- Anmelden, um Kommentare verfassen zu können
Der Oxyrhynchus-Hymnus ist ein kleines Papyrus-Fragment, das 1918 bei Ausgrabungen in Mittelägypten gefunden wurde. Auf der Rückseite enthält es Reste einer Getreiderechnung aus dem frühen 3. Jahrhundert, auf der Vorderseite aber einige kostbare Verse sowie – noch wertvoller – einige griechische Notenzeichen aus dem späten 3. Jahrhundert.
Lesetipp: Warum es ein Altes und ein Neues Testament gibt
Das gemeinsame Singen war für die frühe Christenheit von höchster Bedeutung, jedoch ist kaum etwas darüber in den Quellen zu finden. Deshalb war die Entdeckung dieses Hymnen-Schnipsels ein Wunder. Erhalten sind die letzten fünf Zeilen. Sie bilden den Abschluss eines Lobpreises des dreieinigen Gottes. Auffällig ist, mit welchem Überschwang sie ins Kosmische ausgreifen, aber auch, dass sie dabei ein freies poetisches Spiel treiben und nicht etwa bloß einer biblischen Vorlage oder dogmatischen Vorgabe gehorchen:
"Singt in einem Lied alle Völker zusammen und alle wundersamen Werke Gottes;
Erde, nimm deinen Teil, noch lass die hell glitzernden Sterne stumm sein;
Berge schreien dein Lob und alle Flüsse schallende Sturzbäche.
Und während wir dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist in Freude singen, sollen alle Mächte antworten und laut jubeln: Amen, Amen:
Macht und Anbetung und Majestät gehören immer Gott,
Der Geber allein von allem, was gut ist. Amen, Amen."
Die Musikzeichen weisen auf eine ruhige, wenig rhythmische Melodie hin, lassen sich aber nicht direkt in heutige Notschrift übersetzen und einfach nachspielen.
Der christliche Sachbuchautor John Dickson und die christlichen Singer-Songwriter Chris Tomlin und Ben Fielding haben versucht, die Lücken zu schließen und aus dem ältesten christlichen Hymnus einen heutigen Lobpreis-Song zu machen.
Davon erzählt der Dokumentarfilm "The First Hymn", dessen Höhepunkt die Welturaufführung des alt-neuen Liedes bei einem großen Konzert in Texas ist.
Dieses eingebettete Video wird von YouTube bereitgestellt.
Beim Abspielen wird eine Verbindung zu den Servern von YouTube hergestellt.
Dabei wird YouTube mitgeteilt, welche Seiten Sie besuchen. Wenn Sie in Ihrem YouTube-Account eingeloggt sind, kann YouTube Ihr Surfverhalten Ihnen persönlich zuordnen. Dies verhindern Sie, indem Sie sich vorher aus Ihrem YouTube-Account ausloggen.
Wird ein YouTube-Video gestartet, setzt der Anbieter Cookies ein, die Hinweise über das Nutzer:innenverhalten sammeln.
Weitere Informationen zum Datenschutz bei YouTube finden Sie in der Datenschutzerklärung des Anbieters unter: https://policies.google.com/privacy
Das Publikum scheint begeistert reagiert zu haben. Mich hat der entsprechende YouTube-Clip ratlos zurückgelassen. Hätte ich seine Geschichte nicht gekannt, hätte ich das Lied von Tomlin und Fielding für ein normales Stück Worship gehalten. Worship ist eine extrem erfolgreiche Gattung christlicher Popmusik, eine Art Gospel für Weiße. Dieses Stück ist nach den heute gültigen Formatvorgaben professionell gemacht und massenkompatibel. Eine fromme Konfektionsware, ohne eigenen theologischen oder musikalischen Anspruch, dafür mit großer Emphase vorgetragen.
Es gibt heute zwei Formen, sich auf die Vergangenheit zu beziehen. Entweder kritisch: Man gleicht frühere Zeiten mit der heutigen Wertvorstellung ab und verurteilt das Damals als rückständig und böse. Oder konstruktiv: Man nimmt sich ein Traditionsstück und verleibt es sich restlos ein. Jeweils wird dem Alten kein Eigenrecht eingeräumt, kein Anderssein zugestanden. Der Song von Tomlin und Fieldung kommt ganz unkritisch und herkunftstreu daher.
Hör- und Lesetipp: Diese Erinnerungen verbinden Menschen mit Musik
Aber es ist beiden nicht aufgefallen, dass der Oxyrhynchus-Hymnus anders gemeint war und anders gesungen wurde, als es unserer Theologie und unserem Musikgeschmack entspricht. Umstandslos legen sie diesen fremden Schatz auf die Spule ihres Sakropop, präsentieren und vermarkten das Ergebnis, wie man es heute halt so macht. Das wäre den frühen Christen, die diesen Hymnus gesungen haben, nie in den Sinn gekommen – ja, es wäre ihnen sogar als Teufelswerk erschienen (überhaupt, dass der Hymnus nicht nur gesungen, sondern instrumental gestaltet, hätte sie empört).
Aber so funktionieren Konsumkapitalismus und Kulturimperialismus im heutigen US-amerikanischen Christentum: Alles muss ihren Regeln gehorchen, selbst die christliche Tradition. Ach ja, natürlich kann man auf der Website des Projekts auch T-Shirts kaufen. Allerdings stören mich weniger das Gewinnstreben und der Kitsch als die prinzipielle Unfähigkeit und Unwilligkeit, geschichtlich Anderes anders sein zu lassen. Alles wird dem eigenen, besonderen, begrenzten Verständnis des Christlichen untergeordnet. Im Grunde ist das – trotz der laut ausgestellten Frömmigkeit – ein Mangel an Respekt.