Mitglieder des Orchesters Lausitzer Braunkohle spielen das Steigerlied vor der Kulisse des Braunkohlereviers. Felix Räuber nimmt die Klänge auf
Felix Räuber bei der Aufnahme: Mitglieder des Orchesters Lausitzer Braunkohle spielen das Steigerlied
Siegfried Michael Wagner
Musik in Sachsen
"Die Heimat ist in uns allen drin"
Von Bergbaustollen bis Nussknacker, von Gundermann-Liedern bis Silbermannorgel: Der Musiker Felix Räuber hat den Klang seiner Heimat Sachsen aufgezeichnet - und mit den Menschen neue Stücke erarbeitet
Tim Wegener
16.03.2023
5Min

Seit fünf Jahren reisen Sie durch Sachsen und wollen wissen, wie Ihre Heimat klingt. Warum?

Felix Räuber: Die Idee kam auf einer Rückreise aus Nordkorea, wo ich mit einem Schulfreund war. Wir saßen im Flugzeug und fragten uns: Warum reisen wir eigentlich einmal um die Welt, wenn wir gar nicht wissen, wie es vor unserer eigenen Haustür ist? Ich bin seit 23 Jahren als Musiker aktiv, hatte Mitte der 2000er eine Popkarriere, habe einen Nummer-1-Hit geschrieben und viel auf der Bühne gestanden. In dieser Zeit habe ich das Gefühl für meine Heimat verloren. Deswegen wollte ich in mein Heimatland reisen, einen neuen Blick darauf bekommen und eine Inspirationsquelle für neue Songs finden.

Und wie klingt Sachsen?

Für mich als Dresdner, der da Jahrzehnte gelebt hat, ist es das Hupen der Schaufelraddampfer auf der Elbe. Wie ein Nebelhorn. Ein klarer Klang, den es nur dort so gibt, unfassbar laut. Man hört es überall in der Stadt. Ich bin auf dem Dresdner Elbhang aufgewachsen und dieser Ton kam den Hang hoch und ist in unseren Garten gedrungen, obwohl das viele Kilometer Luftlinie entfernt ist. Das assoziiere ich stark mit einem Heimatgefühl.

Das Plätschern eines Baches und das Rumpeln des Schaufelradbaggers - so klingt Heimat

Welche Heimatklänge haben Sie noch eingesammelt?

Meinem Team und mir war wichtig, dass wir ein vielschichtiges Klangmosaik abbilden. Wir haben Sachsen in zehn imaginäre Kulturkreise gegliedert. Von den dumpfen Geräuschen eines Bergbaustollens über die Silbermannorgel im Erzgebirge, wo viele Holzhandwerker leben, bis hin zu den Gesängen der sorbischen Ostersängerinnen. Wir haben im Zittauer Gebirge ein Duo begleitet, das Sounds aus der Natur sammelt und daraus elektronische Musik macht. Wir trafen den ältesten Bergsteigerchor Deutschlands, die Bergfinken, im Elbsandsteingebirge. Wir waren im Musikwinkel im Vogtland. In dieser Gegend werden alle Orchesterinstrumente bis auf die Pauke gebaut. Da ist in jedem Haus eine Instrumentenwerkstatt.

Ist der Klang jeder Gegend mit einer regionalen Tradition verbunden?

Je nachdem: Für das Erzgebirge haben wir zum Beispiel die Holzgeräusche einer Nussknackermanufaktur aufgenommen. Der Klang von Leipzig ist in unserem Projekt ein syrischer Ud-Instrumentalist, der 2015 nach Deutschland geflüchtet ist. Wir haben versucht, den Klang einzufangen, den er nach Leipzig mitgebracht hat. So bleiben wir in Leipzig, aber gleichzeitig erzählen wir den Klang seiner syrischen Heimat mit.

Siegfried Michael Wagner

Felix Räuber

Felix Räuber, geboren 1984, ist Sänger, Komponist und Produzent, der als Frontmann der Elektropopband Polarkreis 18 ("Allein allein") bekannt geworden ist. Seit 2018 arbeitet er an dem Projekt "Wie klingt Heimat?"

Was passiert mit den Klängen, die Sie gesammelt haben?

Aus den musikalischen Zitaten ist eine Sinfonie der Kulturen entstanden, die wir im Sommer 2022 live mit 42 Musikern vor 1300 Leuten im Dresdener Kulturpalast uraufgeführt haben. Das ganze Projekt wurde von einem Kamerateam begleitet. Daraus entsteht ein zehnteiliges Dokuserienformat, das in diesem Jahr erscheinen wird. Die Filme sind auch bei einer Ausstellung der Staatlichen Kunstsammlungen in Dresden zu sehen, die Ende März startet. Wir wollten auch aussterbende Sprachkultur dokumentieren.

Sinfonie der Sorben

Zum Beispiel?

Ich habe sorbische Ostersängerinnen interviewt, die das sogenannte Schleifer-Sorbisch sprechen - einen Übergangsdialekt zwischen Ober- und Niedersorbisch, der fast nicht mehr gesprochen wird. Als sie extra für unseren Filmdreh gesungen haben und wir spüren konnten, dass sie diese bedrohte Sprache mit viel Hingabe und Engagement am Leben erhalten wollen, blieb bei uns etwas sehr Berührendes, Zartes zurück.

