Kapitalismus
Der Rest der Menschheit zahlt den Preis
Heike Buchter lebt als Finanzkorrespondentin in New York. Sie kritisiert die Finanzexzesse des Kapitalismus und den unermesslichen Reichtum von einzelnen Menschen
Foto von einem silbernen Bentley Continental coupe
Getty Images / contrastaddict
Tim Wegner
30.04.2024
5Min

Frau Buchter, wer war Rudolf Martin?

Heike Buchter: Heute würden wir sagen: ein Whistleblower. Martin war Staatsbeamter in Preußen und veröffentlichte 1911 ein "Jahrbuch des Vermögens und Einkommens der Millionäre in Preußen", wofür er fast ins Gefängnis gewandert wäre. Er war also Vorreiter des US-Magazins Forbes, welches seit 1987 jedes Jahr eine Liste aller Menschen veröffentlicht, die mehr als eine Milliarde US-Dollar besitzen.

Warum ist es wichtig, über die Höhe des Privatvermögens von Menschen Bescheid zu wissen?

Weil unermesslicher Reichtum in der Hand eines einzelnen Menschen oder einer Familie keine Privatangelegenheit ist. Dafür ist der Einfluss, den diese Menschen auf das Leben von uns allen haben, viel zu groß.

Journalist Heike Buchter in New York City 02_12_2020 Photo © Stefan Falke www.stefanfalke.com stefanfalke@mac.com 917-2149029Falke

Heike Buchter

Heike Buchter lebt und arbeitet als Finanzjournalistin in New York. Seit 2008 ist sie Korrespondentin für die deutsche Wochenzeitung "Die Zeit". Die studierte Betriebswirtin ist Autorin verschiedener Bücher wie des Bestsellers "BlackRock. Eine heimliche Weltmacht greift nach unserem Geld". Ihr Buch "Wer wird Milliardär? Vom großen globalen Abkassieren" erschien 2023.

Gilt das auch für uns in Deutschland?

Ja, tut es, obwohl es, wie damals in Preußen zu Rudolf Martins Zeiten gerade in Deutschland schwierig ist, über die Superreichen zu recherchieren. Ich wollte für mein Buch auch Informationen über die großen Mittelstandsdynastien zusammentragen. Da mussten wir aufpassen, dass wir uns keine Unterlassungserklärungen eingehandelt haben. Interessant in dem Zusammenhang: Nicht wenige Namen, die auf Martins Liste standen, finden sich auch heute wieder auf den Reichenlisten!

Der deutsche Mittelstand gilt nicht als abgehoben und superreich – sondern als solides "Rückgrat unserer Wirtschaft". So lese ich es immer wieder.

Die sehr erfolgreiche Imagepflege des deutschen Mittelstandes geht so: "Seit Gründung in Familienhand, made in Germany, kein protziges Privateigentum, Erfolg durch Tüchtigkeit und gut zu den Mitarbeitern." Es gibt allerdings keine unabhängigen Studien, dass große Mittelstandsfirmen innovativer oder besser für Mitarbeitende sind. Viele von ihnen sind längst international produzierende Konzerne. Und was die "Leistung" angeht: Tatsächlich haben die meisten Eigentümer das Unternehmen geerbt, oft schon in der dritten oder vierten Generation. Im bevölkerungsmäßig kleinen Deutschland gibt es laut Forbes 126 Milliardäre. Das ist weltweit die vierte Stelle im Ranking nach den USA, China und Indien. Ihr Image als Rückgrat der Wirtschaft hat ihnen großzügige Steuervorteile beschert.

Ist das nicht eine Neiddebatte?

In kaum einer Industrienation, abgesehen von den USA, sind Vermögen und Einkommen ungerechter verteilt als in Deutschland: Die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung besitzen 100-mal mehr Geld als die restlichen 90 Prozent der Durchschnittsverdiener.

Warum nehmen wir diese Ungerechtigkeit so stillschweigend hin?

Weil es an unserem System rüttelt. Auch ich habe lange gedacht, na ja, das sind einzelne Missstände, ein paar Abzocker. Und die Wall-Street-Jungs mit ihren immer neuen Ideen, Geld zu scheffeln, das hat mich schon auch fasziniert. Aber nach der Finanzkrise 2008 bin ich ins Zweifeln gekommen. Heute sage ich: Wir leben nicht länger im Kapitalismus, sondern im Finanzkapitalismus - es geht nicht mehr darum, unsere Unternehmen oder unser Gemeinwesen zu finanzieren, sondern andersherum sind unsere Unternehmen und unser Gemeinwesen zu einer Art Geldautomaten umfunktioniert worden. Das macht diejenigen reich, die sich der Mechanismen des Finanzmarkts zu bedienen wissen. Der Rest der Menschheit zahlt den Preis dafür.

Ein Beispiel?

