chrismon: Macht Chorsingen glücklich?
Stefan Moster: Unbedingt.
Woher wissen Sie das?
Es gibt zahllose wissenschaftliche Studien, bei denen während des Singens zum Beispiel Gehirnströme oder Herzfrequenzen gemessen wurden, wobei der Ausstoß von Glückshormonen sichtbar wurde. Besonders nachdrücklich fand ich eine Studie des Max-Planck-Instituts: Die haben mit der Kamera eingefangen, wie sich bei Menschen, die im Chor singen, die Härchen aufstellen. Menschen bekommen eine Gänsehaut.
Stefan Moster
Wann bildet eine Gruppe von singenden Menschen einen Chor? Gibt es da eine Definition?
Ich würde sagen, wir singen immer dann im Chor, wenn sich mindestens zwei Stimmen miteinander verbinden und aufeinander abstimmen, so dass sie einen Klangkörper bilden, den es vorher so nicht gab.
Singen Sie in einem Chor?
Nein, mein Leben ist zu unstet, da war nie Zeit für einen festen Chor. Aber in meiner Familie wurde viel gesungen, viele Verwandte waren in einem Chor. Und immer mal wieder habe ich in Projektchören, zum Beispiel in unserem Familienchor, Erfahrungen mit dem mehrstimmigen Singen gesammelt.
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Wie kamen Sie auf die Idee, ein Buch über Chorgesang zu schreiben?
Ich bin Schriftsteller. Mich interessiert, was Menschen tun. Wie ein Anthropologe versuche ich, mit Wohlwollen auf ein bestimmtes Phänomen zu schauen, herauszufinden, was da eigentlich genau passiert, und es mit den richtigen Worten zu beschreiben. Das ist meine Arbeit an der Sprache. Bei Lesungen höre ich dann oft von den Leuten: Stimmt, genauso empfinde ich es, wenn ich singe …
Wird bei Ihren Lesungen auch gesungen?
Tatsächlich ja, was mich anfangs wirklich überrascht hat. Zum Beispiel habe ich schon in Kirchen gelesen – zusammen mit den Chören. Das war sehr berührend.
Seit wann gibt es in Deutschland Chöre?
Wir kennen die Gesänge der Mönche aus dem Mittelalter. Doch die Laienchöre, über die ich hauptsächlich in meinem Buch schreibe, die haben mit der Verbürgerlichung der Gesellschaft zu tun.
Verbürgerlichung?
Zu diesen Chören gehört, dass sich dort verschiedene Religionen treffen können, ebenso wie unterschiedliche Geschlechter, Adelige mit Bürgerlichen; dass also bestimmte gesellschaftliche Schranken nicht mehr gelten. Und das begann im 18. und 19. Jahrhundert.
Heute gehört die "Chormusik in deutschen Amateurchören", so der offizielle Titel, zum Immateriellen Kulturerbe der Unesco. Wieso gerade deutsche Chöre?
Weil das Phänomen in Deutschland besonders stark ausgeprägt ist. Immerhin gibt es hier über 60.000 Chöre. Allerdings könnten andere Länder mit großer Chortradition auch einen Antrag bei der Unesco stellen und kämen damit ziemlich sicher durch.
Mein Sohn lebt in Schweden. Als kleines Kind hat er Singen explizit abgelehnt, jetzt macht er das andauernd …
In Schweden ist das Chorsingen eine ganz große Sache. Dort gibt es zum Beispiel eine Primetime-Fernsehsendung, wo im Chor gesungen wird und die Leute mitsingen. Auch das beruft sich auf eine lange Tradition. Wenn in Schweden im 19. Jahrhundert jemand eine Organisation gründete, wurde fast immer auch gleichzeitig ein Chor gegründet, und es wurden Lieder dafür geschrieben.
Gilt das für ganz Skandinavien?
