Menschen brauchen Bilder, damit sie wissen, worüber sie reden. Gemeinsame Erinnerungen. Fotos von VW-Käfern, die über den Brenner nach Italien rollen, erzählen vom Wirtschaftswunder. Wir sind wieder wer! Man findet sie in Geschichtsbüchern. "Aber in meinem Familienalbum kommen diese Bilder nicht vor", sagt Jonas Ludwig Walter. Eine Leerstelle. Er konnte nicht mitreden, damals in der Schule in Kleinmachnow.
An diesem ersten kalten Herbsttag des Jahres sitzt er im Bus von Berlin-Wannsee nach Kleinmachnow. Die Fahrt dauert keine Viertelstunde. Es gab eine Zeit, in der lagen Welten zwischen den Orten. Zonengrenze. Wo muss er noch mal aussteigen? Er muss aufs Handy schauen. Am Hochwald! Eine kurze Reise in die Vergangenheit.
Jonas Ludwig Walter, 38 Jahre alt, schmales Gesicht, lockiges Haar, wache, helle Augen, feiert auf dem Filmfestival Max-Ophüls-Preis in Saarbrücken Premiere mit "Tamara", seinem Abschlussfilm an der Filmuniversität Babelsberg. Er ist nun Regisseur, Fotograf war er vorher schon. Geschichten über Bilder zu erzählen, ist seine Bestimmung. "Tamara" hat viel mit seinem Leben zu tun, auch wenn eine Frau die Hauptfigur ist, gespielt von Linda Pöppel.
Rückblick: Jonas Ludwig Walter wurde 1984 geboren, bekam noch eine Schwester und einen Bruder. Mutter, Vater, drei Kinder, ein Haus in Kleinmachnow. Das war die Erzählung. Aber diese Erzählung hat Leerstellen wie die vieler Nachwendekinder. Und die von Jonas erst recht.
Als er 18 Jahre alt geworden war, lud ihn die Mutter in ein Einkaufszentrum ein. Ein kühler, lauter Ort, der gar nicht zu ihr passte. Sie wollte ihrem Ältesten wohl etwas Gutes tun, mit ihm shoppen gehen. Jonas kaufte sich einen rot-weiß gestreiften Bademantel, secondhand. Danach saßen sie in einem Café in der Passage. Die Mutter war unruhig. "Der Vadder ist nicht dein Vadder."
"Ich komme dann, wenn alles vorbei ist"
Zehn Jahre lebte er mit zwei Fragen im Kopf weiter. Sollte er seinen "Erzeuger", wie er ihn nennt, suchen? Und wusste Andreas, der "Vadder", dass er nicht Jonas’ Vater war?
Jonas studierte Fotografie an der Ostkreuzschule in Berlin. chrismon druckte 2011 Fotos aus seiner Abschlussarbeit. Männer, die wie Cowboys aussahen, rissen jahrelang bei Stendal an der Elbe ein Atomkraftwerk ab, das das größte in Europa hätte werden sollen, wäre die DDR nicht untergegangen. Jonas sagt, es gibt diese eine Sache, die vielleicht sein ganzes Leben, wenigstens aber seine Arbeit ausmacht: "Ich komme eigentlich immer dann, wenn alles vorbei ist, um zu gucken, wie es den Menschen damit geht."
Er biegt ab in die Straße Am Hochwald. Mit jedem Schritt kommen Erinnerungen hoch. Jonas erzählt von kleinen Waldstücken, in denen er die Zeit vergaß. Und von den Schluppen, die sie durchzogen. So nennt er die kleinen öffentlichen Wege, die Parallelstraßen miteinander verbinden. Jonas gestikuliert, hat Bilder vor Augen, die man nicht mehr sehen kann. Wovon er spricht, ist Neubauten und Zäunen gewichen. An einem hängt ein Schild, schwarze Schrift auf gelbem Grund, "Wachsame Nachbarn". Links geht eine holprige Straße ab, Unterberg. Dort hinten ist er aufgewachsen.
Was wusste der Vater? Zehn Jahre arbeitete die Frage in Jonas’ Kopf. Er wusste, dass sein Erzeuger in Leipzig lebt. Er kannte seinen Namen. 2013 war er in der Stadt, ging ins Einwohnermeldeamt, schilderte einer Beamtin, wen er sucht. Und warum. Die Frau sagte, sie brauche eine frühere Meldeadresse oder einen Geburtstag. Jonas rief seine Mutter an. Das alles sei 30 Jahre her, sagte sie, sie wisse nur noch, dass sein Sternzeichen Krebs sei. Jonas berichtete der Dame, dass sein Erzeuger im Juni oder Juli geboren sei. Sie müsse Rücksprache halten, erwiderte die Beamtin, drehte ihm den Monitor etwas entgegen und ließ ihn allein.