Nehmen wir den Flugzeughersteller Boeing, der seit Januar in den Schlagzeilen ist, weil sich bei einem Flug ein Teil des Rumpfes verabschiedet hat. Laut den Behörden, weil er gar nicht befestigt worden war. Das Unternehmen fiel bei 33 von 89 Qualitätsprüfungen der Aufsicht durch.

Schlechte Ingenieursarbeit?

Falscher Fokus! Statt Flugzeugbau stand bei Boeing die Belohnung der Aktionäre im Vordergrund. So gab man zwischen 2013 und 2019 über 40 Milliarden für Aktienrückkäufe aus, das ist wie eine Ausschüttung an die Aktionäre. Gleichzeitig verzichete man auf die Entwicklung eines neuen Flugzeugs, was laut Experten "nur" rund sieben Milliarden Dollar gekostet hätte. Und überarbeitete stattdessen das über 50 Jahre alte Modell 737. Dabei kam es zu einem fatalen Fehler. 346 Menschen starben bei den Abstürzen zweier fabrikneuer Boing 737 Max vor fünf Jahren. Boing-Chef Dave Calhoun versprach damals, Sicherheit zur Priorität zu machen. Danach sieht es nicht aus. Nun hat er seinen Rücktritt angekündigt. Er hinterlässt ein Traditionsunternehmen, dessen Ruf in Scherben liegt. Zum Abschied kassiert er noch einmal 14,9 Millionen! Interessant in dem Zusammenhang: Der Mann hatte nichts mit Flugzeugbau zu tun - dafür aber mit der finanziellen Optimierung von Unternehmen. Er war zuvor Manager bei Blackstone, der größten Private-Equity-Firma gewesen.

Private Equity, privates Beteiligungskapital, was meint das denn?

Das ist Fachjargon, der Außenstehende im Dunkeln lassen soll. Verkauft wird Private Equity als Rettung für Unternehmen, die in Schwierigkeiten stecken: Finanzfirmen schießen frisches Geld ein und helfen mit ihrer Management-Expertise bei der Sanierung. Dann verkaufen sie das Unternehmen wieder - und alle haben gewonnen. Doch die großen Private-Equity-Firmen wie Blackstone verdienen vor allem daran, aufgekaufte Unternehmen mit neuen Schulden zu belasten, sie zu zerschlagen oder kaputt zu sparen - oder alles zusammen. Wer den Wirtschaftsteil der Zeitung aufmerksam verfolgt, findet fast täglich Beispiele, wie es Unternehmen nach der Übernahme durch Private Equity schlechter geht als zuvor.

Sind das denn nicht nur Einzelfälle?

Private Equity ist als Geschäftsmodell in den vergangenen Jahren geradezu explodiert. Es gibt so gut wie keine Branche mehr - von Babynahrung bis zum Sarghersteller - in der sich die Aufkäufer nicht tummeln. In Deutschland rollen sie gerade die Gesundheitsbranche auf, Kliniken, Arztpraxen, Pflegeheime. Und die Besitzer dieser Firmen sind reich! Auf der Forbes-Liste 2023 fanden sich 37 Private-Equity-Milliardäre. Und sie teilen sich die Gewinne mit ihren Anlegern, darunter Pensionskassen, Versicherer und Staatsfonds, aber wohlhabende Individuen oder Dynastien. Sie alle profitieren auf diese Weise vom Auspressen der übernommenen Unternehmen.

Lesen Sie hier: So ordnen Sie die Bürgergeld-Sanktionen richtig ein

Ist Kapitalismus nur schlecht? Immerhin schafft er Gewinne, und davon profitieren wir alle.

Es geht um die Exzesse im Finanzkapitalismus. Doch das System, so wie es ist, ist nicht naturgegeben, es steht am Ende eines Zusammenspiels mächtiger Interessen - die gerne jeden Ruf nach Reformen als Sozialismus oder Kommunismus abtun. Es geht auch anders, nur von alleine wird sich nichts ändern. Wir müssen neue Wege (s. Infokasten) finden - und politisch einfordern.

Was geschah mit Rudolf Martin?

Er hatte immer wieder versucht, seine "unehrenhafte" Entlassung aus dem Beamtendienst rückgängig zu machen und scheiterte damit. Er starb verarmt 1939 in Berlin. Ich warte immer noch darauf, dass seine Lebensgeschichte verfilmt wird!

Infobox

Wann begannen die Zeiten des Finanzkapitalismus?
Ideengeber ist der spätere Nobelpreisträger Milton Friedman. 1970 schrieb er in der New York Times den Text: "Die soziale Verantwortung von Unternehmen ist, den Gewinn zu steigern". Damit schuf er die Doktrin des "Shareholder Value": Egal, was und wie es ein Unternehmen macht, es geht immer nur darum, den Gewinn für die Anteilseigner zu maximieren.

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