Ich lebe halb in Finnland, halb in Deutschland. Auch in Finnland wird viel gesungen, aber noch bedeutender ist das Singen im Baltikum. Ich erinnere in diesem Zusammenhang gerne an den 23. August 1989, als sich 50 Jahre nach dem Hitler-Stalin-Pakt von Vilnius über Riga bis nach Tallinn eine 650 km lange Menschenkette mit über einer Million Teilnehmern bildete, und dann wurde gemeinsam gesungen. Wir sprechen heute von einer "Singenden Revolution".
Weihnachten steht vor der Tür – singen Sie da?
In Finnland gibt es sehr schöne Weihnachtstraditionen, dazu zählt auch das Singen in der Vorweihnachtszeit in den Kirchen. Da sind wir dabei.
"Wenn Sie Ihr Leben lang ihre Stimmbänder trainiert haben, halten die auch im Alter"
Das Schöne am gemeinsamen Singen ist ja auch, dass man es auch mit körperlichen Einschränkungen tun kann.
Sie können im Rollstuhl sitzen, Sie können blind sein, groß, klein, dick, dünn - das ist alles gleichgültig, wenn Sie singen. Wer im Chor singt, steht eben nicht vor dem Spiegel. Beim gemeinsamen Singen muss ich mir überhaupt keine Gedanken darüber machen, ob mir mein Körper gefällt oder nicht, weil ich ihn unhinterfragt voll einsetze. Und ich glaube, dass das auch dazu beiträgt, dass die Leute so gerne singen, weil es das Einssein mit der eigenen Gestalt begünstigt.
Ist das Alter eine Einschränkung?
Wie man es nimmt. Es gibt mittlerweile Chöre, die setzen sich ganz explizit aus Menschen zusammen, die älter sind. Und dann spielt das Training natürlich eine Rolle. Wenn Sie Ihr Leben lang ihre Stimmbänder trainiert haben, dann halten die auch im Alter.
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Ich singe erst seit kurzem in einem Chor und fand es schwierig, einmal allein vor allen anderen die Stimme zu erheben.
Vorsingen ist eine sehr sensible Angelegenheit. Wenn man will, dass die Leute sich vollkommen einbringen und wirklich den Mund aufmachen und aus ihrem Körper alles rausholen, dann muss man ihnen auch den Raum dafür bieten; dazu kann auch allein singen gehören. Andererseits sollte es nie schambesetzt sein.
Der Chorleiter hat uns Anfängerinnen immer ermutigt, in der ersten Reihe zu stehen. Aber genau das war mir peinlich, weil ich ja noch nicht so gut mitkam wie die alten Hasen.
Tatsächlich stimmt es, dass es Ihnen als Anfängerin helfen würde, denn die Stimmen hinter Ihnen, die das bestimmte Lied schon kennen und sicher sind, schallen von hinten nach vorne. Und Sie profitieren davon. Aber auch da gilt: keinen Schammoment schaffen.
In einem anderen Chor habe ich erlebt, dass die Chorleiterin wirklich gelitten hat, weil viele die Töne nicht trafen.
Bei meinen Recherchen habe ich sehr viele Chorleiter und Chorleiterinnen kennengelernt und erfahren, dass es sich oft um sehr, wirklich sehr, musikalische Menschen handelt. Und ja, das kann für sie dann schon schwer auszuhalten sein, wenn es nicht stimmt.
Gibt es Menschen, die überhaupt nicht singen können?
Musikalität ist schwer zu messen. Von meinen Großvätern sang der eine in Chören, aber der andere war so unmusikalisch, dass er als Forschungsobjekt hätte durchgehen können. Aber ich glaube, dass er damit einer Minderheit angehörte.
Stimmt es, dass Chöre auch die besten Heiratsmärkte sind?
Darüber wird viel geredet. Ich kann das nicht empirisch belegen. Aber Chormitglieder verbringen sehr viel Zeit miteinander, geben sich völlig unverstellt und agieren vor allem über Stimme und Sprache. Das alles kann eine Annäherung begünstigen. Und unbestritten ist: Wenn es klappt, und dieser eine Ton von allen zusammen getroffen wird – dann ist das sicherlich auch ein erotischer Moment.