"Heimat" ist in Deutschland kein ganz unproblematischer Begriff …

Die romantische Definition von Heimat ist etwas Urdeutsches. Heimat kann man zum Beispiel gar nicht so gut ins Englische übersetzen. Da würde "home" rauskommen, was eher "Zuhause" heißt. Gleichzeitig ist dieses Wort "Heimat" in Deutschland politisch stark aufgeladen. Wir wollten gegen eine Politisierung, die es ja insbesondere auch in Sachsen gibt, eine vielfältige künstlerische Position stellen. Die Musik kann über Kulturen und Grenzen hinweg kommunizieren.

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Haben Sie in der Musik eine Heimat gefunden?

Ich bin in dieser flüchtigen Popmusikwelt zu Hause und gleichzeitig auch nicht. Sich in einer Welt von unendlich vielen Möglichkeiten der eigenen Herkunft zuzuwenden, hatte für mich etwas Heilsames und Erdendes. Die Werte, die mir auf dieser Reise vermittelt wurden, haben sehr viel mit Kindheit, Tradition und Glauben zu tun - die sind in einer modernen Gesellschaft nicht mehr so präsent. Wir sind mittlerweile so sehr an digitale Gadgets, Zoom-Meetings und an eine Entkopplung gewöhnt, dass man gar nicht mehr merkt, wie weit man eigentlich von seinem Ursprung entfernt ist. Für mich war es total rührend zu merken, dass ich über die Musik Kontakt zu Menschen herstellen konnte, von denen ich nicht wusste, wie sie auf mich reagieren würden. Ich habe auch gemerkt, dass die einfachen Dinge – Erinnerungen an unsere Kindheit, ein Geruch, ein Klang, eine Tradition – die stärksten Gefühle hervorrufen.

Zum Beispiel?

Mein Vater hat uns Kinder früher immer mit einem ganz bestimmten Pfiff zum Essen gerufen. Wir saßen irgendwo im Garten oder im Kinderzimmer und sobald dieser Pfiff kam, wussten wir, was Sache ist: Okay, alles klar, Essen. Das ist eine schöne Erinnerung, die sofort etwas wohlig Warmes aufmacht.

Ein Chor aus sorbischen Osterreitern und Ostersängerinnen in der St.-Katharinen-Kirche in Ralbitz.

Hat Sie ein Geräusch besonders bewegt?

Der Klang ist nur eine Facette dieses Heimatgefühls. Für mich waren es mehr die Begegnungen. Uns ging es darum, über die Musik die Geschichten der Menschen zu erzählen, die diese Musik machen. Wir sind in die Lausitz gefahren, eine gebeutelte Tagebauregion, die seit dem Systemwechsel der DDR und dem Kohleausstieg eine extrem suchende Gegend ist. Man spürt eine Orientierungslosigkeit. Da stehen Plattenbauten in verödeten ländlichen Regionen neben diesem unfassbar monumentalen Tagebau. An einem Abend haben wir den Bürgerchor Hoyerswerda besucht, der sich einmal pro Woche trifft und Lieder des ostdeutschen Liedermachers Gerhard Gundermann singt. Der Chorleiter hat erzählt, dass es noch unveröffentlichte Stücke von Gundermann gibt. Eines haben wir aus dem Gundermann-Archiv geholt und veröffentlichen es im Rahmen des Projektes. Als der Chor das Stück gesungen hat, hat man diesen Menschen angemerkt, wie die Region sie geprägt hat. Man hat Melancholie in ihren Gesichtern gesehen, die Versöhnung durch die Musik gespürt, aber auch die Frage, wie es bei ihnen in der Region weitergehen soll.

Hat jeder Mensch eine Heimat?

Ja. Wir können sie zwar verlieren, aber auch wiederfinden. Es gibt in uns allen einen Moment des puren Heimatgefühls. Das hat unsere Reise und Dokumentation gut eingefangen. Wir halten uns zwar regional an konkreten Orten auf, aber im Prinzip ist das auf andere Orte übertragbar. Man kann die Heimat überall mit hinnehmen, sie ist in uns allen drin. Ich bin sehr zwischen meiner Urheimat Dresden, wo ich geboren bin, und Berlin, wo ich wohne, hin- und hergerissen. Ich habe in Berlin nie wieder richtig Heimat gefunden. Mir ist die Stadt eigentlich zu groß. Es gibt einen Teil in mir, dem das Angst macht und der sich überwältigt fühlt. Gleichzeitig ist Dresden nicht mehr so richtig meine Heimat, weil ich seit elf Jahren in Berlin lebe. Ich merke im Kontext dieser Produktion, dass Heimat ein ortsungebundenes Gefühl ist. Wenn man diesem Gefühl einen Schutzraum bietet und darauf achtgibt, kann man auch überall Heimat finden.

Infobox

Die Ausstellung "Wie klingt Heimat?" ist eine dokumentarische Installation vom 25. März bis zum 22. Oktober in der Staatlichen Kunstsammlung Dresden. Die Besucher bewegen sich durch verschiedene Klang-Räume, die Sachsen widerspiegeln, und können die Klänge hören, die Felix Räuber mit seinem Team gesammelt hat und ihre Hintergrundgeschichte erfahren. Später können die Besucher die Töne in einem Studio an einem Keyboard miteinander verbinden. Am Ende sind Ausschnitte aus der zehnteiligen Dokuserie ­­zu sehen. Zusätzlich sind Konzerte und Performances mit Protagonisten des Projekts geplant. Ein Bus soll als mobiles Museum durch die ländlichen Regionen Sachsens fahren.

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