Portrait Sandra Hüller
Sandra Hüller: Warum diese deutsche Schauspielerin den Oscar verdient
Martin Colombet/Getty Images
Sandra Hüller
So schön zwielichtig
Sandra Hüller ist der große Star des ­Arthouse-Kinos. Oscarverdächtig gut bringt sie das Publikum zum Lachen, zum Staunen – oder lässt uns die Haare zu Berge stehen
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26.02.2024
8Min

Sandra . . . wer? Plötzlich steht sie auch im internationalen Rampenlicht, unsere Arthouse-Ikone, deren Nachname Hüller mit seinem Umlaut so deutsch klingt. Man darf schon gespannt sein, wie er in der kommenden Oscar-Nacht am 10. März ausgesprochen werden wird. Denn Sandra Hüller tritt in gleich zwei Filmen – "Anatomie eines Falls" und "The Zone of Interest" – auf, die in der Königskategorie "Bester Film" nominiert wurden. Überdies geht sie, für ersteren Film, mit einer Nominierung als beste Hauptdarstellerin ins Oscar-Rennen. Beide Filme hatten bereits, begleitet von meist euphorischen Kritiken, auf den Filmfestspielen in Cannes 2023 die Hauptpreise bekommen, gefolgt von noch mehr Auszeichnungen, darunter dem europäischen Filmpreis für Sandra Hüller.

Ist sie das neue deutsche "Fräuleinwunder"? Eher nicht, schon weil die 45-Jährige eine Spezia­listin für Frauencharaktere ist, die zwar jugendliche Vitalität, aber keine Spur neckischer Niedlichkeit aufweisen. Sowohl im Gerichtsthriller "Anatomie eines Falls" als selbstbewusste Schriftstellerin, die des Mordes an ihrem Mann verdächtigt wird, als auch im NS-Drama "The Zone of Interest" als Ehefrau des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß erzeugt sie Gänsehaut.

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Birgit Roschy

Birgit Roschy, Film­journalistin in Frankfurt am Main, hat eine Version dieses Textes zuerst für das Kinomagazin "epd Film" geschrieben.

Dennoch hat sie, ein Star wider Willen in einem sehr europäischen Thriller, wohl eher eine Außen­seiterchance auf die Trophäe. Freuen darf man sich trotzdem, dass, nach Marlene Dietrich 1932 und Luise Rainer, die den Oscar 1937 und 1938 gewann, wieder einmal eine Deutsche nominiert wurde.

Huldigungen ist Sandra Hüller indes gewohnt. Bereits ihr erster großer Film, Hans Christian Schmids "Requiem" 2006, erntete einen Preisregen, darunter einen Berlinale-­Bären für die Hauptdarstellerin. Angelehnt an den Exorzismusfall Anneliese Michel spielt sie eine gläubige junge Frau aus ländlichem, streng katholischem Elternhaus. Mit dem Wegzug an die Universität erlebt sie eine ungewohnte Leichtigkeit des Seins, gefolgt von einem psychischen Zusammenbruch, der von ihrem Umfeld und ihr selbst als dämonische Besessenheit gelesen wird. Jenseits von plakativem Horror bezieht das Psychodrama seine Intensität allein durch ­Hüllers feinnerviges Porträt eines allzu braven Mädchens, das seine ­Energie gegen sich selbst richtet. Die unterspielte Tragödie, die viele Fragen offenlässt, diente zugleich als Blaupause für Hüllers künftige Paraderollen.

Hüllers Repertoire ist gespickt mit unvergesslichen Auftritten. Zum Beispiel in "Anatomie eines Falls"

Hüllers Repertoire ist gespickt mit unvergesslichen Auftritten, in denen sie, äußerlich gefasst, gar gehemmt wirkend, ein unauslotbares Quantum Wildheit und Devianz durchschimmern lässt. Vor dem derzeitigen Hype hatte sie bereits in Maren Ades "Toni Erdmann" (2016) Furore gemacht. In dieser Tragikomödie spielte sie eine kühle Unternehmensberaterin, die in Rumänien ­eine ­Firma abwickeln muss und vom ­eigenen Vater mit Störmanövern aus der Fasson gebracht wird. Sein Psychoterror gipfelt in einem Gesangssolo auf einer Bukarester Hausparty. Dort intoniert die Tochter, von Papa genötigt, vor entsetzt-amüsiertem Publikum den Whitney-Houston-Heuler "Greatest Love of All", laut und falsch und in ihrer gequälten Inbrunst selbst den herumkaspernden Vater erschreckend. Nebenbei beweist die Szene, dass Hüller auch Gesangstalent besitzt, denn wie sonst könnte sie so herrlich schlecht ­singen? Dieser grandioseste aller Fremdschämmomente erzeugte beim Premieren­publikum erst Gelächter, dann Bestürzung und Szenenbeifall.

Und auch in der Schlüsselszene in "Anatomie eines Falls" bringt Hüller als Frau unter Mordverdacht es fertig, dem Publikum die Haare zu Berge stehen zu lassen. Da werden im Prozess heimlich aufgenommene Tonaufnahmen abgespielt. Atemlos hört das Publikum im Film und vor der Leinwand zu, wie sie ihrem Ehemann, anfangs konziliant, dann immer aggressiver, die Meinung geigt. Dass er, ein erfolgloser Schriftsteller, bald nach diesem Streit vom Balkon stürzt, versteht man sofort.

