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Als Vierjähriger saß ich in der Kirche, meine Stimme vereinte sich mit den anderen, als wir "Geh aus, mein Herz, und suche Freud" (EG 503) sangen. Es war eine besondere Stimmung, die die Melodie und einige Textfragmente in mir auslösten. Damals konnte ich nicht ahnen, welch tiefer Lebensbegleiter dieses geistliche Sommerlied von Paul Gerhardt werden würde. Im oder kurz nach dem Dreißigjährigen Krieg geschrieben, berührt es in seiner Einfachheit und Leichtigkeit Menschen bis heute in Zeiten der Krise. Nach vielen Jahrzehnten als Arzt und Mensch erkenne ich: Dieses Lied ist mehr als eine poetische Naturbeschreibung – es ist eine zeitlose Einladung, das Leben in seiner ganzen Tiefe zu erfahren.
Als Kind war es zunächst die beschwingte Melodie, die mich berührte. Die Worte malten Bilder von blühenden Wiesen und singenden Vögeln in meinen Kopf. Ich spürte instinktiv: Hier geht es um mehr als um eine romantische Naturbetrachtung – und fühlte unbewusst die Einladung, mit offenen Augen und offenem Herzen durch die Welt zu gehen.
Auch in meiner jahrzehntelangen Arbeit als Arzt habe ich immer wieder erlebt, wie heilsam diese Verbindung von Natur, Gemeinschaft und Spiritualität ist. Erst kürzlich behandelte ich eine Patientin mit schweren Erschöpfungssymptomen, deren Last Rückenschmerzen bei ihr erzeugt hatten. Als wir über Wege zur Genesung sprachen, erzählte sie von ihrer Großmutter, die ihr früher dieses Lied vorgesungen hatte. Das Lied wurde zu ihrem täglichen Begleiter auf ihren "Therapiespaziergängen", wie sie sie nannte.
Sie verstand dadurch: Wir sind Teil eines größeren Ganzen. Die Natur, die uns durch die Komposition so lebendig verdeutlicht wird und unsere Gefühle tief berührt, ist nicht nur Kulisse unseres Lebens – sie ist Lehrmeisterin und Kraftquelle zugleich. Wenn wir von den Blumen auf den Wiesen singen, den Narzissen und den Tulipan, den Vögeln in den Lüften, dem Duft des Sommers, dann wird ein Netzwerk des Lebens, in das wir alle eingebunden sind, auf wundervolle Weise wahr, fühle ich mich mitten darin und vergesse alles um mich herum. Als Therapeut weiß ich: Dieses intensive Gefühl der Verbundenheit mit der Natur ist keine poetisch-philosophische Metapher, sondern hat messbare Auswirkungen auf unsere körperliche und seelische Gesundheit.
Die Gemeinschaft spielt dabei eine zentrale Rolle. In unserer digitalisierten Welt, wo echte Begegnung oft und immer mehr durch virtuelle Kontakte ersetzt wird, erinnert uns das Lied an die heilsame Kraft des Miteinanders. Wenn wir gemeinsam singen, wenn wir uns austauschen und einander unterstützen, offen auch für Andersdenkende sind, werden selbst schwerste Lasten tragbar.
Die Verse laden uns ein, trotz aller Widrigkeiten den Blick für das Schöne zu bewahren. Sie ermutigen uns, bewusst hinauszugehen – aus unseren Ängsten, aus unserer Komfortzone, aus unserer Isolation. Das bedeutet nicht, die Realität zu verleugnen. Im Gegenteil, es bedeutet, ihr mit Hoffnung und Zuversicht zu begegnen. Gerade in einer Zeit multipler Krisen – vom Klimawandel über Kriege, politische Veränderungen bis zu persönlichen Nöten – brauchen wir diese Perspektive mehr denn je.
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Dieses Lied ist ein Geschenk durch die Jahrhunderte hindurch an uns und unsere Kinder und zukünftige Generationen. Es lehrt uns, dass Freude und Schmerz, Angst und Zuversicht, Trauer und Hoffnung keine Gegensätze sind, sondern Teil unseres Menschseins.
Es wäre zu schön, wenn WIR gemeinsam den Weg gehen würden. Gegen die Angst, mit Zuversicht und Mut wieder hinaus in die Welt, mit offenen Augen, Herz und Seele, in der Gewissheit, dass das Leben darauf wartet, entdeckt und gestaltet zu werden – in all seiner Schönheit, in all seinen Herausforderungen, in all seiner göttlichen Tiefe. Denn heute, in unserer krisengeschüttelten Zeit, brauchen wir Paul Gerhardts hoffnungsvolle Botschaft vielleicht mehr denn je.