Damals, 2013, war gerade Frühling, mit Tulpen in der Hand klingelte Jonas an der Tür. Als er seinen Erzeuger durch die Gegensprechanlage hörte, sagte er: "Ich bin Ihr Sohn. Soll ich hochkommen?" Er war 28 Jahre alt, als er seinen Erzeuger traf. Ein paar Stunden redeten sie. Jonas sah ihm ähnlich, ein Künstlertyp in schwarzem Hemd und Jeans, damals schon fast 80 Jahre alt. Der alte Mann bekannte sich sofort zu ihm, sagte: "Das ist für mich, als würde ich vor 50 Jahren in den Spiegel gucken." Alles machte Sinn. Er hatte noch mehr Kinder, alle von unterschiedlichen Frauen. Plötzlich hatte Jonas drei weitere Brüder.
Die Tage wurden länger und wärmer, damals, Anfang Juni 2013. Andreas besuchte seinen Sohn in Berlin. Jonas hatte ihm gesagt, dass er ihm etwas erzählen müsse. Sie saßen sich gegenüber, der Vater zog die Schultern hoch, ganz verkrampft. Auch Jonas war nervös. "Ich habe Günther getroffen." Die Schultern des Vaters sanken herab. "Na, hat sie’s dir endlich jesacht."
Nur Tage danach, am 21. Juni 2013, stand ein Polizeiauto vor der Tür von Jonas’ kleinem Bruder Mathis. "Wir brauchen DNA-Material von Andreas Walter." – "Warum?" – "Es gab bei Dessau einen schweren Verkehrsunfall, und es kann sein, dass er darin verwickelt ist." Es sollte weitere Wochen dauern, bis sich ein Rechtsmediziner meldete, Proben und Erbgut stimmten überein. "Er hat nicht leiden müssen, er war sofort tot." Jonas sagt: "Ich bin so dankbar, dass wir noch diesen Abend hatten."
Die Mauer ist weg
Jonas Ludwig Walter ist ein offener, kommunikativer Typ. Wer mit ihm auf Reportage ist, lernt einen Kollegen kennen, der manchmal für Stunden verschwindet, um eigene Bilder für die Geschichte zu finden. Es gibt Fotografen, die genau wissen möchten, welche Menschen sie fotografieren sollen. Jonas spricht selbst welche an. Bei Interviews stellt er Fragen. Sie machen immer Sinn. Oder er lacht, es hört sich an wie ein Schluckauf, der nur einmal kommt. Das kann Gesprächen eine neue Richtung geben.
Jonas ist angekommen an seinem Elternhaus, es ist frisch saniert, die Dachpfannen funkeln sogar an einem trüben Novembertag. Die Mutter hat es verkauft. Unruhig steht er davor, als wollte er am liebsten sofort weiter. Diese eine Geschichte erzählt Jonas dann doch noch: Er kam aus der Schule, hörte Motorsägen, dachte: Bitte nicht! Da oben, da war das Badezimmerfenster, da stand seine Mutter. Sie hatte Tränen in den Augen. Gegenüber fielen die Bäume. Noch mehr Neubauten. Der Schulweg wurde immer komplizierter, Pfade verschwanden, wurden eingezäunt und mit Pforten verschlossen. Und Jonas erinnert sich, dass er als Kind dachte: "Warum sagen die Leute: ‚Die Mauer ist weg!‘, wenn doch ständig Bagger kommen und neue bauen?"
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Die Kinder exekutierten damals einen Zeitgeist
Im Spielfilmdebüt von Jonas Ludwig Walter besucht Tamara Mutter und Vater im Osten. Sie will reden. Vieles von dem, was ihr zustößt, ist Jonas’ Familie passiert. Anderes ist Fiktion. Ein Gefühl durchzieht den Film: Tamara kennt das Land, aus dem sie kommt, nicht mehr.