© Plaion Pictures

Woher kommt dieser Schneid? Ihre DDR-Kindheit verlief unspektakulär; geboren 1978, wuchs sie als Kind eines Lehrer­ehepaares im thüringischen Städtchen Friedrichroda auf. Wie so viele fand sie in der Schule Geschmack am Theaterspielen. Gleich nach dem Abitur wurde sie an der renommierten Ernst-Busch-Schauspielschule in Berlin aufgenommen. Und ab da ging es unaufhaltsam aufwärts. Ihr Werdegang gehorche, so Hüller in einem Interview 2023, keinem Plan, sie ­greife nach dem, was das Leben ihr biete. Und das habe, so sagt sie auf die ihr eigene spröde Art, "bisher eher gut geklappt".

Regisseur Hans-Christian Schmid entdeckte sie für seinen Film "Requiem". Hüller legte eine glänzende Theaterkarriere hin, in der sie unter anderem auf der Berliner Volksbühne, bei den Münchner Kammerspielen und im Schauspielhaus Bochum auftrat, den Hamlet, Goethes Gretchen, Königin Elisabeth und Courtney Love spielte – und Preise noch und nöcher einsammelte.

Sandra Hüller in "Toni Erdmann" (oben) und "Ich bin dein Mensch" (unten)

Das Theater ist ihr Standbein geblieben – wegen ihres Engagements in Bochum pendelt sie zwischen Bochum und ihrem Wohnort in Leipzig –, der Film wurde zu ihrem Spielbein. Seit "Requiem" ist Hüller Stammgast im deutschen Kino.

Vielfach einsetzbar, findet man sie oft unter "ferner liefen" sowohl in Arthouse- wie Mainstream-Filmen. Die Bandbreite reicht von "Ich bin dein Mensch" als Roboter bis zur Lehrerin in "Fack ju Göhte 3". Auf der Bühne lernte sie, ihren Figuren ­Tiefe und Echtheit zu verleihen, ohne auf platte Posen zurückzugreifen. Ihren Filmcharak­teren verleiht sie eine Komplexität, die zugleich irritiert und berührt, die sich keinem Klischee fügt, von keiner Küchenpsychologie einordnen lässt. Die Mischung aus Instinkt und Intelligenz geht einher mit dem Mut, über den ­eigenen Schatten zu springen. Sandra Hüller steht auch für das völlige Fehlen jenes Narzissmus, jener "déformation professionelle", die so manchen Performer zur ­Nervensäge macht. Auch ihr Privatleben – sie ist Mutter einer zwölfjährigen Tochter – hält sie sorgsam unter Verschluss.

Autorenfilmerinnen manifestieren Hüllers Erfolgssträhne

Zu ihren schönsten Rollen zählt die einer Gabelstapler­fahrerin und rätsel­haften Muse des Helden in Thomas Stubers Berlinale-Gewinnerfilm "In den Gängen" von 2018. ­Häufig ist sie in den Filmen von Jan Schomburg, etwa im Drama "Über uns das All" (2011) als Witwe auf Abwegen, zu sehen. Hüllers reale ­Schwangerschaft schließt den Film ab. Doch ihre nicht abreißende Erfolgssträhne verdankt sie auch dem stärkeren Aufkommen von Autorenfilmerinnen, die das Terrain des Weiblichen genauer erforschen wollen und Frauenfiguren jenseits des stereotypisierenden Männerblicks inszenieren. Jessica Hausner etwa besetzte sie in ihrem Kleist-Drama "Amour fou" als Cousine des Dichters. In Frauke Finsterwalders faszi­nierend anachronistischem Drama "Sisi & ich" (2023) spielt sie eine schwärmerische Hofdame von Kaiserin Elisabeth. Und dann ihre Zusammenarbeit mit Maren Ade – ­einer ­Regisseurin, die mit ihren mit ebenso viel Sorgfalt wie gnadenlosem Witz durchde­klinierten weiblichen Charakterdramen in der gleichen Liga spielt. "Toni Erdmann" zeigt nicht nur in jener grausam komischen Gesangsszene, die bis jetzt über 300 000 Mal bei Youtube ab­gerufen wurde, wie schmerzfrei Hüller als Darstellerin ist. Sie bringt auch Hüllers Faible für Slapstick zur Geltung.

Die rohe Emotion, die Sandra Hüller in diesem Film ­demonstriert, auch ihr trockener Humor in einer Sex-und-Ekel-Szene beeindruckten gerade französische Filmkritiker. Bei unseren Nachbarn steht Hüller seither, wie ihr Ernst-Busch-Kommilitone Lars Eidinger, hoch im Kurs. Beim hilflosen Versuch, dieses teutonische "je ne sais quoi" zu erfassen, wurde sie mal mit Cate Blanchett – die Wangenknochen! Die rotblonden Haare! –, mal mit der sphinxhaften ­Isabelle Huppert verglichen.

