr Schönen!" In "Die Unbeugsamen" hatte Körner Politikerinnen der Bonner Republik porträtiert; nun lässt er 15 in der DDR sozialisierte Frauen aller Berufsgruppen, darunter Katrin Sass, erzählen.
Seit Ende Juli läuft "Zwei zu eins" von Natja Brunckhorst, eine Mischung aus Sommerkomödie, Liebes- und Räubergeschichte um ein nach der Wende wertlos gewordenes DDR-Papiergeldvermögen. Zum großartigen Ensemble gehören Sandra Hüller, Max Riemelt, Ronald Zehrfeld, Martin Brambach und Ursula Werner.