Aber dieses Land spielt noch immer eine Rolle im Leben vieler Menschen, die heute um die 30 Jahre alt sind. Auch Jonas hat viele Bilder, Worte und Erinnerungen für diese Erfahrung. Gleich nach der Wiedervereinigung schickten Eltern aus Westberlin ihre Kinder nach Kleinmachnow zur Schule. Einmal tunkten Mitschüler Jonas mit dem Kopf ins Klo, spülten ab und riefen: "Alles aus der DDR muss weg!" Die Kinder exekutierten damals einen Zeitgeist.
Im Film sind es subtile und offene Andeutungen, die klarmachen, dass Tamaras Mutter nicht loskommt von einer Erzählung, die abgebrochen ist. Einen roten Faden für eine neue Geschichte kann sie nicht finden. Tamara will das nicht verstehen.
Auch Jonas hadert manchmal mit seiner Mutter. Das hat nichts damit zu tun, dass die Eltern dem Staat DDR nachhingen, im Gegenteil. Sie hatten Jonas vor dem Mauerfall in einen evangelischen Kindergarten geschickt. Das war mutig. Die Mutter trug Jonas 1989 auf den Schultern durch Demonstrationszüge. Für eine Demokratie, die – so empfindet sie es heute – ihr Land umkrempelte und von ihrer Lebensgeschichte nichts mehr wissen wollte.
Tamaras Mutter sagt im Film: "Biografien sind nicht verhandelbar." Der Satz könnte von Jonas’ Mutter kommen, die sich wahnsinnig ärgerte, dass sie nach der Wiedervereinigung Sätze hörte wie: "Wer in Kleinmachnow wohnt, war sowieso bei der Stasi!" Was waren das für Leute, die sich anmaßten, ihr Leben zu deuten!
"Die Unsicherheit meiner Eltern hat sich auf mich übertragen"
Kleinmachnow, der Ort, in dem früher die SED-Parteischule war, war schnell begehrt, so direkt vor den Toren Berlins gelegen. Jonas’ Eltern hängen ein Schild auf: "Dieses Haus steht nicht zum Verkauf." Die Familie konnte nicht sicher sein, Jonas spürte das. Männer in großen dunklen Autos fuhren durch die Straßen, suchten nach guten Grundstücken. Einmal kam er aus der Schule, als Leute im Garten standen und sagten: "Das gehört alles uns." Sie sollten nicht recht behalten, zum Glück.
Aber da war diese Unsicherheit der Eltern, zu der es ein Geräusch gab. Das Kreischen der Kettensägen um sie herum. Jonas wollte wissen, ob die Männer mit den Motorsägen auch zu ihnen kommen. Die Eltern wussten es nicht. Heute sagt er: "Diese Unsicherheit meiner Eltern hat sich auf mich übertragen. Sie sollten mir einen Weg weisen und konnten es nicht. Ich wollte sie beschützen in dieser Zeit." Tamara geht es ähnlich.
Jonas’ Spaziergang endet auf dem Rathausmarkt, der umgeben ist von Neubauten. Händler bauen ihre Stände ab. Warum war er eben so unruhig, vor seinem Elternhaus? "Der alte Baum hinterm Haus ist weg. Ich dachte, der steht noch."
Jonas will nicht missverstanden werden, als "Jammerossi", der nicht damit leben kann, dass die Zeit weitergeht. Das ist für ihn eine Erzählung von 2010, vielleicht auch die früherer Generationen aus zwei Teilen eines Landes. Die will er sich nicht zu eigen machen. Im Gegenteil: Er staunt darüber, dass die Geschichte einfach so weitergegangen ist und seiner Generation eine ganze besondere Rolle zugewiesen hat. "Das Land, aus dem ich komme, habe ich nicht mehr erlebt. Es wird immer das Gebilde aus widersprüchlichen Erzählungen bleiben. Deshalb interessiert es mich so."
Er erinnert sich noch einmal an seine Jugend, an die Schule und daran, was als wichtig galt: "Ich weiß mehr über die Gründungszeit der Grünen als über Honeckers Kulturpolitik, obwohl die das Umfeld meiner bildungsbürgerlichen Familie unmittelbar beeinflusst hat." Und dann waren da eben die VW-Käfer in seinem Geschichtsbuch, die über den Brenner nach Italien fuhren. "Das ist nicht meine Geschichte. Ich bin sowohl in der Bundesrepublik sozialisiert worden – und in einem verschwundenen Land, das auch Deutschland war."