Die Verführungskraft Hupperts allerdings könnte von Hüllers Charisma nicht weiter entfernt sein. Wie uneitel Sandra Hüller ist, hatte sie bereits im belgischen Drama "Brownian Movement" (2010) bewiesen. Da spielt sie eine glücklich verheiratete Ärztin und Mutter, die Affären mit extra unattraktiven Männern pflegt: eine leicht perverse Ehebruchgeschichte, die sich, wie die Hauptdarstellerin, in keine Schublade stecken lässt. Therapie zwecklos. Und so scheint Hüller auch die Aufmerksamkeit von Justine Triet geweckt zu haben, die sie erstmals 2019 in ihrer Komödie "Sibyl – Therapie zwecklos" in einer Nebenrolle in einem weiblichen Chaostrio besetzte. Hüller spielt eine deutsche Filmregisseurin, deren Hauptdarstellerin und dann deren Therapeutin eine Affäre mit dem Hauptdarsteller und Lebenspartner der Regisseurin haben. Die händeringende Verzweiflung dieser Regisseurin beim Versuch, ihren Dreh zusammenzuhalten, wird von Hüller mit einer bis dahin nicht gesehenen komischen Verve gespielt.

Moderne Frauenfigur, doch zwielichtig

"Anatomie eines Falls", halb Thriller, halb Charakterdrama, hat Triet explizit auf Sandra Hüller zugeschnitten, bis hin zum Vornamen der Hauptfigur. Als deutsche Romanschriftstellerin, die des Mordes an ihrem Mann verdächtigt wird, kontert sie die Aggression im Gerichtssaal mit aufreizender Ruhe und lässt doch den Druck im Kessel spüren. Als Frau, die sich nicht für ihren Mann kleinmachen will, ist diese Sandra eine sehr moderne ­Frauenfigur, und bleibt doch zwielichtig. Denn sie scheint, typisch Hüller, stets auch etwas neben sich zu stehen.

Diese Unschärfe verbindet ihre Darstellung einer gewandten Intellektuellen von heute ­paradoxerweise mit ihrer Rolle der Hedwig Höß in "The Zone of Interest", eine leicht verhuschte und bäuerlich-schwerfällige Mutter von fünf Kindern. Der surreale Alltag der Höß-Familie, deren Gartenvilla direkt an die Mauern des Lagers Auschwitz grenzt, wird von Jonathan Glazer als monströse Verdrängungsleistung inszeniert. Mehr noch als Rudolf Höß, der tagsüber im Lager seinem Handwerk des Todes nachgeht, steht Hausfrau Hedwig, die mit Hingabe an ihrer heilen Welt mit duftenden Rosen und Familienpicknicken bastelt, für das Wegschauen und Weghören. Mittels einer in Bildebene und Tonspur geteilten Welt wird in diesem kunstvollen Horrorfilm das Grauen des Holocausts auf indirekte, meist akustische Weise vermittelt. Das Publikum wird gezwungen, das Ungeheuerliche durch die Schöner-Wohnen-Perspektive von Hedwig wahrzunehmen, sich unfreiwillig mit ihrem Wunsch nach einem Familienidyll zu identifizieren.

Im aktuellen Film "Zone of Interest" verkörpert Sandra Hüller die KZ-Kommandanten­gattin Hedwig Höß: eine monströse ­Verdrängungsleistung

Hüller hatte es bis dahin abgelehnt, in inter­nationalen NS-Dramen die üblicherweise an deutsche Schauspieler herangetragenen Faschistenrollen zu übernehmen: "Ich wollte keine Uniform tragen oder diese böse ­Sprache verwenden, dieser Energie von damals nahe kommen", oder, wie manche Kollegen, gar Spaß daran empfinden. Doch indem Glazer den Kriegsverbrecher und seine Gattin als liebevolle Eltern und Allerweltstypen porträtiert, illustriert er auf umso provozierendere Weise die Banalität des Bösen. Für Hüller stellte, laut einem Interview im "New Yorker", weniger die Rolle der Hedwig Höß eine moralische Herausforderung dar. Verstörender war für sie bei den Dreharbeiten nahe dem Lager selbst die direkte Konfrontation mit den ­Gräueln der deutschen Vergangenheit.

Die Banalität des Bösen

Seltsam starr bewegt sie sich als Hedwig durch Heim und Garten, den infernalischen Lärm, qualmende Schornsteine und Aschenstaub mit niedergeschlagenen Augen ausblendend. Doch wenn Hedwig etwas nicht passt, reagiert sie sich mit plötzlicher Biestigkeit an den versklavten Dienstmädchen ab: "Wenn ich wollte, würde mein Mann deine Asche verstreuen." Der Hüller-Effekt kommt in diesem ausgefeiltesten aller bisherigen Holocaust-Filme besonders gut zur Geltung. Durch feinste Risse in der Fassade lässt sie menschliche Pathologien in einer so tiefenscharfen und oft verstörenden Wahrhaftigkeit durchschimmern, dass diese das Gefühl erzeugen: So genau wollte man es nicht ­wissen. Und doch kann man nicht weg­schauen.

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