Interessante Beobachtung, ob sich das Gleichaltrige in Westdeutschland je klargemacht haben? Und warum hat er Jahre darüber nachgedacht und einen ganzen Film dazu gemacht? Jonas fragt zurück: "Wäre es nicht gut, wenn wir die Geschichte unseres Landes endlich als eine gemeinsame begreifen? Unsere Leben sind oft genauso verworren wie unsere Geschichte. Das ist doch eine Stärke: Gesellschaftliche Gegebenheiten sind keine Naturgesetze, sondern Erzählungen. Wir können sie auch verändern!"
Die Nachwendekinder tragen viele Widersprüche in sich. Und Jonas erst recht, mit der doppelten Lebenslüge. Deshalb erzählt er sie so gern: Eine Geschichte kann falsch sein, aber es war nichts verkehrt an ihr. Das erfährt auch Tamara, die Filmfigur. Warum spielt eine Frau die Hauptrolle, Linda Pöppel? "Ich wollte unbedingt mit Linda zusammenarbeiten und eine Geschichte zwischen zwei Frauen erzählen, um feministische Fragen zwischen der Ostmutter und der Nachwendetochter anzusprechen. Und ich wollte das alles auch von mir wegkriegen."
Ist er wütend auf seine Mutter, die ihm 18 Jahre lang eine falsche Erzählung aufgetischt hat? Nein. Jonas sagt, seine Geschichte fängt damit an, dass seine Mutter entschied, ihn nicht abzutreiben. Es wäre in der DDR leicht möglich gewesen. Aber bei seinem Erzeuger wollte sie nicht bleiben. "Auf einen Vater, der nicht da ist, aber Ansprüche stellt, hatte ich keine Lust", hatte sie ihrem Sohn erklärt.
Seine Mutter hatte die Wahl, deswegen ist Jonas das Thema Ostfeminismus im Film auch wichtig. Materiell war sie abgesichert. Ihren Sohn hätte sie auch allein erziehen können. Sie wählte eine ganz andere Option – einen Vater, der immer da war. Und das wurde Andreas. Er wollte diese Rolle, wollte Vater sein. Ein nüchterner Beschluss zweier Menschen, ein einziges Mal nur hatten die Eltern darüber miteinander geredet.
"Eine Erzählung schafft immer auch ihre eigene Wirklichkeit"
Die Eltern wollten Jonas schützen mit dieser Erzählung, und nun findet sein Leben einfach statt, eine Lüge, die Wahrheit ist. "Eine Erzählung schafft immer auch ihre eigene Wirklichkeit", so sagt er es. Und bestaunt, was alles aus der Lüge geworden ist. Einer seiner neuen Brüder, Holm heißt er, ist ihm heute einer seiner engsten Vertrauten. Er kann sich minutenlang freuen, dass er am Buch zu "Tamara" zu Hause bei Holm schrieb, oben im Norden, in Mecklenburg. Und dass Holm jahrelang vom Berliner Balkon eines Freundes auf den von Jonas hatte blicken können. Und umgekehrt. Ohne dass einer von beiden wissen konnte, dass da drüben nicht nur irgendein Mensch ist, der seinen Morgenkaffee gern in der Sonne trinkt.
"Jede Prägung führt zu einer Erzählung", sagt Jonas, "aber hinter all unseren Geschichten stehen universelle Bedürfnisse wie Liebe und der Wunsch nach Selbstgewissheit: Wo komme ich her und wer bin ich?" Man braucht, findet Jonas, Menschen, mit denen man all die Ambivalenzen im Leben deuten, manchmal auch nur aushalten kann.
Dazu hat er eine Szene im Kopf, die keine Kamera eingefangen hat. Eine Alltagsbegebenheit. Er war mit seiner Freundin bei ihren Eltern. Sie ist Einzelkind, eine ganz normale Familie, echte Mutter, echter Vater. Der Vater verabschiedete sich mit Worten, die vielleicht sogar nur eine Abschiedsfloskel waren. Aber bei Jonas sind sie hängen geblieben.
"Passt gut aufeinander auf."
"Tamara" ist eine Kino-Koproduktion von Jost-Hering-Filme mit dem ZDF/Das kleine Fernsehspiel und der Filmuniversität Babelsberg. Gedreht wurde 2021 unter Corona-Bedingungen. Premiere feierte der erste Spielfilm von Jonas Ludwig Walter auf dem Filmfestival Max-Ophüls-Preis, dem wichtigsten Festival für den jungen deutschsprachigen Film.
Auf dem "Filmkunstfest MV" gewann der Film den Förderpreis "Gedreht in MV".
Noch bis 8. Juni 2024 ist "Tamara" in der ZDF-Mediathek zu sehen.